Schabbat 29. Ijar 5780; 23. Mai 2020; 44. Omer

Die Wüste ist kein stiller Ort

Der heutige Wochenabschnitt ist der Beginn des 4. Buches Mose und trägt im Hebräischen den Namen des gesamten Buches. Bamidbar heißt auf Deutsch:  In der Wüste. Zu Beginn der letztwöchigen Toralesung sprach Gott zu Mose auf dem Berg Sinai statt, das 4. Buch Mose beginnt mit dem Gespräch Gottes mit Mose in der Wüste Sinai = bamidbar sinai בְּמִדְבַּר סִינַי im Stiftszelt. Es ist das zweite Jahr nach dem Auszug aus Ägypten, am ersten Tag des zweiten Monats.
Über die Bedeutung des Berges konnte ich in der letzten Woche einiges schreiben. Auch die Wüste ist ein bedeutungsvoller Ort. Es ist ein Ort der Einsamkeit, der Öde, der Entbehrung. Natürlich gibt es auch in der Wüste eine faszinierende Lebenswelt, die sich in der Nacht oder nach seltenen Regenfällen zeigt. Als Mensch jedoch in der Wüste leben zu müssen, ist nicht unbedingt eine attraktive Vorstellung.
Schauen wir uns jedoch einige Begebenheiten an, die sich in der Wüste ereigneten. Hagar floh als Schwangere vor Sara in die Wüste (Gen.16). Dort redete Gott mit ihr und sie nannte den Brunnen, an dem Gott sie traf: Brunnen des Lebendigen, der mich sieht.   
Später wurde Hagar zusammen mit ihrem Sohn Ismael von Abraham fortgeschickt (Gen.21). Unterwegs fehlte beiden Wasser, weil sie sich in der Wüste bei Beer-Schewa verlaufen hatten und das Wasser im Schlauch aufgebraucht war. Hagar fürchtete, mitansehen zu müssen, wie ihr Sohn dort verdurstete, aber Gott hörte die Stimme des Knaben – die gar nicht erwähnt wird – und mit einem Mal sah sie die rettende Quelle.
Josef wurde von seinen Brüdern in eine Zisterne in der Wüste geworfen (Gen.37), von wo Gott seinen Weg nach Ägypten führte. Dort wurde er völlig unerwartet Vizekönig des Pharao und rettete dadurch zahllose Menschenleben.
Mose wurde von Gott am brennenden Dornbusch in der Wüste berufen (Ex.3+4). Von hier aus begann die Rettungsaktion Exodus.
Für König David bot die Wüste nicht selten einen Zufluchtsort vor den Verfolgungen König Sauls (1.Sam.23)
Elija ging nach seinem großen Sieg über die Baalspriester in die Wüste, setzte sich unter einen Ginsterstrauch und wollte sterben, weil er sich der Verfolgung der bösen Königin Isebel ausgesetzt sah (1.Kö.19). Gott aber sandte Seinen Boten, stärkte Elija und redete mit ihm, sodass er seinen Weg fortsetzen konnte.
Midbar מִדְבַּר = Wüste wird ohne Vokale ebenso geschrieben wie das Wort מדבר medaber (mdbr) = sprechen. Somit ergibt sich die Bedeutung einer „Sprechstätte“. Die Wüste ist ein Ort, den Gott wählt, um zu sprechen, denn hier gibt es keine Ablenkung, keine Störung.
Hos.2,16 Darum doch werde einst ich sie locken, ich lasse sie gehn in die Wüste, da rede ich ihr zu Herzen. וְהֹלַכְתִּיהָ הַמִּדְבָּר וְדִבַּרְתִּי עַל לִבָּהּ  weholchatiha hamidbar wedibarti al liba.
Nach der Untreue der Kinder Israel sprach Gott zum Propheten Hosea, dass ER die geliebte, aber untreue Tochter Zion eines Tages in die Wüste locken wird, um dort zu ihrem Herzen zu sprechen. Das soll ihr den Weg zur Umkehr und zu Gott ermöglichen.
Von Anbeginn spricht Gott mit Israel in der Wüste, erzieht Sein Volk in der Wüste und lässt es in dieser Kargheit Seine ganze Liebe und wunder-volle Versorgung erleben. Die Wüste als Ort des Sprechens und des Hörens, der Erfahrung, des Lernens. Das Leben in der Wüste wird einen derart bleibenden Eindruck hinterlassen, dass es hineinführt in das Sukkotfest, das Laubhüttenfest. Die Jahre in der Wüste in einfachsten Laubhütten waren Jahre des Umgebenseins von Gott und Seiner unverbrüchlichen Treue.

Ein Buch der Zahlen

Das 4. Buch Mose heißt auf Latein das Buch Numeri = Zahlen, weil es mit einer Reihe von Zahlen beginnt.
Gottes Auftrag lautet, das Volk zu zählen und zu mustern. Männer ab 20 Jahren sollen namentlich erfasst werden, und zwar nach ihrer Herkunft, also nach ihren Vaterhäusern. Und so lesen wir eine Menge Zahlen in dieser Parascha.
Warum sind diese Zahlen so wichtig? Zum einen können wir in vielen Sprachen, auch im Deutschen, heraushören, dass „zählen“ und „erzählen“ zusammenhängen. Wer zählt, erzählt. Im Hebräischen ist dies insofern bedeutender, da jede Zahl mit Buchstaben geschrieben werden kann und somit wiederum jedes Wort aus Zahlen besteht. Jede der hier berichteten Zahlen sprechen zu lassen, würde den Text sprengen. Wir können jedoch bereits im ersten Vers des Buches Numeri unschwer erkennen, dass die Zeit gezählt wird. Gott redet im zweiten Jahr nach dem Auszug aus Ägypten am ersten des zweiten Monats. Es ist nach dem ersten Pessachfest, das Israel in der Wüste feierte, wie wir es im 9. Kap. erfahren werden. In der Zwischenzeit wurde das Stiftszelt erstellt. Die Wüste war bereits ein Ort der wichtigsten Anweisungen für das abgesonderte Volk Gottes, das sich mittels dieses Heiligtums in die Beziehung mit Gott einüben konnte. Und die Wüste war ein Ort der Kreativität, in der das transportable Heiligtum erbaut werden konnte. Im 3. Kapitel der Lesung gib es einen Rückblick auf die Einweihung, als die Söhne Aarons starben, weil sie in ihrem Übereifer das verbotene Feuer brachten.
Der zweite Monat ist angebrochen. Der EINE redet am ersten des zweiten Monats. Dieser zweite Monat, gut ein Jahr nach dem Auszug aus dem Sklavendienst, ist ein Hinweis auf die Polarität, in die das Volk geraten wird. Nun gilt es, die Verantwortung vor Gott mit allem Gehörten zu leben. Nun gilt es, in der unwirtlichen Wüste DEM zu vertrauen, der dieses Volk aus Pharaos Hand errettete und dafür sogar das Meer spaltete. Diese Spaltung, eine Teilung in zwei Hälften, blieb ein polares Erleben bis in die heutige Pessachliturgie, denn dem jüdischen Volk rettete sie das Leben, den von einem machtbesessenen Pharao befehligten Ägyptern kostete sie das Leben.
Zwei-fel werden das Volk durch die Wüste begleiten, wie wir es aus zahlreichen Geschichten der Tora bereits kennen und die uns in den nächsten Wochen begegnen werden. Schon diese Zählung erzählt uns etwas. Es ist eine Zählung, die eine Zäsur markiert: die Zeit nach der Erlösung aus Ägypten.
Das Volk wird nun zum wiederholten Male gezählt: beim Auszug aus Ägypten, bei der Errichtung des Stiftszeltes und jetzt im zweiten Jahr nach dem Auszug. Laut Raschi handelt es sich bei diesen Zählungen um die Entwicklungsstufen des Volkes, das zuerst aus Sklaven bestand, dann durch Gott in den Dienst gerufen wurde und nun erstmals mit eigenen Handlungen den Dienst im Heiligtum übernimmt.[1]
Die Idee des Zählens ist, dass Gott Sein Volk so sehr liebt, dass ER mit diesen Zählungen zum Ausdruck bringt, wie wichtig es IHM ist. Ebenso drückt diese Art der Zählung die Bedeutung der Familie aus, wie es der Lubawitscher Rabbi in Bezug auf V2 ausdrückte: „Um die Zahl der Menschen in jedem Stamm zu ermitteln, wurden zuerst die Familien gezählt, dann die Mitglieder jeder Familie. Das zeigt uns, wie wichtig die Familie ist. Die Existenz des jüdischen Volkes gründet auf jeder einzelnen Familie und auf deren Verhalten.“[2]

Nicht nur Zahlen, auch Namen erzählen

Darum erfahren wir nicht nur beeindruckende Zahlen, sondern auch Namen. Die ersten, die namentlich genannt werden, sind die Männer aus jedem der 12 Stämme, welche Mose bei der Zählung unterstützen sollen.
Aus dem Stamm Ruben wird ihn Elizur unterstützen, Sohn von Schedei’ur. Hier erzählen uns die Namen Geschichten. Elizur = Mein Gott ist Fels, der Mann weiß, auf wen er sich verlässt. Sein Vater heißt: Schedei’ur = mein brennender Gott. Elizur bekam diese Gewissheit von seinem Vater, der Gott als lichterfüllt, brennend erfuhr. Auf diesen Mann, der auf Gott als seinem Felsen gegründet ist, wird man sich verlassen können.
Aus dem Stamm Simeon wird Schelumiel = Gott ist mein Friede ausgewählt. Er ist Sohn des Zuri-Schaddai = mein Fels ist der Allgenügende.
Von Juda wird Nachschon = der Flüsternde ausgewählt, Sohn des Amminadaw = mein Volk ist wohltätig oder „ich bin wohltätig zu meinem Volk“. Nachschons Name ist zwiespältig. Was wird er Flüstern? Aber er bekommt die Chance, sich für die Seite des Volkes Gottes zu entscheiden, das die Wohltätigkeit Gottes erfährt und sie seinerseits bereit ist zu geben.

Was ist mit dem Stamm Levi?

Nach der Reihenfolge der Söhne Israels müsste nun Levi erwähnt werden. Aber er soll nicht unter die zu Musternden fallen. Levi bekommt von Gott einen besonderen Auftrag.
1,49 Nur den Stamm Levi mustere du nicht und seine Zahl rechne nicht unter die Kinder Israels; 50 sondern du setzte die Leviten über die Wohnung des Zeugnisses und über alle ihre Geräte und über alles, was dazugehört. Sie werden die Wohnung tragen samt allen ihren Geräten, und sie werden sie bedienen und sich um die Wohnung her lagern.
Der Stamm Levi soll sich ausschließlich um Gottes Heiligtum kümmern. Sie werden sowohl die Priester im Zelt unterstützen als auch die heiligen Gegenstände durch die Wüste tragen. Nur sie dürfen sich um den Auf- und Abbau des Stiftszeltes kümmern. Kein anderer darf die heiligen Gegenstände auf den Schultern tragen. Sie werden sich bei den Aufenthalten direkt um das Heiligtum herum lagern, während die übrigen Stämme genau erfahren, welche Stämme sich entsprechend der vier Himmelsrichtungen lagern werden und in welcher Reihenfolge sie aufzubrechen haben.
Die Leviten werden darum in einer anderen Weise gezählt. Gemäß der Vaterhäuser werden alle Knaben gezählt, die älter sind als einen Monat. Sie übernehmen die Stelle der Erstgeborenen in Erinnerung an die Erstgeborenen, die Gott in Ägypten tötete. Damit machte Gott deutlich, dass alle Erstgeburt IHM gehört. Die Leviten übernehmen in dieser Funktion nun den ihnen anvertrauten Dienst am Heiligtum.
Im 4. Kap. lesen wir, dass aus den Leviten die Söhne Kahats (Kahat = der Versammler) erwählt werden. Von ihnen werden alle Männer zwischen dem 30. Und 50. Lebensjahr gezählt, damit sie sich um das Allerheiligste, um die Bundeslade, kümmern, wenn Gott zum Aufbruch ruft. Diese Anzahl an Jahren verweist auf die Kraft der Drei und der Fünf. Drei beinhaltet die Kraft zur Transformation, zum Wandel. Aus den Zwanzigern kommend erreichen sie die Reife der Drei, der Selbsttransformation hin zur Fähigkeit, diese große Verantwortung zu übernehmen. Die Fünf steht für das Begreifen. Mit 50 Jahren begreift der Kahatiter, wem er dient und in welches Vorrecht er hineingerufen wurde. Die Fünf steht ebenso für den Übergang aus der materiellen Welt in die Welt der Spiritualität, in die Welt der Tora, welche aus fünf Büchern besteht. Somit kann die körperliche Arbeit am Allerheiligsten mit der 50 sein Ende finden.

Was uns die Parascha aus Namen und Zahlen lehrt

In dieser Toralesung ging es nicht zuletzt darum, dass die Gezählten ihre Aufgabe und ihren Aufenthaltsort erhielten. Jeder Stamm, in dem jeder einzelne der Gezählten seine Bedeutung hat, kennt nun seine Wehrfähigkeit, mit der er an seinem Ort eingesetzt wird. Jeder einzelne kann sehen, wie stark jede einzelne Gemeinschaft ist, die aber als ein Volk gezählt werden soll, als die Gesamtheit der Kinder Israel. Ist schon jeder einzelne Stamm mit wehrfähigen Männern ausgerüstet, so bildet das Volk in seiner Ganzheit, in seinem Schalom, eine beeindruckende Größe und Kraft, die es Gott zur Verfügung stellen darf.
Jeder Stamm bekommt genaue Anweisung, an welcher Seite vom Heiligtum er lagern soll, denn Gottes Wohnung steht in der Mitte des Volkes. Jeder Stamm weiß, in welcher Reihenfolge ein jeder aufzubrechen hat, sobald Gott den Aufbruch befiehlt. So gibt es in dieser unwirtlichen Wüste eine hilfreiche Struktur an Aufgaben und Verortung. Das gibt Halt und Heimat, sogar im Unterwegssein, sogar in der Wüste, in der Gott redet.


[1] https://www.synagoge-karlsruhe.de/parshah/article_cdo/aid/676004/jewish/Der-Sinn-der-Volkszhlung.htm

[2] https://www.synagoge-karlsruhe.de/parshah/article_cdo/aid/463022/jewish/Nehmt-die-Summe-der-Gemeinde-der-Kinder-Israel.htm

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