Verbreiten wir Licht!

Schacharit-Gebet an Jom haAtzma’ut bei Sonnenaufgang auf einer Anhöhe

Ein Lehrer, der dem Rebbe (Rabbi Menachem M. Schneerson, s. A.) nahe stand, bat ihn einmal um Rat. Sein tiefer Schmerz als Überlebender des Holocaust hinderte ihn daran, seine Pflichten als Lehrer zu erfüllen.
„Es gibt keine Worte, um dich zu trösten“, sagte der Rebbe.
„Aber du darfst nicht zulassen, dass der Holocaust in deinem Leben weitergeht!“
Er sagte dem Mann, was er von seinem Schwiegervater, dem vorigen Rebbe, gehört hatte: „Wir sind Tagarbeiter und haben die Aufgabe, Licht zu verbreiten. Wir sollen unsere Energie nicht damit vergeuden, die Dunkelheit zu bekämpfen. Sorgen wir dafür, dass es Tag, dass es Licht wird, dann verschwindet die Nacht.

Verbreiten wir Licht! – Der Rebbe (synagoge-karlsruhe.de)

Yuval und ich erleben in Israel die Gedenktage Jom haScho’a (28.4.2022), Jom haSikaron (4.5.2022) und Jom haAtzma’ut (Unabhängigkeitstag Israels 5.5.2022). Diese Tage spiegeln ein Selbstverständnis der jüdischen Israelis wider, denn es gibt eine Dankbarkeit im Lande, nach der Scho’a wieder ein eigenes Land seinen Zufluchtsort vor dem Antisemitismus der Welt zu nennen. An Jom haSikaron wird der gefallenen Soldaten und der Opfer der Terroranschläge gedacht. Dem Kampf der Soldaten verdankt das Land seine Existenz und sein Fortbestehen. Darum heißt es:
„Heute (Jom haSikaron) weinen wir um sie, morgen (Jom haAtzma’ut) feiern wir ihre Verdienste.“

Israels Geschichte ist seit seiner Gründung vor 74 Jahren begleitet von Krieg und Terror, sodass es eine Binsenweisheit ist, dass diese Heimat der Juden sich nicht eine einzige Schwäche oder Niederlage seiner Armee leisten kann. Und es sind nicht nur Juden, die voller Leidenschaft ins israelische Militär gehen, um ihr Land gegen Angriffe neidischer und antisemitischer Nationen zu verteidigen, sondern ebenso Drusen, Araber und Christen. Sie alle wissen den Wert des Landes zu schätzen, in dem sie ihr Auskommen, ihre Sicherheit und ihre Freiheit haben. Das beobachten wir mit eigenen Augen, voller Staunen und voller Dankbarkeit.

Immer wieder fragen wir uns, was Deutschland von diesen Gedenktagen lernen kann, denn auch in Deutschland gibt es den Nationalfeiertag am 3. Oktober, den Volkstrauertag und den Totensonntag. Deutschlands Präsident Roman Herzog initiierte sogar den 27. Januar als Internationalen Holocaust-Gedenktag. Daneben ist der schwierige Spagat zu leisten, am 9. November sowohl der Reichspogromacht 1938 als auch des Mauerfalls und des Endes der DDR-Diktatur 1989 zu gedenken. Genauso schwierig gestaltet sich der 8. Mai und das Gedenken an das Kriegsende 1945.

Deutschland kann sich in mancherlei Hinsicht nicht mit Israel vergleichen, denn es wird nicht in jedem Augenblick seines Bestehens bedroht und sein Existenzrecht infrage gestellt. Das ändert sich derzeit in der Hinsicht, dass Deutschland feststellen muss, dass Nachbarn doch nicht so freundlich und wohlgesonnen sind, wie es sich nach 1989 darstellte. Der Krieg ist zurück in Europa und bedroht die so selbstverständliche Ordnung, die liebgewonnen westlichen Werte.

Wir werden gezwungen zu lernen: Nichts ist selbstverständlich! Frieden muss manches Mal durch Krieg errungen werden. Diplomatie und gutes Zureden überzeugten Adolf Hitler nicht und werden heutige Diktatoren ebenso wenig überzeugen. Diese Lehre hat Deutschland, hat Europa, haben die überzeugten Pazifisten nicht ernst genug genommen! Aber wollen wir uns unseres Friedens und unserer Freiheit berauben lassen, weil wir so friedliebend eingestellt sind und es jedem Recht machen wollen?!

Von Israel lernen heißt: Die Vergangenheit ehrlich und wahrhaftig zu bearbeiten, weder in falscher Scham noch in Schuldgefühlen, die niemals die echte Schuld dokumentieren, stecken zu bleiben. Israel konnte nicht in der Opferhaltung verbleiben, sondern musste seine Kräfte für den jungen Staat aktivieren und bündeln. Nur durch das Bestehen einer einzigartigen Demokratie im Nahen Osten war und ist Israel in der Lage, Licht in die Welt zu tragen, ein Licht für die Völker zu sein.

Was jedoch bedeutet der 8. Mai in Deutschland für die heutige Generation? Ich erinnere mich noch an die Debatten meiner Jugend, ob er als Tag der Niederlage oder als Tag der Befreiung zu sehen wäre. Ich glaube, dass die heutige Generation solche Diskussionen als absurd ablehnt. Das Deutsche Reich wurde von einem antisemitischen, brutalen Diktator, der die deutsche Bevölkerung gleichfalls unterdrückte und Meinungsfreiheit nicht zuließ, befreit. Das 1000jährige Reich wurde – GOTT sei Dank – nach 12 Jahren beendet. Die Verantwortlichen der oberen Riege flohen in den Selbstmord oder wurden von den Siegermächten vor Gericht gestellt. An dem Streit, ob dies ausreichend geschah, will ich mich hier nicht beteiligen. Es gehört nicht zum Thema.

Das neue Gebilde der Bundesrepublik Deutschland musste sich seiner Schuld stellen, was unter den noch in der Gesellschaft verbliebenen Alt-Nazis nur unzureichend gelang. Doch was ist in der Zwischenzeit geschehen?

Deutschland hat sich die Anerkennung in Europa erwirkt und genießt mittlerweile internationales Ansehen. Es hat etwas für die Tilgung seiner Schuld – selbst wenn das zur Gänze gar nicht möglich ist – getan durch Projekte wie „Aktion Sühnezeichen“, durch die finanzielle Unterstützung des jungen Staates Israel bis heute, durch Städtepartnerschaften und die Arbeit christlicher Werke in Israel wie die Marienschwestern in Jerusalem oder Zedaka in Shavei Zion. In Deutschland wird weiterhin der Bau neuer Synagogen finanziert und damit jüdisches Leben ermöglicht. Die politische Bildung, ebenfalls in den Schulen, hat Israel und die Geschichte des Dritten Reichs vielen Menschen näher gebracht. Die Verlegung der Stolpersteine, die vor 30 Jahren begann, tat ihr Übriges, um auf die Vielfalt jüdischen Lebens vor der Scho’a aufmerksam zu machen.

Warum zähle ich all diese Dinge, die keine vollständige Liste abbilden, auf? Damit die junge Generation mitgenommen wird in das deutsche Gedenken, das in Israel ganz selbstverständlich für jeden Israeli jeden Alters stimmig ist. Jedoch die junge Generation in Deutschland leidet unter der Geschichte und fühlt sich ihrem Heimatland entfremdet, weil niemand ihr sagt, dass sie KEINE Schuld trägt für das Versagen der Urgroßeltern-Generation. Sie kann sich nicht identifizieren mit einem Land, das im Sumpf der Geschichte feststeckt. Sie traut sich nicht, sich mit den positiven Aspekten ihrer Heimat zu identifizieren.

Deutschland hat durchaus in unvollkommener Weise und schwerfällig den Umgang mit seiner Schuld geübt, darum spüre ich, dass die verbleibenden Schuldgefühle und falsche Scham das Land in die falsche Richtung führen. Aufgrund der Last der Geschichte will man es allen Recht machen, besonders vermeintlichen oder existenten Opfern zu ihrem Recht verhelfen. Dabei übersieht man schnell die Realität. Man erkennt nicht mehr den wahren Freund und den falschen Freund, der sich als Feind entpuppt. So ist Deutschland – Europa und die USA – weiterhin verführbar durch die Propaganda der Feinde Israels, die genauso die demokratisch-freiheitlichen Rechte in unserer Demokratien untergraben wollen. Israel feindlich gesonnen Staaten werden diplomatische Gespräche in Endlosschleife angeboten, ohne Erfolg, was z.B. Iran deutlich zeigt. Die Bedrohung Israels wird in deutschen Medien noch immer so dargestellt, als sei der Judenstaat der Aggressor. Nicht zuletzt hängt das mit den zahlreichen Opfern auf palästinensischer Seite zusammen, doch werden die von den palästinensischen Regierungen gerne in Kauf genommen, damit die Propaganda mit den armen Opfern Wirkung zeigt. Menschenleben besitzen bei Islamisten keinen Wert. Womit will man drohen, wenn das Leben wertlos ist und die Belohnung im Himmel wartet?

Dagegen schützt Israel seine Bewohner durch Schutzräume im privaten wie öffentlichen Raum. Das Verhalten von Militär und Polizei wird bei ungebührlichem Benehmen sogar dem Feind gegenüber strafrechtlich verfolgt. Aktuell gab es in Israel die Verurteilung von israelischen Hochzeitsgästen, die den Hass auf Araber zelebriert hatten. Dagegen sind Feiern bei „geglückten“ Terroranschlägen auf Juden von der Gegenseite erwünscht.

In Deutschland gibt es noch viel zu tun, damit nicht nur die Regierung ihre Gedenkstunden zelebrieren, sondern damit z.B. der Nationalfeiertag ein Tag ist, an dem Deutsche stolz auf ihre Nation sein können und von Herzen mitfeiern und auf den Straßen tanzen können. Auf ihr Deutschland, das weltoffen und fremdenfreundlich ist, das sich durch Hilfsbereitschaft auszeichnet, wenn es um Flüchtlinge und in Not geratene Menschen geht. Auf ihr Deutschland, das in der Welt Ansehen zurückgewonnen hat durch Erfolge in vielen wirtschaftlichen und sozialen Bereichen sowie in der Forschung, das freundschaftlichen Austausch mit unterschiedlichsten Nationen pflegt. Man braucht nur darauf zu achten, wo es überall Partnerstädte es gibt.

Wenn wir uns als Deutsche am 8. Mai über unsere Befreiung freuen und Gott danken können, wenn wir am 3. Oktober stolz auf unsere Heimat sein können, in der eine unblutige Revolution durch die Ausdauer und den Mut der ostdeutschen Bevölkerung gelang, dann können wir auch der Schoa-Opfer ohne falsche Scham gedenken und um sie trauern. Dabei sind wir uns bewusst, dass deutsche Nationalsozialisten und deutsche Mitläufer für deren grauenvollen Tod verantwortlich waren, aber in der Trauer verbinden wir uns mit den überlebenden Angehörigen der Ermordeten. Trauer macht ehrlich, gemeinsame Tränen reinigen und es entsteht eine Offenheit, die Geschichten der Überlebenden zu hören.

Dann werden wir auch den Volkstrauertag angemessen zelebrieren und an „die Opfer von Gewalt und Krieg aller Nationen“ erinnern können. Ursprünglich wurde nach dem Ersten Weltkrieg der gefallenen deutschen Soldaten gedacht. Wenn seit 1952 an die Opfer von Krieg und Gewalt gedacht wird, so sind auch diejenigen eingeschlossen, die als Widerständler in die Geschichte eingingen und die noch lange Jahre als „Landesverräter“ galten. Zu ihnen gehören die Soldaten, die unfreiwillig in diesen Krieg gezwungen wurden, vor allem diejenigen, die als sog. „Kanonenfutter“ als Kinder eingezogen wurden, obwohl sie die Lage gar nicht überblicken konnten. Aber auch die sind Opfer, die aufgrund dieses sinnlosen Krieges ihre Väter niemals kennen lernten oder ihre Männer nach kurzer Ehe verloren. Heute gibt es noch viele Leidtragende der Folgen, denen es Hilfe und Heilung bedeutete, wenn sie ungezwungen an all diese Menschen erinnern könnten.

Wie in Israel muss es letztlich zwischen all diesen Gedenktagen eine Verbindung geben. Wir wurden befreit und trauen sowohl um die Opfer der Scho’a als auch um die Opfer der Nazi-Propaganda, die Opfer des Krieges mit weltweit ca. 60 Mio. Toten. Auf diesem Schutt der zerstörten Städte und der zusammengebrochenen Ideologie konnte der neue deutsche Staat entstehen, der die Freiheit zu schätzen weiß.

Wir müssen das alles im Lichte Gottes sehen, der dieses Wunder ermöglicht hat. Wir sind nicht gemäß Morgentau-Plan vernichtet worden, was Gottes gerechte Strafe gewesen wäre, nachdem wir Seinen Augapfel antasteten! Israel und Deutschland pflegen freundschaftliche Beziehungen und Juden sind zurückgekehrt in das Land der früheren Täter! Sie lieben Deutschland als ihre Heimat und bieten uns sogar an, von ihnen zu lernen!

In dieser Hinsicht gibt es noch viel zu tun, denn die Kirche muss den giftigen Antijudaismus aus ihrer Lehre entfernen, muss die jüdischen Wurzeln ihres Glaubens kennen und schätzen lernen. Die Kirche muss lernen und an ihre Basis weitergeben, wie die Hebräische Bibel in ihrem eigenen Wert zu lesen und zu verstehen ist, und zwar ohne christliche Brille. Die Bibel muss von vorne nach hinten, nicht von hinten nach vorn gelesen werden!

Dann sind wir auf gutem Wege, auf lichtvollem Wege, wissend, dass dieses Menschheitsverbrechen nicht vergessen werden darf. Selbst das können wir von Israel lernen, das ein Volk des Erinnerns ist. Die Wallfahrtsfeste erinnern alljährlich an den Auszug aus Ägypten und die Wüstenwanderung mit ihren Höhen und Tiefen. Purim und Chanukka erinnern an Feinde, die es als Völker nicht mehr gibt, weil Gott sie hinwegraffte. Jom haScho’a, Jom haSikaron und Jom haAtzma’ut sind die Feste des modernen Staates Israel, die darauf hinauslaufen, dass Gott die Errichtung des Staates durch unzählige Wunder ermöglichte.

Erinnern und bereuen, erinnern und danken – Deutschland bekam eine zweite, von Gott geschenkte Chance und darf sie mit gesundem Selbstbewusstsein, mit gesundem Menschenverstand und mit Demut annehmen. Dann kann es sehen, erkennen, im Licht leben und Licht ins Leben bringen. Es kann ohne Scheu Freund und Feind benennen, anstatt zu einem Punshing Ball für diejenigen zu werden, die unlautere Absichten haben.