Sonntag, 31. Mai 2020
1Und als der Tag der Pfingsten [Schawuot שָׁבֻעוֺת] sich erfüllte, waren sie alle einmütig beisammen. 2Und es entstand plötzlich vom Himmel her ein Brausen wie von einem daherfahrenden gewaltigen Wind [ru’ach רוּחַ] und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. 3Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich zerteilten und sich auf jeden von ihnen setzten. 4Und sie wurden alle vom Heiligen Geist [Ruach haKodesch רוּחַ הַקֹּדֶשׁ] erfüllt und fingen an, in anderen Sprachen zu reden, wie der Geist es ihnen auszusprechen gab. 5Es wohnten aber in Jerusalem Juden, gottesfürchtige Männer aus allen Heidenvölkern unter dem Himmel. 6Als nun dieses Getöse entstand, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt; denn jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. 7Sie entsetzten sich aber alle, verwunderten sich und sprachen zueinander: Siehe, sind diese, die da reden, nicht alle Galiläer? 8Wieso hören wir sie dann jeder in unserer eigenen Sprache, in der wir geboren wurden? 9Parther und Meder und Elamiter und wir Bewohner von Mesopotamien, Judäa und Kappadocien, Pontus und Asia; 10Phrygien und Pamphylien, Ägypten und von den Gegenden Libyens bei Kyrene, und die hier weilenden Römer, Juden und Proselyten, 11Kreter und Araber — wir hören sie in unseren Sprachen die großen Taten Gottes verkünden! 12Und sie entsetzten sich alle und gerieten in Verlegenheit und sprachen einer zum anderen: Was soll das wohl sein?13Andere aber spotteten und sprachen: Sie sind voll süßen Weines! 14Da trat Petrus zusammen mit den Elf auf, erhob seine Stimme und sprach zu ihnen: Ihr Männer von Judäa und ihr alle, die ihr in Jerusalem wohnt, das sollt ihr wissen, und nun hört auf meine Worte! 15Denn diese sind nicht berauscht, wie ihr meint; es ist ja erst die dritte Stunde des Tages; 16sondern dies ist es, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist:17»Und es wird geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da werde ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter werden weissagen, und eure jungen Männer werden Gesichtesehen, und eure Ältesten werden Träume haben; 18ja, auch über meine Knechte und über meine Mägde werde ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie werden weissagen. 19Und ich will Wunder tun oben am Himmel und Zeichen unten auf Erden, Blut und Feuer und Rauchdampf; 20die Sonne wird sich in Finsternis verwandeln und der Mond in Blut, ehe der große und herrliche Tag des Herrn kommt. 21Und es soll geschehen: Jeder, der den Namen des Ewigen anruft, wird errettet werden.« (Joel 3,1-5)
- Pfingsten und Schawuot
- Pfingsten im Neuen Testament
- Pfingsten als Sprach- und Zahlenwunder
- Die Predigt des Petrus
- Die politische Lage am Pfingstfest
- Ausblick auf die Auswirkungen von Pfingsten
Pfingsten und Schawuot
In vielen Übersetzungen der Apostelgeschichte ist vom Pfingstfest die Rede, sodass ich als Jugendliche davon ausging, es sei selbstverständlich das christliche Pfingstfest gemeint, das dann ja in seinem ersten Geschehen beschrieben wird. So denken heute hoffentlich nicht mehr viele Bibelleser/innen.
Pfingsten bedeutet eigentlich nur eine Zahl, nämlich die Zahl 50 [Pentecoste (griech./ lat.) = Pfingsten = der 50. Tag]. Sein Ursprung findet sich im jüdischen Fest, das sich 50 Tage nach dem Auszug aus Ägypten am Berg Sinai ereignete. 7×7 Wochen soll das jüdische Volk bis heute zählen und den 50. Tag als Fest begehen, an dem sich Gott auf dem Berg offenbarte und Seinem Volk die Tora übergab. Gott beschenkte Sein Volk mit diesem erneuerten Bund, der nun durch Sein eigenes Wort gefestigt wurde und Gestalt annehmen durfte.
In Ex.19+20 ist dieses spannende Ereignis nachzulesen. Gott hat einen Plan mit dem von IHM befreiten und erlösten Volk.
Ex.19,6 ihr aber, ihr sollt mir werden ein Königreich von Priestern, ein heiliger Stamm
Um das zu erreichen, braucht das Volk die Weisungen, die Gott dem ganzen Volk mitteilen will. Darum bereiten sich alle gut vor durch kultische Reinigungen und Enthaltsamkeit, um sich dieser Begegnung stellen zu können. Am dritten Tag wird diese heilige Begegnung stattfinden. Vier Mal wird dieser dritte Tag im 19. Kapitel genannt.
Ex. 19,11 daß sie bereit seien auf den dritten Tag, denn: am dritten Tag fährt ER vor den Augen alles Volks auf den Berg Ssinai herab.
Gott lässt die Kinder Israel als erstes die zehn Worte (Dekalog) hören. Sie zeigen dem Volk, was sie alles tun werden, wenn sie verstanden haben, dass Gott selbst es war, der sie aus der Knechtschaft erlöste. Um diese Rede Gottes und Seine Worte (nicht: Gebote) zu verstehen, empfehle ich die Toralesung für Schawu’ot, die den Namen „Jitro“ trägt und zu der ich hier den Link anbiete. Es ist für christliche Leser wichtig, zu verstehen, dass dieses Zehnwort ein Ausdruck der Beziehung zwischen Gott und Seinem Volk ist. Es geht eben nicht darum, aus Furcht vor einer Gottheit Gebote einzuhalten, sondern aus Dank für die Errettung das Leben auch zum Mitmenschen mit Respekt und Liebe zu gestalten.
Ex. 20,18 וְכָל הָעָם רֹאִים אֶת הַקּוֹלֹת וְאֶת הַלַּפִּידִם וְאֵת קוֹל הַשֹּׁפָר וְאֶת הָהָר עָשֵׁן
we chol ha’Am ro’im et haKolot we’et haLapidim we’et Kol haSchofar we’et haHar aschen
Alles Volk aber, sie sahn das Donnerschallen, das Fackelngeleucht, den Schall des Schofar, den rauchenden Berg, …
Was sich an diesem Berg ereignet, ist einzigartig: Das Volk sieht, was man eigentlich nur hören kann: das Donnerschallen und den Schofarton! Die Sinne werden vertauscht. Die Rabbiner interpretieren, dass es zwischen den Zeilen dieser Botschaft heißt, dass das zu Sehende nun gehört wird. Gott offenbart sich auf wunder-bare Weise bei diesem Erscheinen. Mit diesem Sehen und Hören wird das Gewöhnliche transzendiert, denn das Sehen und Hören am Sinai bedeutet in der jüdischen Tradition, dass nicht mehr nur das Äußere wahrgenommen wird, sondern das Innere der vier Elemente (vier = die gesamte Materialität) den Anwesenden deutlich wurde. Wenn Gott sich offenbart, hat ER auch die Macht über die Grenzen der Naturgesetze hinwegzuschreiten. Darin ist Gott „Hebräer“ = Iwri עִבְרִי, was vom hebr. Verb awar עָבַר kommt und bedeutet: Grenzen überschreiten. Gott steht über Seiner Schöpfung.
Pfingsten im Neuen Testament
Das jüdische Schawu’ot-Fest hat begonnen. Es handelt sich um das zweite der drei Wallfahrtsfeste, sodass sich viele jüdische Pilger in Jerusalem aufhielten. Die Stadt ist voller Menschen. Wir erfahren jedoch auch von Juden aus dem Ausland, die in Jerusalem leben und somit wohl zu den Rückkehrern aus dem Exil gehören. Jerusalem ist und war eine internationale Stadt. Auch ohne den Tempel kamen in den letzten Jahren viele Juden in ihre neue Heimat zurück, sodass Juden aus vielen Nationen und Sprachen im Staat Israel anzutreffen sind.
Es ist die dritte Stunde des Tages, also morgens um neun Uhr, als ein Brausen vom Himmel und Feuerzungen im Haus der Schüler (Nachfolger) Jesu wahrnehmbar werden. Sie beginnen in anderen Sprachen und damit für die ausländischen Juden verständlich von den großen Taten Gottes zu sprechen.
Dieses Ereignis enthält eindeutige Bezüge zum ersten Schawu’ot-Fest. Die Zahl drei spielt eine große Rolle, denn sie deutet die Verwandlung an, die ansteht. Drei Tage bereiteten sich die Juden auf das Ereignis am Sinai vor, die dritte Stunde an diesem Gedenkfest ist die Stunde des großen Ereignisses, auf das Jesus seine Schüler vorbereitet hatte.
Was sich am Berg im Großformat abspielte, wiederholt sich jetzt in kleinerer Variante, angepasst auf das Haus, in dem die Zwölf versammelt sind: Ein Brausen und Feuerzungen sind wahrnehmbar.
Das hebräische Wort für Wind und Geist sind identisch: Ru’ach. Der Wind braust über das Haus und der Geist Gottes erfüllt die Versammelten.
Der Geist Gottes heißt im hebräischen Ruach haKodesch רוּחַ הַקֹּדֶשׁ = Geist[in] der Heiligung, denn Ru’ach ist weiblich. Diese Geistkraft, wie es die „Bibel in gerechter Sprache“ übersetzt, ist ein Geist, dessen Aufgabe es ist, die von „ihr“ Begeisteten zu heiligen. Diese Kraft geht von Gott aus, denn sie ist Gottes Sprachwerkzeug. Wo immer Tora gelesen und gelernt wird, wo immer gebetet und auf Gott gehört wird, erfahren Menschen diesen Geist der Heiligung, der die Herzen berührt und Gott nahe bringt.
Die Juden aus den Völkern hören durch diese vielen Sprachen von Gottes Taten. Es scheint mir interessant zu sein, dass die Jünger in diesem Sprachwunder nicht von Jesus sprechen, sondern von Gott. Die Juden aus den Völkern hören von ihrem jüdischen Gott! Brauchen sie die Erinnerung, weil sie in der Fremde vielleicht einiges vergessen haben oder in der Fremde der Glaube nachließ? Die Botschaft von Schawu’ot erinnert sie an die großen Taten Gottes, vielleicht auch die vom Sinai und dem vorausgehenden Befreiungshandeln Gottes. Vielleicht erlebten sie mit der Rückkehr aus dem Exil Ähnliches.
Pfingsten als Sprach- und Zahlenwunder
Lukas berichtet dieses Pfingstwunder als Sprachwunder. 15 Völker zählt er auf, die die Botschaft Gottes in ihrer eigenen Muttersprache hören und verstehen können. Damit berichtet Lukas von einer Korrektur der Sprachverwirrung in Gen.11. Die Menschen sprachen eine einzige Sprache, die sie jedoch nur dazu benutzten, sich über Gott zu erheben. Sie planten gemeinsam den Bau einer Stadt und eines Turms, mit dem sie zu Gott vorstoßen wollten. Hochmut bemächtigte sich ihrer. Statt Gottes Namen wollen sie ihren eigenen Namen groß machen. Mit Ironie lesen wir, wie Gott hinabsteigt, um sich dieses Gebilde anzusehen. Wie klein muss es doch immer noch gewesen sein, dass Gott „hinabsteigen“ muss! Aber ER nimmt ihren Größenwahn ernst und entscheidet, ihre Sprache zu verwirren: nawla – נָבְלָה = wir werden durcheinander bringen. Darum nannte man die Stadt Bawel – בָּבֶל = Babel.
Liest man das hebräische Wort Bawel rückwärts, so entsteht lewaw – לבב = bibelhebr. Herz. Man könnte sagen, dass die Herzen der Menschen von Babel so durcheinander waren, so abgerückt vom lebendigen Gott, dass dies zur Verwirrung der Sprachen führen musste.
Pfingsten = Schawu‘ot aber spricht Gott und heilt das Sprachenchaos zumindest für den Moment. So können aus Bawel wieder hörende Herzen werden, die sich Gott zuwenden und Gottes Wort vom Sinai neu verstehen.
Die Geschichte von Pfingsten lässt sich auch in den Zahlen erzählen, wie ich es in der letzten Toralesung erklärt habe. In Gen. 10 sind die Nachfahren der Söhne Noahs aufgelistet. Diese 70 Menschen gelten als die Stammväter der 70 Völker und Sprachen.
Der Zahlenwert des Wortes Babel ist 34. Die Zahlen 3 und 4 können für sich gedeutet werden als ein Hinweis auf eine Veränderung, Verwandlung (3) in dieser materiellen Welt (4).
Die Quersumme aus 34 ergibt 7. Sieben ist die Zahl der Fülle in dieser Welt, die ihre Fülle und Vollkommenheit im Schabbat erhielt. In der Anzahl der genannten Völker in Jerusalem wird die Zahl 7 verdoppelt (2×7=14) Dazu wird die Eins addiert, der EINE Gott, der die Einheit der Versprengten wiederherstellt.
In Apg. 1,15 ist eine Gruppe von etwa 120 Menschen versammelt. Warum wird diese Zahl genannt, wenn die genaue Anzahl nicht bekannt ist? Laut Kontext versammeln sie sich in einem Obergemach, wo sicher auch die genaue Anzahl der Menschen gezählt werden kann. Beim Fischfang konnten auch 153 Fische gezählt werden. Die 120 nimmt Bezug auf die 12 Stämme Israels. Weiß man, dass zum Gebet eine Mindestzahl von 10 Männern in der Synagoge zusammen kommen muss, so ist die kleinstmögliche Anzahl jüdischer Beter 120. Die erste große Versammlung der jüdischen Rechtssprecher unter Esra und Nehemia nach der Rückkehr aus dem Exil, die Knesset haGdola, bestand aus 120 Gelehrten. Daraus entwickelten sich die 120 Sitze in der Knesset des modernen Staates Israel.
Am Ende der Predigt des Petrus lassen sich 3000 Menschen taufen. Wirklich 3000? Keiner mehr und keiner weniger? Daraus ergibt sich nun eine Gruppe von 3120 Gläubigen. Nimmt man den Zahlenwert des Gottesnamens JHWH = 26×120, so ist das Ergebnis 3120
Wir brauchen diese Zahlen also, damit sie uns erzählen, wie durch das Wirken des EINEN eine Gemeinschaft entsteht.
Die Predigt des Petrus
Es ist kaum zu glauben, dass dieser Petrus, der Jesus feige verleugnet hatte, nun vor den Versammelten aus den Völkern aufsteht und dieses außergewöhnliche Ereignis erklärt.
„Petrus zusammen mit den Elf“, das ist ein sprechendes Bild, welches an ein Ereignis in der Tora erinnert und sich in der Pessach-Haggada wiederfindet: Josef und seine elf Brüder. Einer steht inmitten der Elf. Erst steht er als Garbe elf Garben gegenüber, als Stern elf Sternen. Er gilt als Spinner und Träumer. Später in der Realität steht er als Vizekönig seinen elf Brüdern gegenüber, die Nahrung in der Hungersnot suchen. Einer steht in der Position, die ihn lächerlich und geschwächt aussehen lässt, doch er wird zum „Anführer“. Gott rüstet ihn mit einer ungeahnten Stärke aus.
Petrus weiß, dass alles, was geschieht, seinen Bezug zur Tora und zur Hebräischen Bibel (Tanach) haben muss. Darum zitiert er als frommer Jude sofort den Propheten Joel, der die Ausgießung des Geistes prophezeite. Jesus hatte auf die Zeichen am Himmel Bezug genommen, als er die Ankunft des Menschensohnes in den letzten Tagen voraussagte (Lk.21,25) Für Petrus erfüllt sich mit den Zeichen des Brausens und des Feuers vom Himmel die Ausgießung des Geistes Gottes auf alle Menschen. Im gesamten Tanach ist die Wirkung des Geistes Gottes bekannt. Der Geist Gottes befähigte die Bauarbeiter am Stiftszelt (Ex.35,31). Josua, der Nachfolger des Mose, wurde durch Handauflegung seines Lehrers mit dem Geist der Weisheit erfüllt (Dtn. 34,9). Gottes Geist erfüllte die Richter für ihren Dienst. Im 1. Buch Samuel lesen wir vom Geist Gottes, der über David kam bei seiner Salbung, der aber auch Saul so begeistete, dass man meinte, er sei unter die Künder (= Propheten) gegangen. Das sind nur wenige Beispiele für die Präsenz des Geistes Gottes, die der Jude Petrus sehr wohl kannte. Für ihn zeigt sich in dieser Situation, dass der Geist nicht mehr nur einzelne begeistet, sondern viele gleichzeitig, die ihrerseits einer Menge die Botschaft Gottes verkünden. Und so zitiert er den Propheten Joel. Die Verbindung zu den Worten Jesu mag darin bestehen, dass Jesu Jünger nach der Himmelfahrt in nächster Zukunft seine Rückkehr erwarteten. So mag Petrus beides miteinander verbunden haben: Der Geist Gottes wird ausgegossen und die weiteren Zeichen werden nicht lange ausbleiben, denn Jesus musste ja selber in den nächsten Tagen zurückkehren. Das war das Versprechen des Engels bei der Himmelfahrt.
Warum spricht Petrus über David, der gestorben, aber nicht zu Gott aufgefahren sei? Dabei geht es nicht nur um das passende Zitat aus den Psalmen 16 und 110, sondern darum, dass in der jüdischen Tradition König David im Alter von 70 Jahren an Schawu’ot starb.
Petrus kreiert seine Auslegung, wie es im Judentum möglich ist, da die Tora in dieser Tradition über 70 Gesichter verfügt. Keine Auslegung ist in Stein gemeißelt, sondern ergänzend zu anderen Auslegungen. So besagt die jüdische Auslegung zu Ps.110,1 «Der Herr sprach zu meinem Herrn: / Setze dich zu meiner Rechten, bis ich hinlege deine Feinde / als Schemel für deine Füße!», dass David in dem angesprochenen Herrn Melchisedek (= Mein König ist Gerechtigkeit, Gen.14) sieht, den Prototypen des wahren Königs, an dem er sich ein Vorbild nimmt. David selber ist zu jener Zeit noch nicht König über ganz Israel. Er selbst untersteht noch König Saul, der somit sein Herr ist und ebenfalls gemeint sein könnte.
Die Übersetzung des Zitats aus Ps. 16 in Apg.2,27 muss korrigiert werden, wo es heißt:
denn du wirst meine Seele nicht im Totenreich lassen / und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Verwesung sieht.
כִּי לֹא תַעֲזֹב נַפְשִׁי לִשְׁאוֹל לֹא תִתֵּן חֲסִידְךָ לִרְאוֹת שָׁחַת
ki lo ta’asow nafschi lesche’ol lo titen chasdecha lir’ot schachat
Übersetzt heißt es: denn du wirst meine Seele nicht im Totenreich lassen und wirst nicht zulassen, dass dein Wohltätiger den Abgrund sieht.
David sieht sich als Mann, der wohltätig handelt und nicht zu den Verbrechern zu rechnen sein wird, die in den Abgrund stürzen werden. Seine Beziehung zu Gott ist durch Gebet und Buße so gefestigt, dass er auf das Ende seines Lebens mit Zuversicht schauen kann. Alles wird ihm zu Freude und Wonne werden.
Der Bezug zu Jesus ist nicht der, dass er nicht innerhalb der Tage seines Todes die Verwesung nicht sah, sondern dass er nicht im Tod blieb. Elia sah die Verwesung nicht, denn der wurde direkt von Gott mittels seiner Himmelfahrt im feurigen Wagen zu Gott geholt.
Petrus nutzt also diese seine Predigt, die über unseren Predigttext hinausreicht, zu einem Gedenken im großen, jüdischen Kontext und in der Kunst der jüdischen Auslegung.
Die politische Lage am Pfingstfest
In dieser Predigt kann die große Not der damaligen Gesellschaft in Jerusalem herausgehört werden. Jesu Nachfolger und das ganze jüdische Volk litten unter der Gewaltherrschaft der Römer. Einige Juden kollaborierten mit den Bedrückern, um sich ein einigermaßen annehmbares Leben zu verschaffen. Diese waren dazu bereit gewesen, Jesus an die Römer auszuliefern, damit es nicht zu erneuten Unruhen käme, von denen es schon genug in der Vorgeschichte gab. Petrus stellt diese Verräter in seiner Predigt deutlich an den Pranger. Durch dieses besondere Geschehen an ihrem Torafest müssen sie doch erkennen, wie sehr sie sich irrten. Jesus war auferweckt worden und in den Himmel aufgefahren. Gott hatte das Wirken Jesu also beglaubigt. Nun konnte keiner mehr seine Fehleinschätzung leugnen, als es darum ging, Jesus auszuliefern.
Petrus erreicht Buße mit seiner Predigt. Diese Bußbereitschaft prägt die Zeit des Neuen Testaments. Wir kennen sie bereits von Johannes, dem Täufer. Er predigte eine Taufe zur Buße, wie sie jetzt auch Petrus anordnet.
Das Eintauchen in der Mikwe, dem jüdischen Ritualbad, hat seinen Ursprung ebenfalls in der Tora. Im Buch Levitikus gibt es viele Hinweise, wann Reinigungen zu geschehen haben. Alles, was nach damaligem Verständnis rituell unrein war, verlangte nach dieser Reinigung. Dazu gehörte auch die Reinigung nach Aussatz, der in Verbindung mit sündhaftem Reden gesehen wird.
Die Zeit der römischen Unterdrückung rief solche Rituale in besonderer Weise auf den Plan. So zogen sich beispielsweise die Essener in die Wüste zurück, wo sie sich häufig untertauchten, um durch ihre Abgeschiedenheit und ihr bußfertiges Leben die Erlösung aus der Unterdrückung zu bewirken. Dagegen zogen die Zeloten und Sikkarier den Kampf vor. Petrus, der Jesus mit dem Schwert verteidigen wollte, wird zu ihnen gerechnet. Die pharisäische Bewegung versuchte, durch die Auslegung der Tora Gottes Handeln zu verstehen. In der Gesellschaft aber wurde der Erlöser erwartet, der die Römer besiegte. Die Prophetin Hanna sprach im Tempel über den neugeborenen Jesus zu allen, die auf Israels Erlösung warten (Lk.2,38). Am Ende von Jesu Leben ist die Enttäuschung der Jünger groß.
Lk.24,21 Wir aber hofften, er sei der, welcher Israel erlösen sollte
Von Jesus wird politisches Handeln, politische Befreiung erwartet, welche ausbleibt. Damit die Unterdrückung endet, müssen umso mehr Umkehr und Buße getan werden. Das geschieht in Form von Eintauchung auf den hin, der vorbildlich das Leben mit Gott führte. Nach seinem Vorbild muss es weitergehen. Wer sich auf diesen Jesus beruft, erfährt Vergebung und Erneuerung seiner Beziehung zu Gott.
Ausblick auf die Auswirkungen von Pfingsten
Am Ende unseres Predigtextes steht das Wort des Propheten Joel: Jeder, der den Namen des Ewigen anruft, wird errettet werden.
Gott bleibt auch hier der EINE, an den sich die Gläubigen in ihren Gebeten wenden. Errettung erfährt jeder, der den Namen des Ewigen anruft, wie Jesus es am Kreuz tat, als er den 22. Psalm betete und mit der Gewissheit starb, dass Gott alles zu einem guten Ende führt.
Ps.22,32 Sie werden kommen und seine Gerechtigkeit verkündigen dem Volk, das geboren wird, dass er es vollbracht hat.
3000 ließen sich „taufen“, sprich „eintauchen“. Wieder steht die Drei mit der Kraft zur Transformation im Mittelpunkt. Die Wirkung des Geistes Gottes, der Gottes Volk neu heiligt, wird zur Erlösung führen, zu einem neuen Verständnis von Gott durch den, der Gottes Namen in sich trägt: Jehoschua von לְהוֹשִׁיעַ (lehoschia) = Gott wird retten; יֶשַׁוע (jeschua‘) = Rettung, Heil.
Die Taufe war keine Taufe ins Christentum, denn diese Predigt des Petrus richtete sich an Juden. Die Erwartung eines Gesalbten = Messias, der in den letzten Tagen die endgültige Erlösung bringen wird, ist ja eine durch und durch jüdische. Und so war es das Anliegen des Petrus, die Juden in Jerusalem, die Zeugen des Geistwirkens Gottes waren, vom Gekommensein dieses Messias zu überzeugen. Nirgends lässt Petrus diesen Messias zu Gott werden, wie sogar David Stern in seinem Kommentar zum Jüdischen Neuen Testament bestätigt. Pfingsten ist ein innerjüdisches Geschehen, wie es die Inhalte aller vier Evangelien sind. Erst Paulus erhält den Auftrag, die jüdische Lehre Jesu an die Völker weiterzugeben, denn das Anliegen Gottes ist von Anbeginn der Schrift, die Völker zu gewinnen.
Die „Eingetauchten“ bleiben Juden. Sie verbringen die Zeit im Tempel, was sie nur können, wenn sie weiterhin der jüdischen Lehre folgen.
Sie brechen das Brot in den Häusern, wie es bis heute in jedem jüdischen Haus gehalten wird. Jede Mahlzeit beginnt mit dem Brechen des Brotes unter dem Segenswort:
Baruch atta adonai elohenu, melech ha-olam, ha-mozi lechem min ha aretz.
בָּרוּךְ אַתָּה יְ-יָ אֱ-לֹהֹיֵונ מֶלֶ הָעוָעלֹ הַמַוּיא לֶחֶם מִן הָאָרָץ
Gepriesen seist du, Ewiger, unser G’tt; du regierst die Welt. Du lässt die Erde Brot hervorbringen.
An dieser Handlung war der gläubige Jude Jesus zu erkennen, auch nach seiner Auferweckung. Seine Jünger taten es ihm gleich, nicht zu essen, ohne den vorherigen Segen zu sprechen. Das mag bei Juden aus Galiläa, die als weniger fromm und als Mischvolk gering geachtet waren, vielleicht in Vergessenheit geraten sein. Der Lehrer Jesus aber war in allem jüdischen Wissen und Handeln ein Vorbild.
Mögen wir alle an Schawu’ot (29./30.5.2020) und Pfingsten (31.5./1.6.2020) Gottes Wirken wunderbar erleben.