Simchat Tora am 29.09.2021
An Simchat Tora, dem Tora-Freudenfest, lesen wir den letzten Wochenabschnitt des Jahres. Dazu wird zur 7. Alija עֲלִיָּה = Aufstieg, also zum 7. Abschnitt des Toratextes, zu dem man „aufsteigt zur Bima (Lesepult)“, der „Bräutigam der Tora“ aufgerufen, der Chatan Tora חתן תורה. Er hat die Ehre, die Toralesung nach einem Jahr abzuschließen.
Sofort danach wird „der Bräutigam des Anfangs“, der Chatan Bereschit חתן בראשית, zur Lesung der Paraschat Bereschit, des 1. Buches Moses Kap. 1, aufgerufen. Auch dieser Aufgerufene genießt eine besondere Ehre und Freude, dass er die Toralesung für das kommende Jahr beginnen darf. Ende und Anfang gehen ineinander über. Aus dieser Freude heraus wird mit allen verfügbaren Torarollen um die Bima herum getanzt, in Israel sogar auf den Straßen.
Wenden wir uns dem letzten Abschnitt, der an Simchat Tora gelesen wird, zu: „We sot ha bracha וְזֹאת הַבְּרָכָה Dies ist der Segen“.
Was kann es Größeres und Schöneres geben, als vor dem Gang in die andere Welt die Menschen zu segnen, die einem nahe standen! Mosche darf vor seinem Heimgang die Kinder Israel, die er so oft gescholten hatte, für die er gleichermaßen bereit war, sein Leben zu geben, für ihren Gang ins Heilige Land segnen.
Mosche erinnert sich an den Sinai, wo er Gottes strahlendes Licht wahrnahm als ein Erstrahlen über allem Land: von Seir und Paran, dem ungezügelten Land, über das Land von Meribat-Kades, wo es Streit um das Heiligtum gab – alles steht unter dem Licht Gottes. Und dort auf dem Sinai סִּינַי, der mit seinem Namen an den brennenden Dornbusch Sne סנה erinnert, gab Gott Seine feurigen Gebote und Richtlinien אֵשׁ דָּת esch dat. Esch אֵשׁ ist das Feuer und dat דָּת die verkürzte Form von דעת da’at, was Erkenntnis bedeutet. Somit könnten wir ebenso von tiefgehenden, sich einbrennenden Erkenntnissen sprechen, die Gott am Sinai offenbarte. Dort bekam das Volk Einblick in Gottes Heiligkeit, die es auf Erden widerspiegeln darf.
In diesen Einsichten, die Gott als Erbteil übermittelte, erkennt Mosche die Liebe Gottes zu Seinem Volk Israel. Sie wurden aus den Kindern und somit aus den Stämmen Jaakobs EINE Gemeinschaft, ein Volk, über das der Ewige König wurde. ER nennt Israel Jeschurun ישֻׁרוּן = die Geradlinigen, Aufrichtigen von יָשָׁר jaschar = gerade, aufrecht. Gott selbst wird an unterschiedlichen Stellen Jeschurun genannt, denn ER verkörpert all diese Eigenschaften, die Israel IHM nacheifernd praktizieren soll.
Ruben, als der Erstgeborene Jaakobs, bekommt auch hier zuerst den Segen. Sein Vater war noch voller Schmerz über Rubens Unzucht, als er die Söhne in Gen. 49 versammelte. Für seinen Bruder Jossef war er nur halbherzig eingetreten (Gen. 37). Hier nun wird dem Stamm Ruben Leben zugesprochen, doch er wird nicht zur Größe kommen.
Dtn. 33,6 Ruben lebe, nimmer sterbe er, doch bleiben gezählt seine Leute.
Als nächstes hat Mosche Worte für Jehuda, den vierten Sohn Jaakobs, aus dem der endzeitliche Erlöser stammen wird (Gen. 37,10). Für Jehuda bittet Mosche, dass Gott ihn stärkt und ihm gegen seine Feinde hilft. So ist es verständlich, dass der Stamm Jehuda unter einem solchen Segen lange bestand. Heute weiß kein Jude mehr seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stamm zu belegen, außer zum Stamm Levi, dem Priesterstamm. Schon zur Zeit Jesu waren Stammbäume nur noch bei wenigen Menschen nachvollziehbar, was zum einen Folge des babylonischen Exils war, dann noch verschärft wurde durch die Okkupation der Römer.
Der Stamm Levi ist für den Tempeldienst unentbehrlich. Wollte Jaakob seinen Sohn noch unter die Brüder zerstreuen, da er die Schechmiter im Schmerz der Beschneidung umbrachte, so hat der Stamm Levi seine Lektion gelernt und sich ganz Gott geweiht.
Dtn. 33,8 Und über Lewi sprach er: «Die Tummim und die Urim dein – Dem Manne, der dir fromm ergeben, Den du versucht hast am Versuchungsort, Gehadert mit ihm an den Haderwassern; 9 Der von dem Vater, von der Mutter sprach: ,Ich sah ihn nicht!‘, Der seine Brüder nicht gekannt, Von seinen Kindern nicht gewußt. Denn deines Spruches haben sie geachtet Und deinen Bund gewahrt!
Weil er Gott im Heiligtum dient, kennt er seine Verwandten nicht, hat er für sie keine Zeit, hält dafür umso entschiedener den Bund Gottes. Hier findet sich das Vorbild für Jesus, der um Gottes Willen ebenfalls seine Familie hinten anstellte:
Mt. 12,48 Er antwortete aber und sprach zu dem, der es ihm ansagte: Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?
Levi wird weiterhin Gottes Weisung verkünden und dem Dienst treu bleiben, wie wir hörten, bis heute. Selbst ohne Tempel sprechen noch heute die Nachfolger der Leviten und Priester in der Synagoge den Aaronitischen Segen.
Benjamin und Jossef bleiben die Geliebten, die Lieblinge, die sicher wohnen und den Segen vom Himmel bekommen. Himmel sowie Tau stehen nicht nur als Garanten für reiche Ernte, sie sind auch Synonyme für Gott, der Seine Kinder mit spirituellem Reichtum umhüllt. Wie ein kraftvoller Stier wird Jossef beschrieben, mit dessen Hörnern Menasche (= vergessen) und Ephraim (= Doppelfrucht!) die Völker besiegen werden.
Sebulun und Issachar dürfen sich freuen. Sie werden durch ihre Schätze, mit denen Gott sie segnet, Völker zum Berg Gottes führen und sie zu rechten Opfern anhalten. Ist es nicht so, dass durch Israels Knowhow in Wissenschaft und Wirtschaft viele Völker ins Land kommen? Wenn Israel auch nicht über Bodenschätze verfügt, so gibt es doch sein Wissen auf anderen Gebieten weiter, z.B. im Bereich der Wasserversorgung.
Gad und Dan werden ebenfalls mit jungen Löwen verglichen. Naphtali und Ascher freuen sich über den reichen Segen Gottes, der sich in Sättigung und Öl und Lebenskraft ausdrückt.
Nun wird der Gott Jeschuruns, der Gott der Stämme Israels gepriesen, denn ER lässt Sein Volk wie in einer Burg sicher wohnen. Seine Arme halten Israel bergend von allen Seiten. Woher kommt sonst das Wissen: „Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand!“ Gott sieht vom Himmel aus Sein geliebtes Volk und hilft ihm gegen jegliche Feinde.
Dtn. 33,28 Sicher wohnte Jissrael ein, einsam der Quell Jaakobs, in ein Land von Korn und Most, auch träufelt sein Himmel Tau.
Israel ist ein einzigartiges Volk, unvergleichbar mit anderen Völker, ein Volk, das sich als solches der Hilfe Gottes sicher sein kann.
Über dieses geliebte Volk und sein verheißenes Land darf Mosche noch einmal einen prophetischen Blick erleben. Er sieht von Orten der Spaltung (Pisga) bis nach Jericho, der Stadt des Mondes, über die fruchtbaren Stämme Israels bis hin zum Südland über das Jordantal. Dieses Land gehört Israel seit Gottes Versprechen an Abraham. Und Mosche sah alles in einem Augenblick in prophetischer Schau.
Dtn. 34,5 Dann starb dort Mosche, der Knecht des Ewigen, im Land Moab nach dem Ausspruch des Ewigen
Gott hatte bereits angekündigt, dass Mosche zu seinen Altvorderen versammelt werden würde. Nun starb er auf dem Berg Nebo „durch den Mund Gottes עַל פִּי יְהוָה al pi JHWH“, woraus die Rabbiner ableiten, dass Mosche durch den Kuss Gottes starb bzw. von Gott direkt in die Ewigkeit „hinaufgeküsst“ wurde, weshalb sein Grab nicht zu finden ist. Es war Gottes Art, Mosche selbst zu begraben.
Der wichtigste Lehrer des Judentums hat kein Grab, zu dem Menschen pilgern könnten. Somit ist jedem Menschenkult vorgebeugt. Gott bleibt im Mittelpunkt aller Lehre, die Mosche das Volk lehrte bis auf den heutigen Tag.
Mosche war sehr gesegnet, denn seine Kraft ließ nicht nach, nicht die Kraft seiner Augen, obwohl er mit 120 Jahren starb. Darum wünschen sich Juden zum Geburtstag: Ad mea we’essrim עד מאה ועשרים = bis 120.
30 Tage beweinten die Kinder Israel Mosche und trauerten um ihn. Nach den 7 Trauertagen, die ein naher Angehöriger auf einem niedrigen Hocker um seinen Vater oder seine Mutter schweigend trauert oder auch von dem geliebten Menschen erzählt, gelten als zweite Trauerphase die שְׁלוֹשִׁים Schloschim 30 Tage, an denen sich ein Mann nicht rasiert und seine Trauer zeigt, aber wieder arbeitet. So kehrt der Jude langsam in den Alltag zurück. Bis zum 1. Todestag, der Jahrzeit, arbeitet er wieder, enthält sich aber freudiger Feierlichkeiten. Es ist hilfreich, in diesen drei Schritten die Trauer bewältigen zu können.
Nach den 30 Tagen hört die Trauer im Volk auf und Jehoschua übernimmt das Zepter. Aber auch wenn er Mosches Anweisungen befolgt und mit Gottes Geist ausgestattet ist, mit Mosche ist niemand vergleichbar. Er war der Vertraute Gottes schlechthin, denn mit ihm sprach der Ewige von Angesicht zu Angesicht, durch ihn tat der Ewige Zeichen und Wunder, mit denen die Israeliten aus Ägypten befreit wurden. Im gesamten Tanach und darüber hinaus bleibt Mosche einzigartig.
Die Tora heißt „die Tora Mosches“, denn er empfing sie auf dem Sinai und übergab sie als treuer Knecht Gottes dem Volk Israel, erklärte die Tora geduldig und trat für die Kinder Israel vor Gott ein, wenn sie der Tora ungehorsam waren. So wird er heute noch geehrt als Mosche Rabenu משה רבנו = Mosche, unser Lehrer.