Vorgeschlagener Predigttext für Sonntag, d. 11.12.2022
Die Inspiration zu dieser Auslegung verdanke ich meinem Mann Yuval und Rabbiner Julius Hirsch

1 Tröstet tröstet mein Volk, spricht euer Gott, 2 redet zum Herzen Jerusalems und rufet ihr zu, daß vollendet ist ihr Scharwerk, daß abgegnadet ist ihre Schuld, daß gedoppelt von SEINER Hand sie empfängt für all ihre Sündenbußen. 3 Stimme eines Rufers: In der Wüste bahnt SEINEN Weg, ebnet in der Steppe eine Straße für unseren Gott! 4 Alles Tal soll sich heben, aller Berg und Hügel sich niedern, das Höckrige werde zur Ebne und die Grate zum Gesenk! 5 Offenbaren will sich SEIN Ehrenschein, alles Fleisch vereint wirds sehen. Ja, geredet hats SEIN Mund. 6 Stimme eines Sprechers: Rufe! Es spricht zurück: Was soll ich rufen! alles Fleisch ist Gras, all seine Holdheit der Feldblume gleich! 7 Verdorrt ist das Gras, verwelkt ist die Blume, da SEIN Windbraus sie angeweht hat! – Gewiß, Gras ist das Volk, 8 verdorrt ist das Gras, verwelkt ist die Blume, aber für Weltzeit besteht die Rede unseres Gottes. 9 Auf einen ragenden Berg steig dir als Glücksmärbringerin, Zion, schwing hoch mit Kraft deine Stimme als Glücksmärbringerin, Jerusalem, schwinge sie hoch, fürchte dich nimmer, sprich zu den Städten Jehudas: Da, euer Gott! 10 da, mein Herr, ER, er kommt als der Starke, sein Arm hat für ihn gewaltet, da, bei ihm ist sein Sold, vor ihm her sein Werklohn: 11 wie ein Hirt weidet er seine Herde, Lämmer hält er in seinem Arm, trägt sie an seinem Busen, die Mutterschafe leitet er sacht.

Buber-Rosenzweig, Die Schrift

Das Volk Gottes muss die Botschaft des Propheten hören, dass sein Gang ins Exil aufgrund seines Ungehorsams beschlossene Sache ist. Es sieht sich in tiefer Hoffnungslosigkeit und macht Gott für die dunkle Zukunft verantwortlich. Also sah man sich lieber nach Götzen um und kündigte die Beziehung mit Gott auf. Die Kinder Israel vertrauten ihrem Gott nicht länger.

Nach der Drohbotschaft wechselt der Prophet Jeschajahu zu einer Trostbotschaft, die Israel Kraft geben soll, im Exil zu bestehen. Es wird unter Leid und Entbehrung lediglich erzogen werden und zu Reife und Einsicht gelangen. Dieser Wechsel von Androhung des Leids und der freudigen Ankündigung der Erlösung aus demselben wechseln bei Jeschajahu immer wieder ab.

Die Rede beginnt mit dem allgemeinen Aufruf, in der Zukunft Gottes Volk zu trösten nach all den Entsagungen, dem Leid, dem Druck, durch welche das Volk gehen musste. Das Leid des Exils bedrängt Israel so sehr, dass Gott sich wieder erbarmt durch Seinen Trost, durch ein Licht am Ende des langen und düsteren Tunnels. Obwohl das Volk den Grund und Sinn des Exils nicht verstanden hat, ist Gott der Langmütige und bereit, sich Seinem Volk zuzuwenden. Dagegen hätte Israel seinerseits den Kontakt zu Gott suchen müssen. Die Doppelung von „Tröstet, tröstet -נַחֲמוּ נַחֲמוּ  nachamu, nachamu“ zeigt die Dialektik von Gottes Demut und dem Hochmut des Menschen.

Die Heidenvölker werden aufgerufen, Gottes Volk zu trösten, denn sie haben das Volk Israel über die Maßen bedrückt, mehr, als Gott ihnen gestattete.
Der Menschheit „kommt dies ja zuallererst zu, ist sie es doch, die Jisrael  so viele Jahrhunderte hindurch bitteres Leid zugefügt hat, ist sie es doch, die durch es zur Gotteserkenntnis gelangte und damit zum reinen sie beglückendem Menschentum.“[1]

Wegen dieses Vergehens werden die Heidenvölker jetzt alles tun müssen, um mit ihrer Trostbotschaft Jerusalems Herz zu erreichen. Sie werden der Gepeinigten Ruhe geben, was das hebräische Wort „trösten“ ebenfalls ausdrückt: לָנוּחַ lanu’ach = ruhen, ausruhen. Sie werden es dem Volk angenehm machen: נוֹחַ no’ach = angenehm, bequem. Die Heidenvölker müssen ihre Übertreibungen zugeben und einsehen, dass sie sich über Gott überhoben haben. Israels Sünde ist nun doppelt gesühnt. Jetzt kann es seinerseits seinen Auftrag erkennen und annehmen, ein „Licht für die Völker“ (Jes. 42,6) zu sein.
Durch diese Verkündigung wird es erkennen, dass es im Exil zu mehr Nächstenliebe und Gottvertrauen reifen wird. Vielleicht kann es in der Fremde effektiver seinen Gott bezeugen als vorher abgeschottet im eigenen Land.

Vor der Erlösung steht allerdings der Ruf in die Wüste. Mit diesem Ruf wird das Volk an die Wüstenwanderung erinnert, die seine Vorväter aus der Sklaverei Ägyptens ins gelobte Land führte. Die Kinder Israel dürfen Hoffnung haben, ebenso wie ihre Altvorderen ihr Ziel mit Gottes Hilfe zu erreichen. Sie werden außerdem auf die Wüste in ihrem Inneren hingewiesen, die durch die Abwesenheit Gottes entstand. In der Stille der Wüste redet Gott wieder mit ihnen, wenn sie IHM den Weg bereiten. Wüste מידבר Midbar von מְדַבֵּר medaber – er spricht ist die perfekte Sprechstätte.

Hier in der Wüste kann nun ein großes Umdenken stattfinden, damit der neue Weg beschritten werden kann. So schreibt Rabbiner Julius Hirsch:
„Der Wertmesser der Menschheit muss erst im Allgemeinen ein anderer werden; nicht nach Besitz und Stellung, die beide häufig zufällig sind, vielmehr nach seinem Charakter, nach der Entfaltung seiner geistig-sittlichen Eigenschaften, wie sie in seinem Leben, in seinem Wirken zutage treten, ist der Mensch zu schätzen. Dann wird gar mancher und manches bisher als niedrig Verachtete erhöht und vieles bis dahin Hochverehrte in der Wertschätzung herabsinken. Dann wird das krumme dem Geraden und alles heimtückisch Kombinierte der redlichen Offenheit weichen müssen.“[2]

Gott will sich allen Menschen offenbaren, und das durch Seine Kinder, denen ER Sein Wort und Seine Wahrheit anvertraute. Dazu ist Gott in der Lage, die gesamte Natur zu bewegen. Das Ziel ist es, dass Gottes Ehre offenbar wird, und zwar nicht nur den Menschen, sondern unter allen Lebewesen.

Wieder ist die Stimme zu vernehmen, die zur Verkündigung aufruft. Aber was wird ihre Botschaft sein?
Sie redet von der Vergänglichkeit des Fleisches und pointiert damit die Antithese zu Gottes Unvergänglichkeit und Gottes Geist. Der Geist Gottes belebt und tötet. Beides liegt in Gottes Hand. Der Gegensatz zwischen dem ewigen Gott und dem vergänglichen Menschen wird so in der Rede bewusst aufgebaut. Die Überheblichkeit des Menschen und seine Unmenschlichkeit gegenüber seinem Nächsten sind nichts anderes als ein ohnmächtiges Leben, das gleich der Blume verwelkt und wie das Gras verdorrt. Gott lehrt und erzieht Sein Volk, das den Heiden gleich wurde, auf diese schmerzvolle Weise und zeigt ihm im Gegensatz dazu Seine immerwährende Macht. Deshalb darf ER auch schweigen, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Diese Seine Langmut missinterpretierten die Kinder Israel dagegen als Schwäche, anstatt sich selbst zu überprüfen. Doch die Botschaft ist: Das Wort Gottes kann niemals vergehen, wohl aber jeder Mensch. Darum ist es sinnvoll, auf das ewige Wort des starken und liebenden Gottes zu hören.

Für diesen vergänglichen Menschen gibt es zu gegebener Zeit die Freudenbotschaft der Tochter Zion. In der jüdischen Tradition herrscht die Ansicht vor, dass es eine Theophanie gab, und diese fand in der Geschichte Israels immer auf Bergen statt. So erlebte Abraham seinen Gott auf dem Berg Morija und die Kinder Israel bekamen die Tora auf dem Berg Sinai, um nur die bekanntesten Gotteserscheinungen zu nennen. Der Berg ist ein Ort der Unterweisung. Berg = har הָר – lehorot לְהוֹרוֹת = unterrichten, unterweisen – Tora תּוֹרָה = Weisung Gottes. So ist der Berg der Ort, an dem sich Gott offenbart und das Volk Seinen Gott durch Sein Wort neu kennen lernt. Die letzte, große Theophanie wird am Ende der Zeiten stattfinden.

Von diesem Berg kommt die Botschaft: Gott da ist. ER ist nicht fern; ER kommt zu uns. Die Städte Jehudas hören von Zion als erste diese Freudenbotschaft, die dann in die Welt gelangt!

Hine הִנֵּה = siehe“ kommt in V9 + 10 dreimal vor. Darin liegt die Bedeutung von Wandlung und Transformation. Zion steht für David, der die Jebusiterstadt eroberte und sie Zion  צִיּוֹן = die Gezeichnete nannte. Der Verweis auf Gottes Anwesenheit bedeutet gleichfalls, dass die Angst vorbei ist! Die Zeit der Dankbarkeit und des Jubels ist angebrochen!

Gott, der die großen Ereignisse der Weltgeschichte in der Hand hat, gibt sich zuerst als der starke Gott, der mit „mächtiger Hand und ausgestrecktem Arm“ (Deut. 5,15) die Kinder Israel aus Ägypten rettete, zu erkennen. Dann jedoch als der gute, liebende Hirte und macht damit deutlich, dass ER die falschen Propheten absetzt, die nur an sich dachten, und selber für Sein Volk eintritt. ER gibt sich der Menschheit mit Seiner Güte und Fürsorge zu erkennen, die der eines Hirten gleicht, den der Orientale nur zu gut aus eigener Anschauung kennt. Die Lämmer bedürfen der besonderen Zuwendung des guten Hirten, und diese identifiziert Julius Hirsch als die Kinder Israel. Gott führt und hütet sie nach all dem Leid mit besonderer Liebe, die der Psalm 23 in poetischen Bildern darstellt.

„Diese Zuversicht auf die fürsorgende Liebe Gottes soll das Galutvolk [Exilsvolk, Anm.] auf seinem Wüstengang zu allen Zeiten stützen und aufrechterhalten. Der sie ihm einflösste, besitzt auch die Macht, Seine Verheißung unter allen Umständen zu erfüllen, denn ER allein ist Schöpfer des Weltalls, seine Allmacht ist mit nichts zu vergleichen; …“[3]

Aus Israels Exilserfahrung können wir lernen, dass Gott alle Geschehnisse, auch unserer aktuellen Welt, in der Hand hat und dass ER sie so lenken wird, dass sie IHM und Seinem Ziel dienen. Selbst verbrecherisches Handel und todbringende Kriege müssen IHM letzten Endes dienstbar sein. Gott kommt zu uns mit Macht. ER wird uns zuletzt als Hirte weiden und als gerechter König herrschen!  


[1] Das Buch Jeschaja, nach dem Forschungssystem Rabbiner Samson Raphael Hirschs übersetzt und erläutert von Julius Hirsch, Basel 2019, S. 409
[2] Ebd. S. 412 / 413
[3] Ebd. S.417

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