Schabbat 6. Juni 2020,  14. Siwan 5780

Schon zur Parascha Bamidbar habe ich einen Ausblick genommen zu den Leviten und ihren Aufgaben in Num.4 ab V21. Des Weiteren habe ich in meinen Predigtgedanken zum Aaronitischen Segen einen  wesentlichen Teil dieser Parascha erläutert. Dort habe ich ausführlich die Herkunft der Leviten erklärt. Somit bleibt mir diese Woche nicht viel zur Parascha zu schreiben. Vielmehr möchte ich einladen, nochmals die Links zu den Texten zu nutzen und somit die dortigen Gedanken einzufügen in die dieswöchige Toralesung.

Nasso – erhebe!

Nun möchte ich erklären, was der Name dieser Parascha bedeutet.
Num.4,22 נָשֹׂא אֶת רֹאשׁ בְּנֵי גֵרְשׁוֹן – Nasso et rosch bnej Gerschon – Erhebe die Häupter der Söhne Gerschons …
Gott fordert Mose auf, die Söhne Gerschons im Alter zwischen 20 und 50 Jahren zu zählen. Dazu benutzt Er dasselbe Wort, das schon in 4,2 zur Zählung der Söhne Kahats zu finden ist. Warum wird nicht das Wort für „zählen“ benutzt, welches לִסְפּוֹר = lispor heißt?
Das Wort „erheben“ kommt einige Male im Tanach vor. Beispielsweise benutzte Gott es, als Er versprach, die Hebräer aus Ägypten zurück in das Land ihrer Väter zu bringen.
Ex. 6,8 Ich bringe euch in das Land, darüber ich meine Hand erhoben נָשָׂאתִי (nassiti) habe, es Abraham, Jizchak, Jaakob zu geben, ich gebe es euch zu Erbe, ICH bins.
Gott „erhob“ Seine Hand zum Schwur, an den ER sich für Seine Kinder im „Bund“ gebunden weiß.
In Hos.6,1 hat das Wort die Bedeutung von „tragen“, was so viel meint wie „emporheben und wegtragen“, „vergeben“. נָשָׂא (nassa, Prät) kann neben „erheben“ und „tragen“ auch „heiraten“ bedeuten. Daraus ergibt sich eine interessante und vielfältige Bedeutung dieses Ausdrucks, die über das mathematische „Zählen“ weit hinaus reicht.
Bei der Aufforderung: „Erhebe die Häupter“ musste ich an das Wort Jesu im NT denken:
Lk 21:28 Wenn aber dies anfängt zu geschehen, so richtet euch auf und erhebt eure Häupter, weil eure Erlösung naht.
Wenn Mose die Häupter der Söhne Gerschons erhebt und zählt, wenn Gott Seine Hand zum Schwur erhebt, dann schwingt etwas mit von dem Erbarmen, von der Erlösungs- und Vergebungsbereitschaft Gottes. Da ist etwas zu hören von dem Bund, den Gott unauflöslich mit Seinem Volk schloss wie Braut und Bräutigam. Ich sehe das Bild vor meinem inneren Auge, wie der Bräutigam (= Gott) seine Braut (= Sein Volk) trägt. ER trägt sie nicht nur über die Türschwelle, sondern Er trägt sie durchs Leben und hilft ihr, ihr Haupt zu erheben. Sie darf „erhobenen Hauptes“ durchs Leben schreiten, weil sie an der Seite des treuesten und verlässlichsten Bündnispartners durchs Leben geht. Die Tür zu Vergebung und Erlösung steht ihr immer offen.
Mann und Frau erheben sich durch die Ehe gegenseitig, da der Mensch nur als Mann und Frau vollkommen ist.
Die Söhne Gerschons und Kahats werden nicht einfach gezählt, sondern ihre Häupter werden erhoben, denn Gott zieht sie zu besonderen Aufgaben heran. Sie sind keine Priester, aber sie tragen Verantwortung für Gottes Heiligtum. Somit „tragen“ auch sie, indem sie durch die Verrichtung ihrer verantwortungsvollen Tätigkeit etwas beitragen zu dem Bündnis mit Gott.
Wie ich es zum Aaronitischen Segen erklärt habe, hat die Erwählung der Leviten zu dem Dienst im und am Heiligtum damit zu tun, dass sie ein Unrecht ihres Stammvaters Levi wieder gutmachen sollen, mit dem er und sein Bruder Simeon sich an wehrlosen Menschen und an Gott vergangen hatten. Somit ist das Erheben ihrer Häupter nun ein Zeichen für Vergebung, die ihnen gewährt wird. Sie müssen ob dieser ererbten Last nicht mehr beschämt zu Boden blicken, sondern können erlöst ihre Häupter erheben und zuversichtlich, vertrauend und gestärkt ins Leben schauen. Die alte Last wurde von ihnen genommen, sodass die Häupter nach oben schauen.
Dazu passt der Vergleich mit Kain, den ich in den Predigtgedanken ausgeführt habe. Wenn ein Mensch sein Haupt erheben kann, gewinnt er eine neue Perspektive und neuen Lebensmut.

Verdacht auf Ehebruch

Einige Kapitel der Tora enthalten Themen, die dem modernen Leser fremd und unverständlich sind. Trotzdem sind sie Inhalt der „Heiligen Schrift“ und müssen erklärt werden. Sie sind auch Bestandteil der christlichen Bibel, denn die Hebräische Bibel ist ein Teil von ihr. Christliche Leser werden genauso ihre Fragen an die alten texte haben wie moderne Juden, aber es ist in meinen Augen unzulässig, sie hochmütig zu ignorieren und im Extremfall nur den Juden zuzuschieben. Leider ist eine solche Haltung immer wieder zu finden.
Schauen wir uns diese Themen an. Im 5. Kapitel geht es innerhalb all der Reinheitsgebote um einen eifersüchtigen Mann, der seine Frau zum Priester führt. Dort bekommt sie das Bitterwasser, wodurch ihre Schuld oder Unschuld herausgefunden werden soll. In der empfehlenswerten Tora für Kinder „Erzähl es deinen Kindern. Torah in fünf Bänden“ von Hanna Liss und Bruno Landthaler wird in den Randbemerkungen sehr gut erklärt, dass es sich hier um Verdachtsfälle handelte, nicht um nachgewiesenen Ehebruch. Der Mann befand sich deshalb in diesem Eifer, weil es ihm verboten war, mit einer Frau zusammen zu sein, „die gleichzeitig noch andere sexuelle Beziehungen pflegt.“[1]
Heute stellt sich dem modernen Leser die Frage, warum das von so großer Bedeutung war, warum dieses Misstrauen zwischen Eheleuten herrschte.
Dazu muss man eindeutig zurück in die damalige Zeit, als dieses kleine, israelitische Volk umgeben war von unzähligen heidnischen Völkern. Dort spielte kultische Prostitution eine große Rolle. Frauen waren Objekte der Lust. Vergleichbares erlebte Abraham, der mit seiner Frau wegen der Hungersnot nach Ägypten floh. Er wusste um das Vorrecht des Herrschers, mit einer ihm angenehmen Frau die erste Nacht zu verbringen. Das ius primae noctis ist in den Tafeln von Gilgamesch belegt. Damit wurde eine Frau für andere Männer nach jüdischer Definition unrein. Um eine solche Situation auszuschließen, entstand diese Vorschrift. Hanna Liss erklärt dazu: „Die rabbinische Überlieferung hat die Durchführung dieses Gottesurteils schon sehr früh mit dem Hinweis auf den Verlust des Tempels, aber auch auf die moralische Fragwürdigkeit der Männer abgeschafft.“[2]
Eine Erklärung, die kritisch mit den Männern in dieser Situation umgeht, zitiere ich aus Chabad:
„Die Ehe ist eine heilige Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau, denen vorher etwas fehlte und die jetzt vollständig sind. Damit die Ehe glücklich ist und Bestand hat, müssen beide Partner die Rechte des anderen anerkennen und seine Meinung respektieren. Das gemeinsame Heim muß ein Ort der Harmonie sein.
Wenn ein Mann übertrieben “männlich” sein will und über das Heim “herrschen” will; wenn er verlangt, daß sein Wille Gesetz ist; wenn er die Bedürfnisse seiner Familie ignoriert und nur an sich selbst – isch – denkt, ist die Ehe zum Scheitern verurteilt. Die Torah warnt uns also: Ein Mann (isch), der isch (egoistisch) ist, zerstört die Familie, treibt seine Frau zur Untreue und zerstört letztlich sich selbst.“[3]

Das Nasirat

Einen Nasir kennen Sie bestimmt, denn zwei bedeutende Männer gibt es, einen im Buch der Richter, Simson. Der andere ist der Cousin Jesu, Johannes der Täufer. Für beide Männer galt, dass schon ihre Mütter während der Schwangerschaft keinen Wein genossen. Den Knaben durfte das Haar nicht geschoren werden. Simson scheiterte an der Frau aus dem Feindeslager Delilah, die ihm das Geheimnis seiner Kraft abzwang und ihn somit vernichten konnte. Diese beiden Männer hatten eine Berufung, ihr Leben lang als Nasir zu leben. Sie bilden eine Ausnahme im jüdischen Leben, denn das erste Gebot im Judentum wird sehr ernst genommen: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Seid fruchtbar und mehret euch.“ Darum gibt es im Judentum keine Klöster. Das Gebot der Familiengründung ist von so zentraler Bedeutung, dass im Talmud zwei Rabbis, einer von ihnen Rabbi Soma, nicht mit diesem Ehrentitel angesprochen wurden, weil sie sich der Ehe verweigerten. Sie seien mit der Tora verheiratet, war ihr Argument, was nicht akzeptiert wurde. Nur von ihnen ist ihr Familienstatus „Gesprächsthema“, denn dass ein Gelehrter verheiratet ist, ist in Talmudzeiten selbstverständlich. Ein Grund, warum Schalom Ben Chorin an der Ehelosigkeit Jesu zweifelt.
Das Judentum bejaht das Leben, wie es uns von Gott gegeben wurde, weshalb Verzicht nur zeitweise erlaubt ist. Darum muss nach Beendigung des Nasirats ein Opfer gebracht werden, wie es in Apg. 21,23ff dargestellt ist.
Eine anschauliche Darstellung und Erklärung empfehle ich bei Chabad: Nazariten und Nonnenklöster
https://www.synagoge-karlsruhe.de/parshah/article_cdo/aid/463035/jewish/Nazariten-und-Nonnenklster.htm

Sie können Chabad, eine jüdische Organisation, die jüdisches Leben in Deutschland und der Welt fördert, mit Spenden unterstützen.


[1] Hanna Liss, Bruno Landthaler: Erzähl es deinen Kindern. Die Torah in fünf Bänden. Ariella-Verlag, Bd.4, S.33
[2] Ebd. S.32
[3] https://www.synagoge-karlsruhe.de/parshah/article_cdo/aid/478077/jewish/Ein-Mann-dessen-Frau-ihn-hintergeht-und-betrgt.htm

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