25. Adar 5780; 21. März 2020

 

 

Die Wichtigkeit des Schabbat

 

Der Wochenabschnitt dieses Schabbats beginnt mit dem Wort „wajakhel –
וַיַּקְהֵל“ = „es versammelte“ Mose die ganze Gemeinde. Rabbi Jonathan Sacks stellte dazu fest, dass es eine auffallende Dissonanz an diesem Schabbat gebe, an dem erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg Synagogen, Kirchen und Moscheen geschlossen sind und keine Versammlung stattfinden darf. Dabei lebt gerade der jüdische Gottesdienst mit der feierlichen Lesung aus der Tora davon, dass zehn Männer anwesend sein müssen, um die Torarolle ausrollen zu dürfen. Und nun hat diese Mikrobe Corona alles gestoppt!
Rabbiner Sacks sieht in dieser Parascha, dass Gott diese Worte besonders für eine Zeit wie unsere aktuelle gab, in die Situation gesellschaftlicher Isolation, denn zu welcher Botschaft versammelte Mose die Kinder Israel? Es ging um den Aufruf an die Gemeinde, gemäß dem eigenen Herzensbedürfnis Spenden für den Bau des Stiftszeltes zu bringen sowie um die genaue Anweisung an die Kinder Israel, wie das Zelt mitsamt seinem Inventar und den heiligen Kleidern zu erstellen war. Doch zuvor erinnerte Mose das Volk daran, dass es sechs Tage arbeiten dürfe, aber am siebten Tag dürfe keinerlei Arbeit getan werden. Der Schabbat ist wichtiger als das Stiftszelt und darum ausnahmslos einzuhalten.
Rabbiner Sacks erklärt, daraus sei zu entnehmen, dass Gott Seinen Kindern in erster Linie ein Heiligtum in der Zeit gab, nämlich den Schabbat. Wenn es kein Haus gibt, keinen Tempel, keine Synagoge, dann trägt der Schabbat, und er hält Juden auf der ganzen Welt zusammen. Nur so kann in dieser außergewöhnlichen Situation, in der es um die Rettung von Menschenleben geht, jeder Jude für sich zuhause beten und dabei doch wissen, dass er im häuslichen Gottesdienst mit allen anderen Gläubigen zur selben Zeit verbunden ist.
Es gab immer wieder Zeiten im Leben des jüdischen Volkes, in denen ihm der Tempel genommen wurde, Synagogenbesuche verboten waren. Aber der häusliche Tisch bildet an jedem Schabbat, wenn der Kiddusch (Heiligung der Speisen) gehalten wird, einen kleinen Altar. Die Frau hatte beim Backen der Challot (Schabbatbrote) ein Stückchen des Teigs als Dankopfer gebracht und am Freitagabend die Kerzen unter Segensgebeten entzündet. Der Vater segnet vor dem festlichen Essen mit Brot und Wein die Mahlzeit. Der Kiddusch ist ein häusliches Abendmahl an jedem Freitagabend. Und so teilten sich Mann und Frau die den Schabbat heiligenden Aufgaben.
Stiftszelt, später der Tempel und danach die Synagogen sind heilige Orte im Raum, die zerstört werden können. Aber eine Tischgemeinschaft kann es zu jeder Zeit und an jedem Ort geben.
Ein wichtiger Grundsatz: Bevor eine Prüfung oder Krankheit kommt, schickt Gott die Heilung und die Hilfe. Und so gibt es das Heiligtum in der Zeit, den Schabbat, längst bevor es das Stiftszelt, das Heiligtum im Raum gibt.
Nicht umsonst heißt es: Mehr als die Juden den Schabbat hielten, hielt der Schabbat die Juden. – Auch in Corona-Zeiten.
https://www.youtube.com/watch?v=9LDJDxY-5Rk

 

Ein Jeder ist bedeutungsvoll

 

Ein anderer Gedanke der Parascha ist: Jeder Einzelne ist wichtig. Auf jeden Einzelnen kommt es an.
Mose ruft das Volk auf, kostbare Materialien zu spenden, um dieses Heiligtum bauen zu können. Der Text zeigt schrittweise, wie die ersten Menschen kommen und ihre Gaben bringen, wie es ihnen ihr Herz sagt. Dann kommen die nächsten, es kommen Männer und Frauen, und schlussendlich hat jeder etwas beigetragen, sodass Mose ausrufen lassen muss: Es ist genug! Bitte bringt nichts mehr!
Wo jeder etwas beiträgt, selbst zu dem größten Projekt, da wird es erfolgreich sein. In der Wüste mit kostbaren Materialien wie Gold, Silber, Erz, Akazienholz, Stoffen und besonderen Farben Gottes Haus zu bauen, erschient unvorstellbar und grenzt an ein Wunder. Aber ebenso wunder-voll ist die Beteiligung jedes Einzelnen. Da ist niemand zu unbedeutend und niemand hält habgierig an seiner Habe fest. Jeder gibt, was sein Herz ihm zeigt – und es ist mehr als genug!
Und jeder darf seine Fähigkeiten einbringen. Sei es beim Nähen der Stoffe, sei es bei den Goldschmiede- oder Erzarbeiten, jeder bekommt Weisheit von Gott und bringt sich ein. Eine Gesellschaft mit vielen Aufgaben braucht jeden einzelnen, vom handwerklich Begabten bis zum Mathematiker und Kalkulator oder Organisator. Und es braucht die Erledigung von Hintergrundaufgaben, wenn es einfach um die leibliche Versorgung der Arbeitenden geht, um Botengänge und vieles mehr.
In unseren Tagen wird ein jeder in unserer Gesellschaft aufgefordert, das Seine zum Eindämmen der Pandemie beizutragen, indem er und sie überwiegend zu Hause bleiben und Gemeinschaft meiden. Das ist wirklich jedem möglich, auch wenn es für den einen eine größere Herausforderung ist als für einen anderen, aber jeder kann diese „Leistung“ erbringen. Da ist es von Bedeutung, dass jeder sieht, wie wichtig er oder sie ist, wie es auf jeden und jede Einzelne ankommt.
Wenn wir auf das Ende unserer aktuellen Krise schauen, so dürfen wir darauf hoffen, dass wir dann aufrichtig sagen können: Wir haben es gemeinsam geschafft. Wir haben verstanden, dass wir alle eine große Gemeinschaft sind, alle Geschöpfe des einen Gottes, die durch IHN Brüder und Schwestern in dieser Welt sind. Nur in diesem Bewusstsein der Verbundenheit waren wir in der Lage, dieses Opfer der Isolation zu bringen, neue Fähigkeiten zu entdecken und kreative Ideen auszubrüten.
Am Ende der Opfer der Kinder Israel in der Wüste, die als Sklaven Ägypten verließen, steht das Zelt Gottes in ihrer Mitte. Es fing an mit der schmerzhaften Situation und endete im Glanz der sichtbaren Gegenwart Gottes in ihrer Mitte. Die sich vormals in der Unterdrückung von Gott verlassen fühlten, sind nun frei und erleben ihren Gott ganz nah.
Genauso möchte ich von hier und heute auf das – vielleicht noch ferne – Ende dieser Pandemie schauen und aus Gottes Wort die Hoffnung schöpfen, dass wir eine deutliche Veränderung unserer Gesellschaft erleben werden, die uns einander und unseren Gott erneuert wahrnehmen lässt, uns in Dankbarkeit und Mitmenschlichkeit führt. Ich halte an dieser Hoffnung fest, weil ich sicher bin, dass unser Gott größer ist als alle unsere Nöte, und dass ER genau weiß, was und wozu ER es über diese Erde kommen lässt. Weitere Gedanken dazu habe ich bereits zu Jesaja 26 geschrieben.

 

Die Wolke

 

Dies ist auch der Titel eines bekannten Jugendbuches von Gudrun Pausewang, doch ging es bei ihr um eine atomare Giftwolke.
In unserem Text erscheint nach dem Bau des Stiftszelt die Wolke Gottes über dem Heiligtum. Wir kennen diese Wolke bereits aus dem Bericht vom Zug durch das Schilfmeer. Gottes Wolke stellte sich zwischen das Volk Israel und die sie verfolgenden Ägypter. Für die Ägypter wurde sie zur Gefahr, den Israeliten rettete sie das Leben.
Auf dem Berg Sinai ließ sich Gottes Wolke nieder, während Gott mit Mose sprach. Daran werde ich immer erinnert, wenn ich in der Natur einen Berg sehe, auf dem eine Wolke liegt. Es fasziniert mich und löst tiefe Freude in mir aus. Gott lässt sich zu uns herab.
In der Stiftshütte nimmt Gott durch die Wolke Seine Wohnung ein, sodass selbst Mose diesen Raum nicht mehr betreten kann. Später erlebt König Salomo diese dichte Gegenwart Gottes im ersten Tempel, den er anstelle seines Vaters David für Gott bauen durfte.
Gottes Präsenz ist sichtbar und spürbar. Für die Israeliten bedeutete das zusätzlich, dass sie nur dann weiterziehen durften, wenn sich die Wolke vom Zelt erhob. Ohne dieses Zeichen mussten sie ausharren, egal wie öde es an dem Wüstenort gewesen sein mag.
Wieder eine Parallele zu uns heute: Wir sind nicht die einzigen, die ausharren müssen, die Geduld haben müssen, bis das Zeichen zum Aufbruch kommt, das uns wieder in die Freiheit der Begegnungen führt. Es wird mit Sicherheit kommen!
Aber ich habe mir noch eine andere Frage gestellt: Warum erscheint Gott in der Wolke?
Das hebräische Wort für Wolke heißt עָנָן = anan. Ein verwandtes Wort ist עָנָה = ana, welches übersetzt heißt: er antwortete. Die Wolke hat also sprachlich etwas mit der Antwort zu tun, die Gott den Menschen gibt, die zu IHM rufen, IHN bitten und fragen. Darum sprach Gott mit Mose in der Wolke der Antwort. Darum begleitet ER das Volk auf dem Weg mit Seiner stets gegenwärtigen Antwort. Wenn Seine Kinder fragen und sich für die göttliche Antwort öffnen, werden sie diese bekommen.
Die Frage an die damalige Generation wie an uns heute ist, ob wir fragende Herzen haben, die offen sind auch für eine Antwort, die uns nicht immer sofort verständlich, vielleicht auch unbequem ist. Jede Wolke, die das lebenspendende Wasser in sich trägt, kann uns ein Zeichen, eine Erinnerung sein, dass Gott uns antworten möchte und antworten wird.
Denken wir daran, dass die Wolke ebenso ein verwirrender Nebel sein kann oder eine Atomwolke. Die Ägypter hatten aus den zehn Plagen nicht anhaltend gelernt. Nachdem sie ihre Erstgeborenen tot auffanden, wollten sie die Israeliten schnellstmöglich loswerden und beschenkten sie sogar. Aber dann überkam sie wieder der Hochmut. Die billigen Arbeitskräfte waren entkommen. Und so ließ Pharao in seinem Wahn seine Armee ausziehen, um die Sklaven zurückzuholen. Hatte er nicht verstanden, dass er nicht gegen seine hebräischen Sklaven kämpfte, sondern dass er es mit dem höchsten Gott persönlich zu tun hatte? Sein Hochmut ließ Gottes Wolke für sein Heer zur Falle werden und das Wasser des Schilfmeers zum Grab.
Mögen wir nur nicht herrschsüchtig und besserwisserisch sein wie die Ägypter, damit uns Gottes Wolke zum segnenden Begleiter und zur Antwort wird.

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