Vorgeschlagener Predigttext für Sonntag, d. 6. Nov. 2022

20 Da er aber gefragt ward von den Pharisäern: Wann kommt das Reich Gottes? antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte; 21 man wird auch nicht sagen: Siehe hier! oder: da ist es! Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch. 22 Er sprach aber zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, daß ihr werdet begehren zu sehen einen Tag des Menschensohnes, und werdet ihn nicht sehen. 23 Und sie werden zu euch sagen: Siehe hier! siehe da! Gehet nicht hin und folget auch nicht. 24 Denn wie der Blitz oben vom Himmel blitzt und leuchtet über alles, was unter dem Himmel ist, also wird des Menschen Sohn an seinem Tage sein. 25 Zuvor aber muß er viel leiden und verworfen werden von diesem Geschlecht. 26 Und wie es geschah zu den Zeiten Noahs, so wird’s auch geschehen in den Tagen des Menschensohnes: 27 sie aßen, sie tranken, sie freiten, sie ließen freien bis auf den Tag, da Noah in die Arche ging und die Sintflut kam und brachte sie alle um. 28 Desgleichen wie es geschah zu den Zeiten Lots: sie aßen, sie tranken, sie kauften, sie verkauften, sie pflanzten, sie bauten; 29 an dem Tage aber, da Lot aus Sodom ging, da regnete es Feuer und Schwefel vom Himmel und brachte sie alle um. 30 Auf diese Weise wird’s auch gehen an dem Tage, wenn des Menschen Sohn soll offenbart werden.

Luther 1912 mit Korrekturen

Alle warten auf bessere Zeiten, heute wie damals. Zeiten, in denen wir keine Kriege erleben, keinen Hass und Neid, keine staatliche Gewalt – und keine Krankheiten. Damals wie heute haben wir nach einer solchen Welt Verlangen und konnotieren sie als gläubige Menschen mit dem Reich Gottes. Aber wann kommt es endlich? Diese Ungewissheit, dieses Warten stellt unsere Geduld auf die Probe und auch unseren Glauben. Wenn diese Frage schon vor 2000 Jahren gestellt wurde – lohnt sich dann das Warten noch?

Doch schon vor 2000 Jahren, als das pharisäische (לְפָרֵשׁ lifrosch = auslegen; Peruschim פירושים = die Ausleger, die Pharisäer) Judentum darüber diskutierte, lautete die Antwort Jehoschuas :
„Was sucht ihr das Reich Gottes in der Zukunft oder sichtbar in dieser Welt? Das Reich Gottes ist bereits da, in euch! Mit dem, was ihr von Gott und Seinem Wort gelernt habt, könnt ihr das Reich Gottes Realität werden lassen. Sucht nicht im Außen, denn dort werdet ihr es nicht finden. Durch Liebe zu Gott und Seinem Wort und durch  Taten der Liebe ist Gott mitten unter euch und somit Sein Reich. Verhaltet euch wie gerechte Könige, welche Diener ihrer Untertanen sind und für diese nur das Beste wollen. Verhaltet euch wie würdige Priester, die im Gebet für ihre Mitmenschen einstehen und den Segen Gottes auf sie legen. Dann erfüllt ihr Gottes Wort und bringt das Reich Gottes, in dem ihr Könige und Priester seid (Ex. 19,6), mitten in unsere Welt und bereitet Olam ha’ba עולם הבא, die auf uns zukommende Welt, vor.“

In dem Talmudtraktat „Pirke Avot“ = Sprüche der Väter wird deutlich, welchen Bezug die hiesige Welt und die kommende Welt haben:
4,21: „Rabbi Jaakow sagt: Diese unsere irdische Welt gleicht einem Vorhof zur kommenden Welt. Rüste dich im Vorhof, damit du (voller Verdienste) in den Königssaal eintreten kannst.“

Jehoschua sagte den Fragenden aber auch, dass die Zeiten schwerer werden würden, und dass sie dann froh wären, die seine Tage wieder zu erleben. Er will ihnen sagen, dass es besser ist, im Hier und Jetzt zu leben und für das dankbar zu sein, was Gott ihnen HEUTE gibt. HEUTE können sie die Tora studieren und mit ihren Kollegen, zu denen auch Jehoschua gehörte, diskutieren. HEUTE können sie „Könige und Priester“ sein. HEUTE können sie Gutes tun und das Reich Gottes voranbringen.

Jehoschua benutzt und akzeptiert keine Titel, außer den des Ben Adam בֶן-אָדָם, des Menschensohnes, besser des Adamssohnes. Dieser Titel meint einen Menschen, der in die Einheit und Gemeinschaft mit Gott zurückgeht wie der erste Adam und der durch seine Ehrfurcht vor Gott den Ungehorsam und Fall Adams repariert. Diesen Titel trug vor Jehoschua bereits Hesekiel, der 93 Mal so angesprochen wird, sodass der Ausdruck im Prophetenbuch häufiger vorkommt als im Neuen Testament. Ebenfalls als Adams- oder Menschensohn bezeichnet wurde Daniel (8,17), der wie Hesekiel und Jehoschua die Zeit des Endes verkündete.

Jehoschua als auch Paulus standen in der Naherwartung der Endzeit. Jehoschua sah sich selbst als ein Glied in der Kette dieser Titelträger, die sich gemeinsam einsetzten für das Kommen des Maschiach und der kommenden Erlösung. Das Kommen des Adamssohns wird darum ein Leuchten in die Welt bringen, das wie ein Blitz von einem Ende der Erde bis zum anderen Ende nicht zu übersehen sein wird.

Doch macht Jehoschua keinen Hehl daraus, dass ihm noch eine Zeit des Leidens bevorsteht. Auch hier reiht er sich ein in die Reihe Jesajas, der sein und seines Volkes Leid in den „Gottesknechtsliedern“ festhielt, und Jeremias, dessen Klagelieder sein ganzes Leiden und das Leiden seines Volkes thematisieren. Ebenso musste Hesekiel Leid ertragen, wie es heißt:
Hes. 3,25 Und du, Menschensohn, siehe, man wird dir Stricke anlegen und dich damit binden, sodass du nicht mitten unter sie wirst hinausgehen können.

Somit ist es für Jehoschua nicht fremd, dass auch er, gerade in diesen grauenvollen und gewalttätigen Zeiten, wird leiden müssen. Wer immer in einer Diktatur Gottes Wort verkündigt, wird Gewalt am eigenen Leib erfahren. Die Evangelisten lassen diese brutale Seite der römischen Schreckensherrschaft nur schwach durchscheinen, um nicht unnötig als deren Feinde erkannt zu werden.

Das Reich Gottes und das Kommen des Adamssohns stehen in deutlichem Kontrast zu der heutigen Zeit bzw. der Zeit Jehoschuas, die er mit den Tagen Noahs und Lots vergleicht. Hier ging es nur um Äußerlichkeiten, um Essen und Trinken, Heirat und Handel sowie wirtschaftliche Interessen. Aber ließ Gott wirklich deshalb die Sintflut über die Welt kommen oder vernichtete ER deshalb Sodom und Gomorra mit Schwefel und Feuer? Hinter dieser unverdächtigen Darstellung steht eine Kritik an den Römern und ihren Kollaborateuren. Es wurde nicht nur gegessen, sondern Orgien abgehalten, bei denen es kein Maß gab, bei denen Hungernde unbeachtet von den Reichen vor der Tür litten wie im Gleichnis vom armen Lazarus, und bei denen erst recht nicht auf die jüdischen Speisevorschriften geachtet wurde. Es wurde Alkohol im Übermaß getrunken, sodass man nicht mehr wusste, was man redete oder tat. Solche Orgien haben zum Tod Johannes des Täufers geführt, bei dem seine Enthauptung beschlossen wurde.

Bei der Heirat geht es auch um Ehebruch. Wen man zur Frau nahm, wie man mit ihr umging, gegen wen man sie austauschte, spielte keine Rolle. Der Handel basierte nicht auf Werten und auf Ehrlichkeit. Beim Bauen denken wir gleichfalls an den Turmbau zu Babel, der das Ziel hatte, Gottes Namen in Vergessenheit geraten zu lassen.
Für Gebäude gab die Tora einem Bauherren „Bauvorschriften“ an die Hand, die man gleichgültig betrachtete, denn jedes Einhalten solcher Vorschriften verteuert den Bau und minimiert den Gewinn. Pech, wenn jemand vom Dach fällt, weil der Zaun fehlt! (z.B. Dtn. 22,8)
Die Tage Noahs und Lots? Die Tage Jehoschuas? Erkennen wir darin nicht auch unsere heutige Zeit?

Die Zeiten sind noch keine besseren geworden. Noch müssen wir warten. Wir müssen noch warten, bis der wahre Adamssohn offenbar wird. Dann wird Gott das Böse, das Frevelhafte von der Erde nehmen. Dann werden Mächtige, Machtbesessene und Mörder weggenommen werden, wie es im Schmone Esre, dem 18-Bitten-Gebet oder Amida, heißt:
„Den Verleumdern sei keine Hoffnung, und alle Ruchlosen mögen im Augenblick untergehen, alle mögen sie rasch ausgerottet werden, und die Trotzigen schnell entwurzle, zerschmettre, wirf nieder und demütige sie schnell in unseren Tagen. Gelobt seist du, Ewiger, der du die Feinde zerbrichst und die Trotzigen demütigst!“

Dann ist die Zeit der Erneuerung und Erlösung da. Doch bleiben wir bis dahin nicht untätig! Treiben wir mit unserer Liebe zu Gott und den Menschen Gottes Reich voran!

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