Altes Haus im Bibeldorf in Nazareth

Predigttext vorgeschlagen für den 23.10.2022

1 Und nach etlichen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und als man hörte, dass er im Haus sei, 2 da versammelten sich sogleich viele, sodass kein Platz mehr war, auch nicht draußen bei der Tür; und er verkündigte ihnen das Wort. 3 Und etliche kamen zu ihm und brachten einen Gelähmten, der von vier Leuten getragen wurde. 4 Und da sie wegen der Menge nicht zu ihm herankommen konnten, deckten sie dort, wo er war, das Dach ab, und nachdem sie es aufgebrochen hatten, ließen sie die Liegematte herab, auf welcher der Gelähmte lag. 5 Als aber Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Sohn, deine Sünden sind dir vergeben! 6 Es saßen aber dort etliche von den Schriftgelehrten, die dachten in ihren Herzen: 7 Was redet dieser solche Lästerung? Wer kann Sünden vergeben als nur Gott allein? 8 Und sogleich erkannte Jesus in seinem Geist, dass sie so bei sich dachten, und sprach zu ihnen: Warum denkt ihr dies in euren Herzen? 9 Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind die Sünden vergeben!, oder zu sagen: Steh auf und nimm deine Liegematte und geh umher? 10 Damit ihr aber wisst, dass der Sohn des Menschen Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu vergeben — sprach er zu dem Gelähmten: 11 Ich sage dir, steh auf und nimm deine Liegematte und geh heim! 12 Und er stand sogleich auf, nahm seine Liegematte und ging vor aller Augen hinaus, sodass sie alle erstaunten, Gott priesen und sprachen: So etwas haben wir noch nie gesehen!

Jehoschua verkündigt in Galiläa das Wort Gottes und sucht zum wiederholten Male Kapernaum auf, כְּפַר נַחוּם Kfar Nachum, der Ort des Propheten Nachum = Nahum, was Ort des Trostes bedeutet. Wie am Ende des 1. Kapitels deutlich wurde, ist Jehoschua mittlerweile sehr bekannt, und die Menschen wollen in ihrer unsicheren Zeit seine Botschaft von Gott hören. So viele ausgehungerte Lernwillige suchen ihn, sodass im Haus seines Gastgebers und davor kein Platz mehr ist.

Dasselbe erlebten Yuval und ich immer wieder in Israel. Ist ein bekannter Rabbiner in einem Ort zu Gast oder gar wohnhaft, der für seine Auslegungen und tiefen spirituellen Wegweisungen bekannt ist, so sitzen die Hörenden auf dem Boden, stehen in den Türen und sammeln sich selbst draußen vor den Fenstern, um seine kostbaren Worte zu hören.
Jehoschua kann kein anderes Wort verkünden als das der Tora. Vielleicht legte er wie die heutigen Rabbiner den Wochenabschnitt aus. Mit der Rückkehr aus dem babylonischen Exil entwickelten sich der Synagogengottesdienst und die Einteilung der Tora in Abschnitte (Parascha/ Paraschot). Auch Prophetenabschnitte (Haftara/ Haftarot) gehörten dazu, wie in Lk. 4,17 zu lesen ist.

Zu der Enge im Haus passt eine Geschichte von Hillel aus dem Talmud. Bevor dieser selbst zu einem berühmten Lehrer – vermutlich sogar von Jehoschua – wurde, tat er alles, um von den weisen, gelehrten Männern seiner Zeit zu lernen:

Man erzählt von Hillel dem Älteren, daß er täglich durch Arbeit einen Tropalk[1] verdiente, von dem er die Hälfte dem Pedell des Lehrhauses gab und die andere Hälfte für seinen Unterhalt und den Unterhalt seiner Familie verwandte. Eines Tages fand er nichts zu verdienen, und der Pedell des Lehrhauses ließ ihn nicht herein; da kletterte er hinauf und setzte sich auf das Dachfenster, um die Worte des lebendigen Gottes aus dem Munde von Šema͑ja und Ptollion zu hören. Man erzählt, es war an einem Freitag um die Jahreswende des Teweth[2], und vom Himmel fiel der Schnee auf ihn nieder. Als die Morgenröte aufging, sprach Šema͑ja zu Ptollion: Bruder Ptollion, an jedem anderen Tage ist das Zimmer hell, heute aber ist es dunkel; ist denn der Tag so sehr wolkig? Als sie hinaufschauten und die Gestalt eines Menschen im Dachfenster bemerkten, stiegen sie hinauf und fanden ihn drei Ellen hoch mit Schnee bedeckt. Da holten sie ihn hervor, wuschen und schmierten ihn und setzten ihn gegen das Feuer, indem sie sagten, er verdiene es, daß man seinetwegen den Šabbath entweihe. 

bT Joma 35b

Dass ein weiser und berühmter Rabbi gleichzeitig fähig ist, wegen seiner unermüdlichen Gebetspraxis und seiner engen Beziehung zu Gott Wunder zu wirken, ist für Juden aller Zeiten keine Frage. Jegliches Wunderwirken geht auf Gott selbst zurück. Dafür dankt ein Jude im Morgengebet mit verschiedenen Formulierungen:
„Gelobt sei der Ewige, Gott, der Gott Israels, der allein Wunder vollzieht.“  
„Wer ist unter den Mächtigen dir gleich, Ewiger, wer ist dir gleich, verherrlicht durch Heiligkeit, ehrfurchtgebietend durch Ruhmestaten, Vollbringer von Wundern.“
„Wir wollen dir danken und deinen Ruhm erzählen für unser Leben, das in deine Hand gegeben, und unsere Seelen, die dir anvertraut, und deine Wunder, die uns täglich zuteilwerden, und deine Wundertaten und Wohltaten zu jeder Zeit, abends, morgens und mittags. Allgütiger, dein Erbarmen ist nie zu Ende.“

Diese enge Gottesbeziehung unterstellte man Jehoschua, denn kein Jude hatte von ihm das Bild eines durch die frühen Kirchenväter und die spätere Kirche geschaffenen, überhöhten Christus, sondern eines bodenständigen, gottgesandten Lehrers. Darum bringen sie den Gelähmten zu Jehoschua. נְכֵה neche behindert, gelähmt ist ein biblisch-talmudischer Begriff und sprachlich verwandt mit נָכוֹן nachon = richtig. Das will sagen, dass das Leben des Behinderten eine besondere, gottgewollte Ausrichtung hat. Der Begriff entspricht unserer heutigen Auffassung von Behinderung, denn wir haben uns auf den Sprachgebrauch geeinigt, der statt von Behinderten von „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“ spricht. Der Lubawitscher Rebbe Rabbi Menachem Schneerson empfahl von: „besonderen Menschen“ zu sprechen. Die damalige Gesellschaft zur Zeit Jehoschuas sah das unter den Bedingungen der Unterdrückung durch die Römer vermutlich nicht so, aber immerhin hatte der Gelähmte Freunde, die ihn zu diesem „Wunderrabbi“ brachten.

Spirituell betrachtet war dieser Mann krank חוֹלֶה chole. Das Wort chole hat die sprachliche Wurzel חוֹל chol = Sand und Alltag. Das hebräische Wort für krank weist darauf hin, dass Krankheit mit der überwiegend profanen Ausrichtung eines Menschen zu tun hat; er beschäftigt sich mehr mit alltäglichen Belanglosigkeiten als mit Göttlichem, Spirituellem. Darunter leidet seine Seele, sodass sie diesen Mangel somatisiert.

Jehoschua erkennt den Glauben der Männer, die sogar für ihren Freund den Weg über das Dach nehmen, um ihn direkt vor dem großen Lehrer zu platzieren. Das Wort הַגָּג ha’gag = das Dach bestätigt die obige These, denn die Buchstaben haben die Zahlenwerte 5 – 3 – 3. Gag = Dach alleine hat somit die Quersumme 3+3=6, welche für die Werktage steht, die sechs Schöpfungstage. Der Artikel He הַ mit dem Zahlenwert 5 symbolisiert die Tora. Die doppelte Zahl Drei weist auf eine Veränderung hin, hier eine Veränderung zur Tora, dem Wort Gottes.

Wir lesen nur, dass Jehoschua den Glauben der Männer sah und sich an den Gelähmten richtete. An wen oder was glaubten sie zur Zeit Jehoschuas? Selbstverständlich glaubten sie an den EINEN Gott und Seine Macht. Jehoschua war für sie ein Mann Gottes, dem sie zutrauten, dass er im Namen Gottes Heilungen wirken konnte.  Wunderrabbis gab es in dieser Zeit häufig. Sie glaubten „an“ Jehoschua, vertrauten ihm, gemäß der alten Tradition:
Ex. 19,9   ER sprach zu Mosche: Da, ich komme zu dir in der Dichte des Gewölks, um des willen, daß höre das Volk, wann ich mit dir rede, und auch dir sie vertrauen בְּךָ יַאֲמִינוּ becha ja‘aminu auf Weltzeit.
Wenn er ihren Glauben sieht, so sagt schon das hebräische Wort für Glauben Emuna אֱמוּנָה = sich an seinem Gott festmachen, wie es im Propheten Jesaja heißt:
Jes. 7,9 אִם לֹא תַאֲמִינוּ כִּי לֹא תֵאָמֵנו = im lo ta’aminu ki lo te’amnu = Festigt ihr euch nicht in Gott, so bleibt ihr nicht gefestigt

Der Glaube richtet sich allein an Gott, und nur dadurch kann der Glaube übergehen auf Seine Gesandten, die der Macht Gottes bedürfen und sich demütig ihrer bedienen. Nur, wenn ich einem Menschen vertraue, kann ich mich an ihn wenden. Glaubwürdig wird er für spirituelle Menschen durch die Beziehung zu Gott. In diesem Sinne glaubte das Volk in der Wüste an Mosche und spätere Juden an Jehoschua. Wer Letzterem nicht vertraute, nahm seine Hilfe gar nicht erst in Anspruch.

Jehoschua sagte aufgrund ihres Glaubens: Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!
„Du Gelähmter, ich erinnere dich daran, dass du ein geliebter Sohn unseres Vaters im Himmel bist wie ich auch. ER hat dich nicht vergessen! ER sieht dein unendliches Vertrauen in IHN und dass du jemanden suchst, der dir Sein Wort der Gnade und der Heilung zuspricht. ER sieht dein Verlangen und kann nicht anders, als dir zu vergeben und dadurch deine Gebundenheit zu lösen.“

Jehoschua sagte nicht: „Ich vergebe dir deine Sünden.“, wie die Umstehenden es fälschlicherweise verstanden hatten. Er weiß, dass die Vergebung der Sünden Gottes Angelegenheit ist. Er pfuscht Gott nicht ins Handwerk, sondern benutzt das „Passivum divinum“ – wie mein Schwiegervater Pinchas Lapide es mit dem theologischen Fachbegriff nannte -, welches Gottes Intervention bedeutet.

Jehoschua kann mit seiner Menschenkenntnis und Gottesnähe in die Herzen der Menschen schauen, weshalb er um ihre verborgenen Gedanken ebenso weiß wie um das Bedürfnis des Kranken. Diese Fähigkeit ist eine Gabe Gottes, weshalb zu jeder Zeit – bis heute – leidende Menschen einen weisen und gerechten Rabbiner aufsuchen. Jehoschua weiß ebenso, dass es Krankheiten gibt, die Gottes Vergebung gebrauchen. So war z.B. der Aussatz, welches NICHT Lepra war, eine Krankheit, die nach der Sünde des schlechten Sprechens, der Verleumdung, auftrat. Das wird bei Mosches Schwester Mirjam deutlich, die über ihre Schwägerin schlecht sprach und dann an Aussatz erkrankte. (Num. 12)

Manche Menschen meinen, daß sie, wenn es ihnen nicht gut geht, alle Ziele im Leben aufgeben müßten, um sich um ihre physische Gesundheit zu kümmern. Tatsächlich ist das Gegenteil wahr: Du kannst die Heilung des Körpers nicht von der Heilung der Seele trennen. Während du den Körper behandelst, mußt du die Seele noch mehr nähren.

Den Himmel auf die Erde bringen; Heilung finden, von Tzvi Freeman.[3]

Den Begriff des Menschensohns müssen wir an dieser Stelle noch klären. Dazu lasse ich wiederum meinen geschätzten Schwiegervater Pinchas Lapide zu Wort kommen:

Hinzuzufügen ist noch, dass der Begriff »Menschensohn« hier nichts mit Jesus zu tun haben kann, da es ja im Streitgespräch überhaupt nicht um die Taten Jesu selbst geht, noch um seinen Auftrag, den andere in seinem Namen ausgeführt hatten, sondern lediglich um das spontane Handeln seiner Jünger. So muss also das hebräische Wort »ben adam« (oder aramäisch: bar inasch), das dem Text hier zugrunde liegt, einfach als »jedermann« oder als »unsereiner« verstanden werden, was genau der damals landläufigen Bedeutung dieser Vokabel entspricht.
Bestätigung findet diese Binsenwahrheit u. a. in der Perikope über die Heilung des Gelähmten, bei der Jesus sagt: »Damit ihr wisst, dass der Menschensohn Macht hat, auf Erden Sünden zu vergebens – da sprach er zum Gelähmten: Steh auf, nimm deine Bahre und geh heim! Und er stand auf und ging heim.«
Worauf es im Schlusssatz dann heißt: »Als das die Volksscharen sahen, … priesen sie Gott, der den Menschen solche Vollmacht gegeben hat« (Mt 9,6-8). Es heißt nicht: »dem Menschen« noch: »dem Menschensohn« (was auf Hebräisch dasselbe wäre), sondern schlicht und einfach in der Mehrzahl: »den Menschen« – also, im Grunde allen Söhnen Adams auf Erden.

P. Lapide, Wer predigt in ihren Synagogen, Gütersloher Verlagshaus 2022, S. 87

Jehoschua reiht sich ein in die Reihe all derer, die Gott bedingungslos vertrauen. Ihnen verspricht das Neuen Testament, dass diesen Glaubenden ein größeres Wunderwirken bereitsteht als das Jehoschuas:
Joh. 14,12 Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und wird größere als diese tun; …
Mt. 17,20 … Denn wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr Glauben habt (auch nur so groß) wie ein Senfkorn, werdet ihr zu diesem Berge sprechen: Hebe dich weg von hier dorthin! und er wird sich hinwegheben, und nichts wird euch unmöglich sein.
  (vgl. Mt. 21,21)
Jeder, der – wie oben erklärt – an Gott und Seinen Gesandten glaubt, kann größere Taten als Jehoschua vollbringen. So, wie der eine vorbildliche Sohn Gottes zu diesem Handeln von Gott bevollmächtigt wurde, so bekommt jeder andere Sohn oder jede andere Tochter ebenfalls diese Vollmacht und kann Wunder wirken, wenn er oder sie Gott vertraut!

Und was geschieht zum Schluss? Die Umstehenden, die noch nie einer solchen Heilung beiwohnen konnten, preisen GOTT! Keiner preist Jehoschua, denn alle wissen, dass er die Kraft NUR von Gott bekam! Was muss das für ein froher, typisch jüdischer Lobgesang des Hallel (Ps. 113-118) oder anderer Psalmen gewesen sein:
Ps. 30,3 DU, mein Gott, zu dir habe ich gestöhnt, und du hast mich geheilt. 4 DU, mein Gott, aus dem Gruftreich hast du meine Seele geholt, hast mich belebt hervor aus den in die Grube Gesunknen. … 12 Du wandeltest meinen Trauergang mir zum Reigen, du öffnetest mein Sackgewand und umschürztest mich mit Freude, 13 auf daß das Ehren harfe dir und nicht stille werde: DU, mein Gott, in Weltzeit will ich dir danken.


[1] Kleine Münze, nach Git. Fol. 45b im Werte des römischen Staters
[2] Der 4. Monat des jüdischen Kalenders, ungefähr Dezember; dh. in der kältesten Zeit des Winters
[3] https://de.chabad.org/library/article_cdo/aid/529720/jewish/Heilung-finden.htm)

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