Aufsatz von Debora Lapide, veröffentlicht in: Helgard Jamal, Weihnachten. Jesu Geburt. EBV 2009

Einleitung

„Mazel tow, mazel tow zur Geburt des Jungen!“
So klingt es heute und so klang es möglicherweise schon vor 2000 Jahren, wenn ein neuer Erdenbürger das Licht der Welt erblickte. Die Freude über das Neugeborene ist sicherlich überall auf der Welt gleich.

An dieser Stelle soll nun nachgedacht werden über das Besondere der Geburt des Kindes Jesus, das von seiner Mutter den Namen Jehoschua bekam. Wodurch unterscheidet sich seine Geburt von der anderer Kinder? Ist das Ereignis, von dem das Neue Testament berichtet, so grundlegend neu oder gibt es Parallelen zur Geburt anderer großer jüdischer Persönlichkeiten?

Zudem sollen Begriffe untersucht werden, die für diese Berichterstattung verwendet werden. So erlangen wir einen Einblick in die ursprünglich hebräische Sprache und das hebräische Denken der Evangelisten und in den jüdischen Hintergrund der sogenannten Weihnachtsgeschichte. Denn auch, wenn Juden in Jesu Geburt nicht die Geburt des Messias sehen, so sieht doch beispielsweise Yuval Lapide in ihr die Geburt eines großen jüdischen, pharisäischen Lehrers, Vorbilds und Pädagogen.

Schalom Ben Chorin sprach von Jesus als von seinem „jüdischen Bruder“: „Jesus ist für mich der ewige Bruder, nicht nur der Menschenbruder, sondern mein jüdischer Bruder. Ich spüre seine brüderliche Hand, die mich faßt, damit ich ihm nachfolge. Es ist nicht die Hand des Messias, diese mit den Wundmalen gezeichnete Hand. Es ist bestimmt keine göttliche, sondern eine menschliche Hand, in deren Linien das tiefste Leiden eingegraben ist …“ Und er nannte ihn den „Urjuden und Nur-Juden“, den Arzt und Lehrer.[1]

Lassen wir uns für die folgende Betrachtung nun vom Lukasevangelium leiten.

Die Ankündigung der Geburt Jesu

Das widerfährt nun nicht jeder Mutter: Der Erzengel Gabriel besucht die sehr junge Frau Mirjam und kündigt ihr die Geburt ihres ersten Kindes, eines Sohnes, an, dem sie den Namen Jehoschua geben soll. Dabei ist sie noch gar nicht verheiratet, lediglich mit dem Mann Josef aus dem Geschlecht Davids verlobt. Da ist es nicht verwunderlich, dass die junge Frau erschrickt, trotz des ihr entbotenen Friedensgrußes. Nicht nur die Erscheinung des Engels, auch der Inhalt seiner Botschaft ist erschreckend und überwältigend, denn dieses Kind soll durch den heiligen Geist gezeugt werden und einen besonderen Auftrag Gottes erfüllen. Nachfolger auf Davids Thron soll er werden.

Engel sind in der Bibel Boten Gottes, die immer wieder erscheinen, um das Lob Gottes zu singen wie später auf den Feldern Bethlehems oder Menschen beizustehen wie nach Jesu irdischem Leben beispielsweise Petrus, der von einem Engel aus dem Gefängnis befreit wird. Ein Engel versorgte bereits Elia mit Brot und Wasser und mit einem Engel kämpfte Jakob, was ihn zu Israel werden ließ.

Die Ankündigung der Geburt Jesu erfolgt nicht zufällig durch den Erzengel Gabriel. Sein Name bedeutet „Gott gibt mir Stärke“. Er erscheint Daniel in der Zeit der Herrschaft des letzten babylonischen Königs Belsazar, um ihm auf Gottes Geheiß eine Vision auszulegen. Die Erscheinung Gabriels lässt den gestandenen Mann Daniel so sehr erschrecken, dass er auf sein Angesicht fällt. Ein zweites Mal erscheint ihm „der Mann Gabriel“ unter der Herrschaft des persischen Königs Darius. Auch hier verhilft er Daniel zum Verständnis einer Vision zukünftiger Ereignisse.[2]

Es ist deutlich: Gabriel ist ein Künder des endzeitlichen Gerichts. Die Bibel nennt ihn nur im Buch Daniel und im Lukasevangelium. Wenn in der Geburt Jesu der Beginn der Endzeit gesehen wird, ist dieses genau der Ort, an dem Gabriel, der Bote der Endzeit, erscheinen muss. Auch nach rabbinischer Rechnung lebt die Welt seit etwa 2000 Jahren in der eschatologischen Phase. Nach jüdischem Kalender leben wir im Jahr 5769. Die ersten 2000 Jahre gelten als die Jahre des Chaos, die folgenden 2000 Jahre als die der Tora und die gegenwärtigen 2000 Jahre bilden die messianische Endzeit.

Maria, hebräisch Mirjam, ist verlobt, was bedeutet, dass das Paar sich ein rechtsverbindliches Eheversprechen gegeben hat. Erwähnt Lukas das nur, um uns über den Familienstand der Frau zu unterrichten, um uns von ihrer Jungfräulichkeit zu überzeugen? Oder hatte er vielleicht ein Bild vor Augen von einer idealtypischen jüdischen Verlobung, die die Beziehung zwischen Gott und seinem erwählten Volk typisiert? Anschaulich finden wir diese enge Vertrautheit Gottes mit seinem Volk bei Hosea in Kapitel 2: (21) Ich will mich mit dir verloben für alle Ewigkeit, ich will mich mit dir verloben in Gerechtigkeit und Recht, in Gnade und Barmherzigkeit. (22) Ja, in Treue will ich mich mit dir verloben, und du wirst den HERRN erkennen. (23) Zur selben Zeit will ich erhören, spricht der HERR, ich will den Himmel erhören, und der Himmel soll die Erde erhören, (24) und die Erde soll Korn, Wein und Öl erhören, und diese sollen Jesreel erhören.[3] (25) Und ich will ihn mir in das Land einsäen und mich erbarmen über Lo-Ruhama[4], und ich will sagen zu Lo-Ammi: »Du bist mein Volk«, und er wird sagen: »Du bist mein Gott.«

Dieses Prophetenwort macht auch die Bedeutung der Anrede des Engels verständlich, wenn er Mirjam als „Begnadete“ grüßt. Gott will sein Erbarmen wieder erscheinen lassen, will seinem Volk, das unter der römischen Knechtschaft seufzt, seine Barmherzigkeit neu zuteil werden lassen. Als erste darf Mirjam diese Zusage hören und als Berufene erleben, diese göttliche Barmherzigkeit in der Gestalt eines Kindes in die  Welt zu bringen. Sie hat Gnade bei Gott gefunden (Lk.1,30), denn er ist gnädig, wem er gnädig sein will (Ex.33,19)

Aber muss Mirjam Jungfrau gewesen sein, als sie ihr erstes Kind zur Welt brachte? Natürlich klingt hier die Erfüllung des Prophetenwortes aus Jesaja an: Kap 7,14 „Darum wird euch der HERR selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel.“ Doch muss hier unbedingt das hebräische Original konsultiert werden. Dort steht ausdrücklich das hebräische Wort „Alma“, das wörtlich „junge, unverheiratete Frau“ bedeutet und nicht das Wort „Betula“ für Jungfrau.

Als junge Frau, die schwanger wird, fällt Mirjam unter den Müttern der hebräischen Bibel deutlich auf, waren doch die Stammmütter oft unfruchtbar und gebaren erst in fortgeschrittenem Alter ein Kind. So war Sarah 90 Jahre alt, als ihr der lang verheißene Sohn Isaak geboren wurde. Rebekka und Isaak mussten ebenfalls 20 Jahre auf die Geburt ihrer Zwillinge warten (Gen.25,20-26). Rachel, die Jakob besonders liebte,  war unfruchtbar, während ihre ältere Schwester Lea bereits Söhne gebar. Ebenso wartete Hanna, die Mutter Samuels, lange Jahre auf ein Kind; Jahre, in denen sie Gott immer wieder um einen Sohn bat.

So wird uns das Zeichen verständlich, das der Prophet Jesaja dem König Ahas ankündigte: Es wird auffallen, wenn eine besonders junge Frau einen Sohn zur Welt bringen wird.

Ein Kind, von einer jüdischen Mutter geboren, ist Jude bzw. Jüdin. Nun aber wird betont, dass Mirjam mit Josef aus dem Hause David verlobt war. Der Name Josef bedeutet „der Mehrer, der Hinzufüger“ und impliziert, dass Gott durch diese Person etwas Göttliches in die irdische Sphäre einbringt, hinzufügt. Josef steht in der Tradition seines großen Vorbilds aus der ersttestamentlichen Josefsgeschichte in Genesis, denn auch er trägt durch die Fürsorge für seinen Ziehsohn dazu bei, ein Volk zu erretten.
1.Mose 50,20 Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.

Das Kind, das Josefs Verlobte Mirjam erwartet, soll den Thron seines Vorfahren David einnehmen und sein Reich soll kein Ende haben.  Diese Verheißung erhielt bereits David auf seinem Sterbebett: 2.Sam 7,12 Wenn nun deine Zeit um ist und du dich zu deinen Vätern schlafen legst, will ich dir einen Nachkommen erwecken, der von deinem Leibe kommen wird; dem will ich sein Königtum bestätigen.  (16) Aber dein Haus und dein Königtum sollen beständig sein in Ewigkeit vor mir, und dein Thron soll ewiglich bestehen.

Ebenso kündigt der Prophet Jeremia in Kap. 23,5 an: Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, daß ich dem David einen gerechten Sproß erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird.

Jesus wird also zuerst durch seinen Ziehvater Josef aus dem Hause Davids in die davidische Familientradition hineingestellt. Der Nachkomme soll diese Tradition weiterführen, die für lange Jahre unterbrochen war und nun auf die Erfüllung der prophetischen Verheißung wartet.

Eine besondere Anbindung an die jüdische Tradition nimmt der Evangelist Matthäus mit seinem langen Stammbaum am Beginn seines Schreibens vor. Er schließt sich damit unmittelbar an die Schriften der Tora an, in welcher die langen  Geschlechtsregister zeigen sollen, wie der Heilsplan Gottes sich über jede einzelne Generation und deren Nachkommen entwickelt. Matthäus lässt den Stammbaum Jesu bei Abraham beginnen und bei Jesu Ziehvater Josef enden. Die Bedeutung Davids und des Auftrags an Jesus geht auf besondere Weise aus diesem Stammbaum hervor. Im letzten Satz heißt es dort: Matth 1,17 Alle Glieder von Abraham bis zu David sind vierzehn Glieder. Von David bis zur babylonischen Gefangenschaft sind vierzehn Glieder. Von der babylonischen Gefangenschaft bis zu Christus sind vierzehn Glieder.

Die Ahnen sind in 3×14 Generationen aufgeteilt. Dazu muss man wissen, dass David im Hebräischen mit nur 3 Buchstaben geschrieben wird: dalet – waw – dalet. Der Zahlenwert dieser 3 Buchstaben ist 14! Durch diese nummerologische Darstellung verdeutlicht Matthäus, was Grundlage seines jüdischen Glaubens war und heute noch ist: Die Erlösung und der Messias müssen aus dem Geschlecht Davids kommen.

Warum aber soll Mirjam ihren Sohn ausdrücklich Jesus nennen? Auch hier müssen wir zurück zur ursprünglichen und hebräischen Form des damals sehr gebräuchlichen Namens Jehoschua oder kürzer: Jeschua. In den Prophetenbüchern finden wir einen Hohepriester dieses Namens: Sach 3,8 Höre nun, Jeschua, du Hoherpriester: Du und deine Brüder, die vor dir sitzen, sind miteinander ein Zeichen; denn siehe, ich will meinen Knecht, »den Sproß«, kommen lassen.

Auch der Nachfolger des Mose, Josua, heißt in der hebräischen Form Joschua, was wiederum eine Kurzform von Jehoschua ist oder der Prophet Hosea aus dem Nordreich im 8. Jh.v.d.Z.  Ihnen allen ist ihr Name Programm, denn er heißt: „Gott wird erlösen“. Und auf Erlösung wartete das jüdische Volk zurzeit der römischen Besatzung in besonderer Weise. Wie Gott das Volk einst aus Ägypten erlöste, was im Pessachfest bis heute ausgiebig gefeiert und gewürdigt wird, so musste doch auch Erlösung kommen von der römischen Unterdrückung. Die damalige Gruppe der Zeloten war bereit, das Erscheinen der Erlösung und des Messias kämpfend vorzubereiten, die Gruppe der Essener zog sich in eine klosterähnliche Gemeinschaft zurück, um ein geheiligtes Leben führen zu können und die Pharisäer erforschten die Schriften nach den Vorboten der ersehnten Rettung.

Mit dem Namen des Kindes zeigt Gott sein Programm: Die Erlösung ist da. Der Evangelist Matthäus macht den Zusammenhang von Auftrag und Name in einem Satz deutlich, was jedoch vornehmlich in der hebräischen Sprache richtig zum Klingen kommt: Matth 1,21 Und sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus (Joschua) geben, denn  er wird sein Volk retten (joschia) von ihren Sünden.

Wie aber der Name der Mutter Mirjam zeigt, ist Erlösung nicht ohne Schmerz zu haben. Ihr Name bedeutet: „Diejenige, die eine dem Meer gleiche Menge an Bitterkeit auf sich nimmt“. So kann ihr später im Tempel der alte Simeon sagen: Luk 2,35 „- und auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen“. Doch Mirjam ist bereit, die Berufung Gottes, welche ihr der Engel übermittelte, anzunehmen. Wie andere Berufene vor ihr – z.B. Mose am brennenden Dornbusch – sagt sie: „Hineni.“ „Hier bin ich, ich bin bereit.“

Dieses Kapitel zur Geburtsankündigung begann mit der Feststellung, dass nicht jede Mutter eine solche Ankündigung erlebt. Und doch gibt es ein vergleichbares Ereignis – neben der Ankündigung der Geburt Isaaks durch die drei Männer – im Buch der Richter. Im 13. Kapitel erscheint der Frau des Manoach, die unfruchtbar ist und sich gerade auf dem Feld befindet, der Engel des Herrn. Er kündigt ihr die Geburt Simsons an und fordert sie auf, sich von Wein, starkem Getränk und  Unreinem zu enthalten, weil der Sohn „ein Geweihter Gottes“ sein soll. Er hat ebenfalls den Auftrag, das Volk zu erretten, nämlich aus der Hand der Philister. Interessant ist, dass die Begegnung mit dem Engel, die letztlich auch Manoach erleben kann, so gewaltig ist, dass nicht klar gesagt wird, wer das Kind erzeugt. Wird bei Elkana gesagt, „er erkannte seine Frau Hanna“, erfahren wir bei Manoach nur, dass nach der Engelbegegnung die Frau das Kind gebiert.

Die Geburt Jehoschuas

Kinder werden auch in harten Zeiten geboren, in Zeiten von Verfolgung, Kriegen oder Unterdrückung. Kinder wurden auch während der Sklaverei in Ägypten geboren, als die Hebammen Schifra und Pua berühmt wurden, da sie sich trauten, gegen die Vorschriften des Pharao zu handeln.

Eine Schwangerschaft während der römischen Besatzung und der sozialen und finanziellen Unsicherheiten mag für werdende Mütter eine Belastung gewesen sein. Andererseits waren und sind gerade in solchen Zeiten die Kinder die Zukunft der Gesellschaft und garantieren ihre weitere Existenz.

Mirjam ist bereits hochschwanger, als Josef – dem Gesetz des Kaisers gehorchend – sich in Bethlehem registrieren lassen muss. Er unternimmt diese anstrengende Reise gemeinsam mit Mirjam, die laut Lukas noch immer lediglich seine Verlobte, laut Matthäus bereits seine Frau ist. Nur Lukas schreibt von diesem Gebot des Kaisers und von dem beschwerlichen Weg von Nazareth, am See Genezareth gelegen, nach Bethlehem in der Nähe von Jerusalem. Doch diese beiden Orte werden nicht zufällig genannt, wie besonders in der hebräischen Bibel kein Wort zufällig an seinem Platz steht. Joschua muss mit Nazareth (hebr. = Spross) zu tun haben, weil er der neue Spross ist, den die Propheten verheißen hatten, und er muss aus Bethlehem (hebr. = Haus des Brotes) stammen, weil er ein Nachfahre Davids ist und ebenso Brot des Lebens sein soll für alle, die hungern (Joh.6,35).

In Bethlehem angekommen, kommt die Zeit der Niederkunft. Mirjam wird sich auf diesen Moment vorbereitet haben, denn als ihr Sohn geboren ist, hat sie die Windeln zur Hand, in die sie das Neugeborene wickeln kann. In der Enge ihrer Unterkunft kann sie dieses Kind nur in eine Krippe legen. Da die einfachen Häuser durchaus Tiere mit im Haus beherbergten, müssen Mirjam und Josef nicht in einem Stall gewesen sein; vielmehr kann sich aus genanntem Grund ein Futtertrog im engen Haus befunden haben.[5]

Diese ungewöhnlichen und beschwerlichen Ereignisse rund um die Geburt des erwählten Kindes Joschuas verbinden ihn mit Gottes erwähltem Volk und der Tora: Seine Eltern leben in einer notvollen Zeit. Noch unter Herodes dem Großen kam es zu politischen Unruhen und Aufständen gegen die Römer, die vielen Menschen das Leben kosteten. Die Steuerlast wurde unerträglich. Ebenso erging es Amram und Jochebed in Ägypten. Als ihr drittes Kind geboren wurde, ein schöner Knabe, mussten sie ihn in einem Kästchen verstecken und dem Wasser des Nils ausliefern. Die ägyptische Prinzessin, die ihn aus dem Wasser zog, gab ihm den Namen Mosche (Mose).

Krippe und Kästchen, ein Körbchen aus Schilf und Pech wie einst die Arche –gottberufene Männer von Mutterleibe an erleben eine außergewöhnliche, eine gefährdete Geburt und Kindheit. Außergewöhnliche Bettchen nehmen sie auf und bieten ihnen vermeintlichen Schutz, sodass umso deutlicher wird, dass derjenige, der sie berufen hat –Gott – , sie von Anbeginn selber umgeben und schützen muss.

Zu dem großen Mann Mosche, zu dem Gott später vertraut und von Angesicht zu Angesicht redete wie mit einem Freund, zeigt die Geschichte Joschuas einige Parallelen. Das Leben beider Kinder wird bedroht durch das Gebot der machtbesessenen Herrschenden, die männlichen Kinder zu töten. Zur Rettung muss Josef seine kleine Familie nehmen und sie nach Ägypten bringen, also dorthin, wo einst die Israeliten in der Sklaverei lebten, aus der Gott die Rettung und Erlösung durch Mosche schickte.

Standen Ochs und Esel an der Krippe des Kindes und ärgerten sich, dass jemand auf ihrem Futter lag? Die Evangelisten berichten davon nichts. Es ist der Futtertrog, der diese Assoziationen provoziert. Doch kann Lukas auch an Jesaja gedacht haben: Kap.1(3) Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn; aber Israel kennt’s nicht, und mein Volk versteht’s nicht. (18) So kommt denn und laßt uns miteinander rechten, spricht der HERR. Wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie rot ist wie Scharlach, soll sie doch wie Wolle werden.

Menschen mögen das Kind wohl sehen, aber sie erkennen und verstehen Gottes Botschaft nicht. Ochs und Esel sind verständiger als sie. Sie sind sogar jetzt eher in der Lage als die Menschen, in dem Kind den zu sehen, den Gott zum Heil sendet.

Und noch eine Gruppe gibt es, die offen ist für Gottes noch unsichtbares Wunder: Es sind die Hirten auf den Feldern Bethlehems. Auch sie leiden unter dem römischen Druck. Auch sie mögen in ihrer Situation auf die Ankunft eines Erlösers gewartet haben. Zu ihnen kann der Engel des Herrn kommen und ihnen die frohe Botschaft verkündigen.  – Ist es der Engel des Herrn, der auch mit Mosche aus dem brennenden Dornbusch sprach?[6]

Hirten müssen die gute Nachricht hören, denn Joschua selbst wird einst der gute Hirte genannt werden[7] und die Aufgabe übernehmen, die Gott seinem Volk gegenüber ausübt, nämlich es zu weiden und in Sicherheit zu führen. Jes 40,11 Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen.

Hes 34,12 Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war.

Die Vorfahren Joschuas waren ebenso Hirten und nahmen ihre Verantwortung ernst. Mosche hütete die Schafe seines Schwiegervaters Jitro, als Gott ihm im brennenden Dornbusch erschien. Josef und seine Brüder waren Hirten und sogar Rachel wird ausdrücklich als Hirtin vorgestellt.

Dass die Hirten auf den Feldern ihren Dienst tun, spricht nicht für die Geburt Joschuas Ende Dezember, wie Luzius Schneider[8] belegt. Er berechnet, dass Joschua um die Zeit von Sukkot[9] geboren sei. An diesem Fest leben Juden 7 Tage lang in Laubhütten, die an den Schutz Gottes während der Wüstenwanderung erinnern und die Gegenwart Gottes symbolisieren. An jedem Tag lädt man symbolisch einen der 7 großen Hirten[10] der Bibel ein, die Uschpisin (Gäste), welche da sind Abraham, Isaak, Jakob, Josef, Aaron, Mose und David.

Wie es mit dem Kind weitergeht

Die Verse Luk. 2, 21-24 werden nicht selten überlesen, spielen aber in jüdischen Familien bis heute eine entscheidenden Rolle.

Da ist zuerst die Beschneidung (hebr. Brit Mila) eines Jungen am 8. Tag nach der Geburt. Damit wird an den Bundesschluss Gottes mit Abraham in Genesis 17,9ff erinnert, als Gott Abram und Sarai außerdem umbenannte in Abraham und Sarah. Sie ist ein Bundeszeichen für alle Geschlechter, d.h. jeder Junge wird durch die Beschneidung persönlich in den Bund mit Gott hineingenommen. Der 8. Tag ist dabei bezeichnend, bedeutet doch die 8 das Hinüberreichen in die Welt der Transzendenz.

Der Großvater des Kindes hält in der Regel den Neugeborenen, in anderen Fällen ein Pate, wobei dieser auf dem Stuhl des Elia sitzt. Damit wird deutlich gemacht, dass jeder Knabe der potentielle Messias sein könnte. Entsprechend lautet das dazugehörige Gebet: „Der Barmherzige schicke uns seinen Maschiach (Gesalbten), der ohne Tadel wandelt; dies im Verdinest des jetzt Beschnittenen. Er (der Maschiach) künde uns Gutes und Tröstliches, dem einen Volk, das unter vielen Völkern zerstreut und abgesondert ist.“[11] Der Mohel (Beschneider) beschneidet die Vorhaut des Kindes und spricht dazu Segensworte. Das Baby bekommt einen Tropfen Wein in den Mund geträufelt, wodurch es symbolisch Anteil nimmt an dem Segen, der über dem Wein im Rahmen des Kiddusch[12] gesprochen wird.

Nach der Beschneidung spricht der Vater des Kindes folgenden zentralen Segen: „Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der uns durch Seine Gebote geheiligt und uns befohlen hat, den Knaben in den Bund Abrahams einzuführen.“ Daraufhin sprechen die Anwesenden feierlich: „So wie der Knabe in den Bund eingeführt wurde, möge er auch zur Tora, in die Ehe und zu guten Taten kommen.“[13]

An diesem feierlichen Tag erhält das Kind seinen spezifisch hebräischen Namen. Dazu hätte zur Geburt Jeschuas gebetet werden können: „Unser Gott und Gott unserer Väter, erhalte dieses Kind seinem Vater und seiner Mutter, sein Name sei in Israel genannt Jehoschua, Sohn des Josef. Möge sich der Vater an seinem Nachkommen, die Mutter an ihrer Leibesfrucht freuen.“[14] Es folgt eine Liste mehrerer erst- tes­tamentlicher Zitate, durch die sowohl die Eltern als auch die geladenen Gäste sich bewusst machen sollen, dass die aktuelle Beschneidung des Jungen diesen in die lange Tradition der großen Männer des Judentums einbindet, die ebenfalls durch die Beschneidungsfeier ihren Bund mit Gott besiegelten. Im Anschluss findet eine festliche Mahlzeit statt, in deren Verlauf viele Danksagungen an Gott gesprochen werden, diesen ersten wichtigen Tag im Leben des Kindes gemeinsam gestalten zu dürfen.

Die Tage der Reinigung der Frau korrespondieren im weitesten Sinne mit der nachgeburtlichen Blutung während der Zeit des Wochenbetts. In dieser Zeit wird ihr besondere Schonung zugesprochen. Als Ausdruck ihrer Rückeingliederung in die Gemeinschaft brachte sie zu Tempelzeiten gemäß Levitikus 12,6-8 ein Opfer dar. Die Mutter Mirjam brachte aus diesem Anlass ein Paar Turteltauben in den Tempel. Diese Erwähnung des Evangelisten zeigt uns, wie toratreu die Eltern Jeschuas lebten.

Zeitgleich  brachten sie entsprechend Exodus 13,2 auch ihren erstgeborenen Sohn in den Tempel, um ihn auszulösen. In Erinnerung an die Tötung der ägyptischen männlichen Erstgeborenen und die Verschonung der hebräischen männlichen Erstgeborenen ordnete Gott nach der Befreiung aus Ägypten den Kindern Israel an, ihrerseits jeden männlichen Erstgeborenen aus ihren Reihen durch eine geldliche Leistung von der Pflicht zu befreien, diesen in den Dienst Gottes im Tempel zu stellen. In der biblischen und nachbiblischen Tradition wurde es zum Brauch, mittels fünf Silbermünzen, die der Vater des Erstgeborenen dem Zeremonienmeister der Auslösung übergibt, den Knaben in seiner Obhut behalten zu dürfen.

In heutiger Zeit findet am 31. Tag nach der Geburt eine kleine Feier statt, in welcher der Vater gefragt wird: „Was willst du mehr, diesen, deinen erstgeborenen Sohn oder die fünf Silberstücke, die du als Lösegeld geben musst?“ Daraufhin antwortet der Vater: „Ich möchte lieber meinen Sohn auslösen, hier hast du die fünf Silberstücke für sein Lösegeld.“ Der Vater nimmt sein Kind und dreimal sagt ihm der Zelebrant: „Dein Sohn ist ausgelöst.“ Anschließend wird der Junge mit dem klassischen Segen für Knaben gesegnet sowie mit dem aaronitischen Segen.[15]

Ich hoffe, mit diesen Ausführungen den Leser und die Leserin an die jüdischen Quellen der „christlichen“ Geburtsgeschichte Jesu von Nazareth herangeführt zu haben. Der Beitrag will aufzeigen, wie sehr ein Christ davon profitiert, die über Jahrhunderte vernachlässigten jüdischen Aspekte dieser beispielhaft ausgelegten Evanglien-Berichterstattung bei seiner Lektüre des Neuen Testaments zu integrieren.

Biografie:

Debora Barbara Graf-Lapide wurde 1960 in Hamm/Westf. geboren. Abitur und Ausbildung zur Kinderkrankenschwester absolvierte sie in Wiesbaden.
1997-2001 studierte sie in Frankfurt/M. Ihre Arbeit zum Ersten Staatsexamen galt dem Frankfurter Judentum. Seit 2003 ist sie Lehrerin der Sek. I mit den Fächern Deutsch und Ev. Religion.
Seit 2005 ist sie die Frau an der Seite des jüdischen Religionswissenschaftlers Dr. Yuval Lapide, mit dem sie gemeinsam das Bewusstsein der jüdischen Wurzeln im Christentum verbreitet und der ihr  mit Rat und Tat zur Seite steht. Sie selber steht vor ihrem Übertritt zum Judentum.
Aus erster Ehe hat sie zwei erwachsene Töchter.


[1] aus: „Bruder Jesus“, 1967
[2] Vgl. Daniel Kap. 8 und 9
[3] »Jesreel« kann heißen »Gott sät ein« und meint die fruchtbare Ebene, zugleich aber (Vers 25) den Prophetensohn, der wiederum ganz Israel vertritt (vgl. Kap 1,4).
[4] die Nichterbarmte, die nicht Barmherzigkeit Erlangende, Anm.d.Verf.
[5] Schmidt-Grether, Susanne: Schoresch Ausgabe 22
[6] Ex.3,2
[7] Joh.10,11
[8] http://www.luziusschneider.com/Papers/GeburtsdatumJesu.htm
[9] Laubhüttenfest im September/Oktober
[10] Micha 5,4 Und er wird der Friede sein. Wenn Assur in unser Land fällt und in unsere festen Häuser einbricht, so werden wir sieben Hirten und acht Fürsten dagegen aufstellen,
[11] Vgl. Schema Kolenu (Gebetbuch), Morascha Basel
[12] Kiddusch = Heiligung der Speisen in der Art, dass Segensworte über Brot und Wein gesprochen werden. Es ist eine regelmäßige Zeremonie am Schabbat und an Feiertagen vor der festlichen Mahlzeit.
[13] Vgl. Schema Kolenu (Gebetbuch), Morascha Basel
[14] Ebd.
[15] Ebd.