Predigttext aus Lukas vorgeschlagen für den 9. Nov. 2022

Lk. 22,31 Es sprach aber der Herr: Simon, Simon, siehe, der Satan hat euch begehrt, um euch zu sichten wie den Weizen; 32  ich aber habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht aufhöre; und wenn du einst umgekehrt bist, so stärke deine Brüder! 33 Er aber sprach zu ihm: Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen! 34 Er aber sprach: Ich sage dir, Petrus: Der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet hast, dass du mich kennst!

Schlachter 2000

Jehoschua warnt Petrus vor Zeiten der Verfolgung und Versuchung, denn er kennt den hitzköpfigen Schüler, der für seinen Lehrer alles zu tun bereit ist. Petrus wird nicht aus eigener Kraft zu Jehoschua stehen können, er wird ihn vielmehr verleugnen. Damit bringt Petrus seinen Meister zwar nicht in Gefahr, denn der wird sich durch den Verrat des Judas bereits in den Händen der Feinde befinden, doch wird Petrus versuchen, seinen eigenen Kopf aus der Schlinge der Hegemonialmacht zu ziehen.

Der Text ist für die diesjährige Erinnerung an den November-Pogrom 1938 als Predigttext vorgeschlagen, doch habe ich einige Fragen an ihn. Mir erschließt sich nicht hundertprozentig, was den Text für den genannten Anlass geeignet erscheinen lässt in den Augen derjenigen, die ihn auswählten.

Soll hier angedeutet werden, dass sich Jehoschua in der Rolle der jüdischen Opfer der Schoah befindet? Übernimmt Petrus dementsprechend die Rolle der deutschen Täter, welche die Juden verrieten und töteten? Aber wer trägt dann die Verantwortung für das unbegreifliche, grausame Geschehen? Ist es Petrus, oder ist es der Satan?

Ja, es ist richtig, dass Jehoschua die vielfältigen und immer wieder kehrenden Leiden seines Volkes teilte. Insofern gehört er mit in die Reihe der leidenden Propheten und des leidenden jüdischen Volkes, wie es die Gottesknechtslieder aufzeigen. Jedoch im Gegensatz zur deutschen Geschichte handelt es sich im vorliegenden Predigttext um eine innerjüdische Angelegenheit zwischen Jehoschua und Petrus. Dieser treue Schüler Petrus schadete seinem geliebten Lehrer nicht, wie es Judas, der als Verräter Jehoschuas fungierte, tat. Das apokryphe Judas-Evangelium gestellt ihn als denjenigen dar, der Jehoschuas außergewöhnliche Fähigkeiten durch diesen Verrat an Licht bringen wollte. Er wollte zeigen, dass Jehoschua in der Lage sein würde, himmlische Heerscharen zu seiner Befreiung zu rufen und als Sieger aus dem bevorstehenden Martyrium hervorzugehen. Damit wäre seiner Meinung nach die Messianität des Meisters belegt.

Petrus steht in der Situation der Verleugnung unter dem Druck der römischen Besatzungsmacht, deren Soldaten Jehoschua bereits abgeführt hatten und ihm den Prozess machten. Seine Nähe zu dem Angeklagten konnte gefährlich werden, wenn sie entdeckt wurde. Seine Angst ist also nur zu verständlich. Und diese Angst sah Jehoschua voraus. Er wusste, dass ein gewöhnlicher Mensch diesem Druck nicht gewachsen sein würde, selbst wenn die Liebe und Anerkennung seines Lehrers noch so groß waren. Darum warnte er Petrus, dass seine guten Vorsätze zerbrechen würden. Jehoschua sieht darin eine Prüfung Satans שָּׂטָן des Hinderers von לשטְן le‘saten = behindern, der Petrus und den andere Schülern Steine und Herausforderungen in den Weg legen will, um sie an der Situation wachsen zu lassen. Kann man den Satan etwa für die Pogromnacht und alles, was ihr folgte, verantwortlich machen? Niemals! Denn jeder konnte entscheiden!

Lässt sich die berichtete Situation in anderer Weise auf den 9. November und die Schoa übertragen? NEIN!, denn die Situation 1938 und später war keine persönliche Angelegenheit zwischen zwei gleichgesinnten Protagonisten, die gemeinsam unter einer Diktatur litten, sondern das, was an diesem denkwürdigen Datum geschah, beruhte auf einem über viele Jahrhunderte tradierten Hass gegen Juden, pointiert durch Luthers antisemitische Spätschriften, die am 9. November 1938 Anwendung fanden. Der Hass fand in der Schoa seinen schrecklichen Höhepunkt, und er wurde durch Rassismus perfide zugespitzt, so dass es für Juden nicht einmal die Möglichkeit des Überlebens durch Zwangstaufe gab. Wegen ihrer vermeintlichen Rasse galten alle Juden per se als unrein, als Ungeziefer und als vernichtungswürdig. Juden waren durch die Geschichte hindurch immer die Anderen, die Fremden, die Christusmörder und Sündenböcke für jegliches Unglück.

Petrus, und selbst Judas, beide Juden wie ihr Meister, kann ein derartiges absichtliches, hinterhältiges, verabscheuenswürdiges Ansinnen nicht unterstellt werden. Sie befanden sich beide unter dem furchtbaren Diktat der Römerherrschaft. Beide wollten ihrem Meister letztlich nicht schaden. Judas nahm sich das Leben wegen seines schuldbeladenen Gewissens, Petrus wählte den Weg der Umkehr, der Teschuwa תשובה, er übernahm Verantwortung in dieser „verantwortenden Antwort“ (Martin Buber).

Im Fortlauf der Geschichte der Nazi-Diktatur ist es richtig, dass die nichtjüdischen Deutschen Angst haben mussten, sich für Juden einzusetzen. Doch hatten sie 3-4 Jahre nach der Machtübergabe durch den naiven Reichspräsidenten Hindenburg sehr wohl die Möglichkeit, die politische Landschaft zu gestalten und Hass predigenden Politikern eine Absage zu erteilen. Hitler fing mit kleinen Schritten der Ausgrenzung an, die ausprobieren sollten, wie weit er gehen konnte. Doch fand er in der Bevölkerung viel Zustimmung. Es gab zu viele, die die Juden als Gefahr und Bedrohung ihrer eigenen Freiheit sahen und sie loswerden wollten. Und es gab noch mehr, die gleichgültig schwiegen und wegsahen. Als es zu den Novemberpogromen kam, am Vorabend von Luthers Geburtstag!, war es für jede Gegenwehr zu spät. Hitler fand im Volk genug Helfer, die den Vernichtungsapparat erfanden und in Gang setzen und am Laufen hielten. Viele Helfer aus der Mitte der Gesellschaft unterstützten das mörderische System, das zudem für Behinderte, Homosexuelle, Sozialdemokraten und Andersdenkende zur Lebensbedrohung wurde. Wie viele Hände nähten später die gelben Sterne, wie viele Bedienstete der Bahn sorgten für planmäßige Abfahrt und Ankunft in den Vernichtungslagern! Guido Knopp dokumentierte das alles hervorragend in seiner Fernsehreihe „Hitlers Helfer“.

Was hat das alles mit dem obigen Predigttext zu tun? Jehoschua gehört dem jüdischen Volk an, er lebte und predigte als Jude. Wäre diese Erkenntnis von Anbeginn in der neuen Bewegung um Rabbi Jehoschua selbstverständlich geblieben, hätte sich nicht eine überhebliche Kirche von ihrer Wurzel abgeschnitten, dann hätte dieser Hass nicht transportiert werden können. Damit machte sich die Kirche schuldig, sodass diese falsche, dem biblischen Zeugnis widersprechende Lehre letztlich die Welt durch den Krieg, der von einem größenwahnsinnigen „Messias“ geführt wurde, und durch die europaweite und darüber hinaus gehende Jagd auf Juden ins Unglück stürzte. Die Kirche hat Jehoschua nicht verleugnet, wie Petrus es tat, sie verriet ihn und beraubte ihn seiner jüdischen Identität. Ebenso verleugneten deutsche Staatsbürger nicht nur ihre jüdischen Mitbürger, sondern es gab unter ihnen Verräter, die ihre jüdischen Nachbarn ans Messer lieferten.

Seit es nach dem Krieg den jüdisch-christlichen Dialog gibt und Juden wie Schalom Ben Chorin oder Pinchas Lapide die Hand zur Versöhnung ausstreckten, haben Christen die Möglichkeit, Jehoschua als Juden neu kennen zu lernen und die Bibel, die „von Juden, für Juden und über Juden“ (P. Lapide) geschrieben wurde, mit jüdischen Augen zu lesen und die vergiftete, christliche Brille abzusetzen. Aber 2000 Jahre sind eine lange Zeit für Indoktrination. Bei vielen Christen erlebe ich eine Angst vor diesem Neuen, das eigentlich als bekannt und vertraut entdeckt werden müsste.  Also vergräbt man sich lieber im vermeintlich Vertrauten – und verrät Jehoschua weiterhin. Dabei ist es so bereichernd, ihn in seinem jüdischen Umfeld und als observanten Juden mit seiner Botschaft vom geliebten himmlischen Vater zu verstehen! Erst so, mit seiner ursprünglichen Identität, wird er richtig verstanden! Aber eine solche Sicht passte nicht in das Bild der Kirchenväter und später Luthers. Das schadete und schadet der Beziehung von Juden und Christen bis heute. Und Christen schaden sich selbst. Die Trennung von der jüdischen Wurzel könnte man ebenso als „Selbstamputation“ der Christen verstehen, wenn wir Salomon Korns Begriff dahingehend ausweiten.

Um wie viel passender ist doch der Text aus den Sprüchen, der ebenfalls für den Gottesdienst vorgeschlagen wird!

Spr. 24,10 Zeigst du dich schlaff am Tag der Bedrängnis, so ist deine Kraft beschränkt. 11  Errette, die zum Tod geschleppt werden, und die zur Schlachtbank wanken, halte zurück! 12  Wenn du sagen wolltest: »Siehe, wir haben das nicht gewusst!« — wird nicht der, welcher die Herzen prüft, es erkennen, und der auf deine Seele achthat, es wahrnehmen und dem Menschen vergelten nach seinem Tun?

Schlachter 2000

Dieses Kapitel der Sprüche befasst sich mit der Bosheit. Die zitierten Verse sind uns unerträglich bekannt: „Wir wussten nichts. Es gab doch noch kein Fernsehen, keine Medien.“ Kaum sind Menschen von dieser Sicht abzubringen, doch die neueren Forschungen belegen: Wer etwas wissen wollte, konnte wissen.

Lediglich in dieser Angst kommen einige Deutsche aus der NS-Zeit Petrus nah, in dieser Angst um das eigene Leben. Und ich werde nicht darüber richten, die ich das Glück hatte, damals nicht zu leben. Aber es gibt eine Unstimmigkeit im Evangeliumstext, weil durch Schweigen oder Handeln den Juden sehr wohl Schaden an Leib und Leben zugefügt wurde. Dabei schadete sich Deutschland selbst nicht weniger. Hier wandte Salomon Korn den Begriff von der „Selbstamputation der Deutschen“ an, weil die Stützen und Mäzene der deutschen Gesellschaft, die aus ganzem Herzen sich als Deutsche und für Deutschland verantwortlich Fühlenden, vernichtet wurden.

Spr. 24,10 klärt uns über die Ursache des Bösen auf: Am Tag der Bedrängnis waren diese Menschen kraftlos, weil sie nicht durch Gottes Wort gestärkt waren. Sie hatten der Dummheit Gehör geschenkt, welche in Vers 9 als Sünde bezeichnet wird. Die Werte und Gebote Gottes gaben ihnen keinen Halt, galten – wie auch heute – als veraltet und unmodern, für moderne Menschen als nicht zumutbar. So konnte eine andere Religion das Vakuum füllen, die Religion des „Ver-Führers“ (Yuval Lapide), der sich selbst als Messias inszenierte.

Wer setzte sich damals für diejenigen ein, die aus ihren Wohnungen mit Lastwagen für den Transport in die Lager abgeholt wurden? Einige glaubten, dass durch den Abtransport der Juden größerer Freiraum für die deutsche „arische Rasse“ entstünde. Man glaubte, Juden würden nur „umgesiedelt“! Aber wäre nicht auch eine „Umsiedlung“ mit LKW und Viehwaggons menschenunwürdig gewesen? Es ging kein Aufschrei durch die Bevölkerung, nicht bei immer deutlicherer Ausgrenzung und Berufsverboten, nicht bei der Verwüstung jüdischer Geschäfte und brutaler Verletzung jüdischer Geschäftsinhaber. Nicht einmal brennende Gotteshäuser und Torarollen rüttelten die damalige Gesellschaft als Ganzes auf.

„Wir haben es nicht gewusst!“ oder „Wir wollten es nicht wissen.“ oder „Wir hatten Angst, es zu wissen. Wir waren doch für unsere Familie verantwortlich.“ Welche Antwort ist die richtige? Keiner weiß es, außer den Betroffenen selbst, die zum Großteil nicht mehr unter uns sind. Für sie gilt, dass Gott weiß, was im Herzen eines Menschen vor sich geht. Der Mensch kann sich selbst belügen, aber niemals Gott. Und Gott wird uns alle für unser Tun, das sich aus den Gedanken ergibt, zur Rechenschaft ziehen. Das stellt für uns jedoch keine Bedrohung dar, wenn wir zu unseren Schwächen und Fehlern stehen, wenn wir falsche Entscheidungen und selbst die Angst, die uns für Taten der Menschlichkeit und der Nächstenliebe lähmte, vor Gott bekennen.
Ps. 32,5 Da bekannte ich dir meine Sünde und verbarg meine Schuld nicht; ich sprach: »Ich will dem  Ewigen meine Übertretungen bekennen!« Da vergabst du mir meine Sündenschuld.

Die Schuld und Scham des Dritten Reichs lasten schwer auf Deutschland. Doch vergraben wir uns nicht darin. Stehen wir zu dieser Schuld, bzw. die nachgeborenen Generationen zu ihrer Verantwortung, und packen Taten der Nächstenliebe an. Nicht gegenüber Menschen, die nur unsere Schuldgefühle ausnutzen wollen. Schuldgefühle sind nicht gemeint, sondern die Anerkennung von realer Schuld! Nächstenliebe können wir praktizieren bei Organisationen wie „Aktion Sühnezeichen“, wo junge Menschen oftmals ihren Zivildienst oder ihr soziales Jahr leisteten. Es gibt unzählige Organisationen, die Überlebenden der Schoa und deren Kindern helfen wie z.B. Zedeka oder die vielfältige Arbeit der ICEJ. Erst kürzlich unterstützte eine Freundin eine Farm in Israel mit ihrer tatkräftigen Hilfe. So lernt man Land und Leute kennen und entwickelt Empathie. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, jüdisches Leben in Deutschland zu unterstützen oder sich um Benachteiligte, Kranke und Behinderte zu kümmern. Wenn all das im Gedenken an die jüdischen Opfer geschieht, kann heutiges Leid minimiert und echte Taten der Reue und der Einsicht geleistet werden. Dann ist die Zeit gekommen, die Jehoschua gegenüber Petrus als „die Zeit nach der Umkehr“ bezeichnete. Dann können wir unsere jüdischen Brüder und Schwestern mit Liebe stärken.

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