1 Die Zöllner und Sünder sammelten sich weiter um Jeschua, um ihn zu hören 2 und die Peruschim und Toralehrer murrten unablässig. „Dieser Mensch“, sprachen sie, „nimmt Sünder auf – ja, er isst sogar mit ihnen!“
Neues Jüdisches Testament, David Stern, זל, Hänssler-Verlag 1994
3 Da erzählte er ihnen folgendes Gleichnis: 4 Wenn einer von euch 100 Schafe hat und eines von ihnen verliert, lässt er nicht die anderen 99 in der Wüste und geht dem Verlorenen nach bis er es findet? 5 Wenn er es dann findet, legt er es sich voller Freude über die Schultern; 6 und wenn er nach Hause kommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt: „Kommt, feiert mit mir, denn ich habe mein verlorenes Schaf wiedergefunden!“ 7 Ich sage euch, daß auch im Himmel mehr Freude sein wird über einen Sünder, der sich von seinen Sünden zu Gott wendet, als über 99 Gerechte, die keine Reue nötig haben.
8 Noch ein Beispiel: Welche Frau zündet nicht, wenn sie zehn Drachmen hat und eine dieser wertvollen Münzen verliert, eine Lampe an, kehrt das Haus und sucht alles durch, bis sie sie findet? 9 Und wenn sie sie gefunden hat, ruft sie ihre Freunde und Nachbarn zusammen und sagt: „Kommt, feiert mit mir, denn ich habe die Drachmen gefunden, die ich verloren hatte.“
10 Ebensolche Freude, sage ich euch, wird unter den Engeln Gottes herrschen, wenn ein Sünder bereut.“
Jesus ist ganz in seinem Element als Gleichniserzähler, eine Lehrmethode, die Jesus aus dem Tanach und von seinen pharisäische Lehrern und Vorbildern kannte und die sich großer Beliebtheit erfreute. Dieses Kapitel beginnt mit einem Doppelgleichnis und fährt mit der bekannten Erzählung vom verlorenen Sohn fort.
Dabei fällt auf, dass die Zöllner und Sünder kamen, um ihn zu hören. Sie versprachen sich aus seinem Munde Worte des allmächtigen und barmherzigen Gottes. Die Zöllner als Handlanger der Römer waren sehr unbeliebt, was sich in den Evangelien immer wieder zeigt. Ob aber die Pharisäer und Schriftgelehrten zur Zeit Jesu wirklich gegen die Umkehrwilligkeit ihrer Mitmenschen waren, ist, laut Flusser, so eindeutig nicht. Dadurch wurde ein wirkungsgeschichtlicher Kontrast zwischen Jesus und seinen Pharisäerkollegen angelegt, der dazu verführte, Jesus als „Überwinder“ seines Judentums zu stilisieren. Da die Evangelien aber mit großer zeitlicher Verzögerung verfasst wurden, kann diese Tradition ebenso gut auf der Trennungsgeschichte von Juden und der Jesusbewegung basieren und in die nachjesuanische Zeit fallen.
Wenden wir uns dem Gleichnis zu. Jesus arbeitet mit Zahlen. Die Zahlen 100 und 1 verweisen auf Gott, den guten Hirten, den die Zuhörer aus dem Tanach kennen. Den 99 übrigen Schafen traut er zu, dass sie für eine Weile ohne seine Präsenz auskommen. Ihr Zahlenwert ergibt in der Quersumme 18 = Chai חי = Leben und jede 9 für sich weist auf neues Leben hin. Sie werden mit der Herausforderung fertig werden, aber das Verlorene braucht die Hilfe des Hirten.
Hes. 34,11 Denn, so hat mein Herr, ER, gesprochen, wohlan, ich selber bin da, daß ich nachfrage meinen Schafen,
Jes. 40,11 wie ein Hirt weidet er seine Herde, Lämmer hält er in seinem Arm, trägt sie an seinem Busen, die Mutterschafe leitet er sacht.
In zwei Situationen kümmert Gott sich um Seine Schafe. Bei Hesekiel sind es die, die keinen Hirten haben. Auch zur Zeit der Römer waren die Juden allein gelassen. Sie waren sich ihrer Feinde bewusst und litten unter ihren Bedrückern. Die Diskussionen um die praktische Anwendung der Tora konnten dabei den Blick verstellen, da es unter den zahlreichen Pharisäerschulen nicht unerheblichen Streit gab. Da konnte der Blick für die Leidenden fehlen. Es bedeutet aber ebenso, dass die Pharisäer gleichfalls zu den Leidenden gehörten, denn sie hatten sich der Auslegung der Tora verschrieben und nicht dem Kampf gegen die Römer wie die Zeloten, und nicht für Kollaboration wie die Sadduzäer.
Bei Jesaja wird ER die versprengten Schafe liebevoll zurückführen. ER wird die Herde weiden und die Jungtiere an Seiner Brust fürsorglich tragen.
Auch dieses Bild passt in den Kontext. Da die Verfasserschaft des Evangeliums zwischen 70-90 n.d.Z. angenommen wird, ist davon auszugehen, dass der Verfasser bereits um das Exil wusste oder es erahnte. Doch auch den durch die Römer vertriebenen Juden gilt die Zusage, dass Gott sie zurückbringen wird in ihr Land!
Im Mittelpunkt der Gleichnisse steht die Freude, die herrscht, wenn das Verlorene gefunden ist. „Freude im Himmel“ הַשִָּׂמְחָה בַּשָּׁמַיִם ha’simcha ba’schamajim ist ein Synonym für die Freude Gottes. Himmel als Ort lebenspendenden Wassers in Form von Regen oder Tau wird mit Gott identifiziert. Gott sehnt sich, ER hat Freude an der Umkehr תִשְׁעָה Teschuw’a; an der „verantwortenden Antwort“ (Buber). Der Himmel feiert! Gott feiert!
Jer. 4,1 – Kehrst du um, Jissrael, ist SEIN Erlauten, zu mir kehrst du wieder. Tust du deine Scheusale weg vom Angesicht mir, brauchst du nicht umzuschweifen.
Jer. 26,3 Vielleicht hören sie doch und sie kehren um, von seinem bösen Weg jedermann, dann lasse ich mirs leid sein des Bösen, das an ihnen zu tun ich plane um die Bosheit ihrer Geschäfte.
Jer. 36,3 Vielleicht hören die vom Hause Jehuda all das Böse, das ich ihnen anzutun plane, auf daß sie umkehren, jedermann von seinem bösen Weg, daß ich ihnen verzeihn kann ihren Fehl, ihre Versündigung.
Gott wartet auf jede Form der Umkehr. ER vergibt Sünden, über die der Sünder Einsicht erlangt hat. ER führt Sein Volk nach Hause, nimmt die Irregegangenen in die Arme und verzeiht ihnen – einfach so! Nicht länger lässt ER sie herumirren in der Fremde. Über jeden einzelne ist ER froh. Der EINE erbarmt sich des Einzelnen!
Wer seine falschen Taten einsieht und betet, geht mit sich selbst ins Gericht. lehitpalel לְהִתְפַּלֵּל beten = mit sich ins Gericht gehen. So kann der Sünder vor Gott bereuen, im Gegensatz zu demjenigen, der solche Gebete und solche Umkehr meint, nicht nötig zu haben. Der Aufforderung Gottes ist bekannt seit Mose.
Dtn. 30,3 läßt ER dein Gott dir die Kehre kehren, er erbarmt sich dein, er kehrt um, er führt dich zuhauf aus allen Völkern, dahin ER dein Gott dich ausstreute, –
Hier möchte ich eine Geschichte aus dem jüdischen Midrasch weitergeben, die uns in die Fürsorge von Gott und Mensch hineinnimmt und zeigt, dass ein Diener Gottes ebenfalls als Hirte für Israel handeln können muss. Zudem erkennen wir, wie groß das Beispiel Gottes ist, dass es einen breiten Niederschlag in der jüdischen Tradition findet.
Als Mose die Herden Jitros in der Wüste weidete, entfloh ihm ein Zicklein. Mose lief ihm nach, bis es vor einer Wiese stehen blieb. Hier fand es ein Bächlein und trank daraus. Als Mose das sah, sprach er zu dem Tier: Ich wusste nicht, dass du, weil du durstig warst, davon sprangst. Und er nahm das Zicklein auf seine Schultern und trug es zurück. Da sprach der Herr zu Mose: Du bist voll Erbarmen und gehst mitleidig mit den Tieren um. Bei deinem Leben! Du sollst meiner Herde Israel Leiter sein.
Micha Josef Bin Gorion, Die Sagen der Juden, Parklandverlag 1997, S. 764
Es folgt jedoch noch ein Gleichnis aus dem Mund Jesu, in dem nun eine Frau die Hauptperson ist, also die Rolle Gottes übernimmt. Sie hat eine Drachme verloren, was dem Lohn eines ganzen Tages entspricht. Sie sucht das Verlorenen an Stelle eines Mannes, in dem der Leser mit Leichtigkeit Gott erkannte. Doch Gott hat auch eine weibliche Seite, die nicht nur fürsorglich ist, sondern ausdauernd und akribisch nicht nur nach einem blökenden Schaf sucht, sondern sogar nach einer kleinen Münze, für die sie ihr Haus auf den Kopf stellen muss. Die Münze macht sich nicht bemerkbar. Für sie muss eine Öllampe entzündet werden, gleichgültig, was das Öl kostet!
Nach dieser Anstrengung darf die fleißige Frau erleichtert Freunde und Nachbarn einladen und feiern. Nun feiern die Engel Gottes gleichsam mit aus Freude über einen(!) Umkehrwilligen! Dabei ist die Umkehr in beiden Fällen nicht vom Sünder ausgegangen, sondern von dem Hirten und der Frau, die sich der Suche nach dem Verlorenen hingaben. Sie ging von Gott, dem EINEN, aus, der sich nach dem Sünder sehnt, ihm den Weg ebnet und bereitet. Von Gott, mit Seiner väterlichen und mütterlichen Seite, die den Sünder liebt und ihn nach Hause ruft.
Sach. 1,3 nun aber sprich zu ihnen: So hat ER der Umscharte gesprochen: Kehret um zu mir, ist SEIN des Umscharten Erlauten, und ich kehre um zu euch. So hat ER der Umscharte gesprochen: 4 Seid nimmer wie eure Väter, denen die frühen Künder zuriefen, sprechend: So hat ER der Umscharte gesprochen: Kehret doch um von euren bösen Wegen, von euren bösen Geschäften! …
Dieses Umkehren erfolgt ja erst,nachdem der Hirte/die Frau Verlorenes/Verirrtes gesucht und gefunden und angeschaut haben.Blickwechsel und Hörerlebnis finden statt,weil Die Stimme so einladend ist-Rö 4 bezeichnet das als den Ruf der Güte/Zugriff.Alles geht von G‘tt aus und kehrt wieder zurück!Freut Euch,Menschenkinder.