Erinnerung

Der 8. Mai 2020 erinnert an das Kriegsende vor 75 Jahren. Dankbar schauen wir zurück auf diese langen Jahre des Friedens, der historischen Momente wie das Endes der DDR-Diktatur, neues jüdisches Leben im Land der Täter, Versöhnung mit Israel und ein geeintes Europa. War ein solcher Segen wirklich zu erwarten nach der unfassbaren Schuld am grenzenlosen Leiden, mit dem Deutschland die Welt überzog und der Auslöschung von 6 Mio. Juden, womit Gottes Augapfel angetastet wurde?

Wer […] vergisst, verliert den Glauben.“ sagte R.v.Weizsäcker.
Darum ist es wichtig, zu gedenken und zu trauern. Das ist etwas, das die Kriegsgeneration und ihre Kinder nicht zulassen konnten, weil die Scham der Schuld und die Konfrontation mit der Tatsache, einem Verführer aufgesessen zu sein, zu groß waren. Heute sollten wir nachholen, was die Überlebenden des Krieges nicht konnten: Trauern und gedenken, nämlich sowohl der eigenen Toten in den Familien als auch der unschuldig Verfolgten und Ermordeten durch das NS-Regime. Die deutsche Seele braucht noch immer diese Hilfe zur Heilung, wie in vielen Büchern nachzulesen ist.
Die Erneuerung des Glaubens ist ein weiterer Teil der Heilung der menschlichen Seele. Einem Verführer kann man nur folgen, wenn ein Vakuum vorliegt, wenn die Beziehung zu Gott und Seinem Wort desolat geworden ist. Das Dritte Reich war geprägt von einer judenfeindlichen Theologie, aus der wir uns seit den ersten Versöhnungsschritten zwischen Juden und Christen im jüdisch-christlichen Dialog lösen können. Darum sind alle Christen eingeladen, das Wort Gottes neu in seiner Tiefe zu entdecken, damit Gottes Wort unser Schutz vor Verirrung und Verführung ist. Gott schenkte uns eine historische Chance – nutzen wir sie!
Eine historische Rede war die des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker 1985, die ich zum Gedenken empfehlen möchte.

„Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mußten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen.“

„Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“

„Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“

„Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.“

„Es gibt entdeckte und verborgen gebliebene Schuld von Menschen. Es gibt Schuld, die sich Menschen eingestanden oder abgeleugnet haben. Jeder, der die Zeit mit vollem Bewußtsein erlebt hat, frage sich heute im Stillen selbst nach seiner Verstrickung.“

„Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“

Das jüdische Volk erinnert sich und wird sich immer erinnern. Wir suchen als Menschen Versöhnung.“

„Gerade deshalb müssen wir verstehen, daß es Versöhnung ohne Erinnerung gar nicht geben kann. Die Erfahrung millionenfachen Todes ist ein Teil des Innern jedes Juden in der Welt, nicht nur deshalb, weil Menschen ein solches Grauen nicht vergessen können. Sondern die Erinnerung gehört zum jüdischen Glauben.“

Die Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte. Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Diese Erfahrung schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung. Wer sie vergißt, verliert den Glauben.“

Wir können des 8. Mai nicht gedenken, ohne uns bewußt zu machen, welche Überwindung die Bereitschaft zur Aussöhnung den ehemaligen Feinden abverlangte. Können wir uns wirklich in die Lage von Angehörigen der Opfer des Warschauer Ghettos oder des Massakers von Lidice versetzen?https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1985/05/19850508_Rede.html


Gebet des jüdischen Rabbiners und Schoah-Überlebenden
Leo Baeck nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs:

»Friede sei den Menschen, die bösen Willens sind,
und ein Ende sei gesetzt aller Rache und allem Reden von Strafe und Züchtigung.
Aller Maßstäbe spotten die Gräueltaten;
sie stehen jenseits aller Grenzen menschlicher Fassungskraft,
und der Blutzeugen sind gar viele.
Darum, o Gott, wäge nicht mit der Waage der Gerechtigkeit ihre Leiden,
dass du sie ihren Henkern zurechnest und von ihnen grauenvolle Rechenschaft forderst, sondern lass es anders gelten!
Schreibe vielmehr den Henkern und Angebern und Verrätern
und allen schlechten Menschen zugut,
und rechne ihnen an all den Mut und die Seelenkraft der anderen,
ihr Sichbescheiden, ihre hochgesinnte Würde, ihr stilles Mühen bei alledem,
die Hoffnung, die sich nicht besiegt gab, und das tapfere Lächeln,
das die Tränen versiegen ließ, und alle Opfer, all die heiße Liebe.
All die durchpflügten, gequälten Herzen, die dennoch stark und immer vertrauensvoll blieben, angesichts des Todes und im Tode, ja auch die Stunden der tiefsten Schwäche. . .
All das, o mein Gott, soll zählen vor dir
für die Vergebung der Schuld als Lösegeld,
zählen für eine Auferstehung der Gerechtigkeit
all das Gute soll zählen und nicht das Böse.
Und für die Erinnerung unserer Feinde sollen wir nicht mehr ihre Opfer sein,
nicht mehr ihr Alpdruck und Gespensterschreck,
vielmehr ihre Hilfe, dass sie von der Raserei ablassen.
Nur das heischt man von ihnen – und dass wir, wenn nun alles vorbei ist,
wieder als Menschen unter Menschen leben dürfen
und wieder Friede werde auf unserer armen Erde über den Menschen guten Willens
und dass Friede auch über die anderen komme. «Zitiert nach Leo Baeck: Angst-Sicherung-Geborgenheit von Th. Bevet, Bielefeld 1975 und in
Pinchas Lapide, Die Bergpredigt – Utopie oder Programm, M. Grünewald 1983, S.97-99

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