Schabbat, 2. Mai 2020, 8. Ijar 5780; 23. Tag des Omer > Levitikus 16:1 – 20:27
Können wir als Menschen heilig sein? Ist Nächstenliebe praktikabel? Manche Fragen beantworten sich leichter, wenn man sie im Kontext oder auf der Grundlage der hebräischen Sprache liest.
- Die „Nahung“ zu Gott
- Jom Kippur
- Der Sündenbock
- Wer ist unser Gott?
- Ihr seid heilig
- Befohlene Nächstenliebe?
Die „Nahung“ zu Gott
Zwei Abschnitte werden an diesem Schabbat gelesen, die in der Tiefe mit der Heiligkeit Gottes zu tun haben, auch wenn nur der zweite Abschnitt direkt diesen Namen trägt.
Der erste Abschnitt führt zurück zum Tod der Söhne Aharons, von dem wir in Kapitel 10 lasen. Nun muss Mose seinem Bruder Aharon neue Anweisungen Gottes bezüglich des Eintritts ins Allerheiligste geben. Nadaw und Awihu brachten in ihrem Übereifer ein Feuer, das Gott nicht geboten hatte. Ein solcher Übereifer soll nicht noch einmal geschehen. Darum wird der Eintritt ins Allerheiligste beschränkt auf einen Tag im Jahr.
„Bei ihrem Nahen בְּקָרְבָתָם = bekarwatam“ zu Gott starben die Söhne. Damit nicht noch jemand an der Heiligkeit Gottes stirbt, muss diese Art des Sich-Nahens beschränkt werden, sowohl in der Häufigkeit als auch in den Bedingungen. Für das Nahen zu Gott braucht es in besonderem Maße Verhaltensweisen des Respekts, denn die Heiligkeit Gottes ist kein Kinderspiel. Wie wir schmerzlich sahen, kann man sich an ihr und mit ihr verbrennen.
Gottes „Abstandsregeln“ waren bekannt, denn er hatte schon zu Mose gesagt:
Ex.33,20 Du kannst mein Angesicht nicht schauen, denn kein Mensch bleibt am Leben, der mich schaut.
Und so wird Aharon zwei Opfer nehmen müssen, eines, das verbrannt wird und eines, das beladen mit den Sünden des Volkes in die Wüste geschickt wird. Das sind die Regeln für den besonderen Tag Jom Kippur, an welchem Gott die Sünden seines Volkes bedeckt.
„Darnahen וְהִקְרִיב = we’hikarew“ soll Aharon den durch ein Los auserkorenen Widder. Was beim Nahen der Söhne aus dem Lot kam, wird nun in eine neue Ordnung gebracht.
Anlass für diesen Jom Kippur ist die Sünde des goldenen Kalbs, zu dessen Bau Aharon sich hatte überreden lassen, nachdem Mose nicht vom Berg zurückkam. Diese Sünde nach dem Erlebnis der Befreiung aus Ägypten, aus der Enge und Bedrückung (Ägypten מִצְרַיִם = doppelte Enge)!
Ex.19,4 …ich trug euch auf Adlerflügeln und ließ euch kommen zu mir. 5… hört auf meine Stimme und wahrt meinen Bund, dann werdet ihr mir aus allen Völkern ein Sondergut. 6… ihr sollt mir werden ein Königsbereich von Priestern, ein heiliger Stamm.
Ein einzigartiger Beweis der Macht und Liebe Gottes zu diesem Volk!
Anschließend die Offenbarung Gottes auf dem Berg Sinai, die ebenfalls wegen der Heiligkeit Gottes „Abstandsregeln“ forderte. Der ganze Berg musste mit Abstandsmarken als nicht zu betretendes Gebiet gekennzeichnet werden. Es erfolgte die Übergabe der Tora, die aus Sklaven eine freie Gesellschaft machen sollte und deren Gebote eines mit dem Inhalt aufführt, das besagt:
Ex.20,23 BRU Macht mir nichts bei, Silbergötter, Goldgötter macht euch nicht!
Darum wog die Sünde des gegossenen Kalbs schwer in den Augen Gottes. Misstrauen und Ungeduld nahmen Gestalt an in einem Götzenbildnis! Nur aufgrund des Gebets von Mose vernichtete Gott nicht das ganze Volk. Und nur wegen des Drängens des Mose erklärte Gott sich bereit, das Volk weiterhin selbst durch die Wüste zu begleiten. Und so soll es nun diesen einen Tag im Jahr geben, an dem jeder einzelne des Volkes bewusst Verantwortung für sein Handeln übernimmt.
Diesem Tag sind 10 Tage der Besinnung und der Umkehr vorgeschaltet, denn vor der Darbringung eines Opfers müssen Unklarheiten mit und Vergehen gegenüber dem Mitmenschen bereinigt werden. Was zwischen mir und meinem Mitmenschen steht, kann ich nicht auf Gott abwälzen. Dazu lesen wir im zweiten Teil der Parascha von der Nächstenliebe.
Jom Kippur
Kippur ist die Bedeckung. Das Wort ist bekannt durch die Kippa, die Kopfbedeckung jüdischer Männer. Sie ist übrigens kein Gebot der Tora, sondern entstand sehr viel später.
Bedeckung gibt die Möglichkeit, dass etwas nicht mehr angesehen werden muss. Sind die Sünden bedeckt, muss der Mensch sich nicht mehr mit ihnen befassen, sich nicht mehr schuldig fühlen. Die Sünden sind nicht in ein Nichts verschwunden, aber sie haben keine belastende Wirkung mehr. Die Erinnerung an sie kann aber eine hilfreiche Warnung sein, wenn die Entscheidungen des Lebens getroffen werden müssen. Bedeckt und vergeben ermöglichen sie Wachstum und Reifung im Menschen.
Das deutsche Wort „Versöhnung“ kann die Idee hervorbringen, dass durch die Bußgebete am Jom Kippur die reuigen Juden wieder zu echten „Söhnen und Töchtern“ werden, doch ist nirgends in der Bibel zu lesen, dass die Kindschaft des Juden jemals aufhört und wiederhergestellt werden müsste. Die Haltung zu Gott muss immer wieder erneuert werden, nicht nur am Jom Kippur, aber die Sohn- bzw. Kindschaft eines Sünders steht nie auf dem Spiel.
Der Sündenbock
Den „Sündenbock“ kennen wir aus der Umgangssprache sehr gut. Nur ist er in dem Sinne dafür da, dass wir unsere Schuld nicht zugeben müssen. Wir suchen einen anderen Menschen, einen schwächeren meistens, dem wir unser eigenes Versagen aufbürden, ihn verantwortlich machen und somit selbst den Konsequenzen zu entgehen suchen. Das kann sehr handfest vorkommen, auch in der heutigen Zeit, wenn Schuldige gesucht werden, die die Corona-Pandemie verursacht haben sollen. Dann entgehen wir der Auseinandersetzung mit uns selbst sowie der spirituellen Herausforderung, die eine solche Seuche an uns stellt.
Im Mittelalter waren es die Juden, die angeblich die Brunnen vergiftet hatten und so die Pest verursachten. So musste man nicht darüber nachdenken, dass Juden durch ihre Hygienevorschriften geschützter waren als die übrige Bevölkerung. Man hätte ja von der nichtchristlichen Minderheit lernen müssen, was ganz undenkbar war.
In unserem Alltag suchen wir Sündenböcke für unsere Süchte, für unser Übergewicht, für Misserfolge. Dann kommen Verführer und Werbung ins Spiel, angeblich bösartige Konkurrenten, usw.
Das aber meint der Sündenbock der Bibel aber nicht. Der echte Sündenbock kann keine Sünden hinwegtragen, die nicht aufrichtig bereut, bekannt und selbst verantwortet werden. Und er ist ein von Gott bestimmtes Tier, kein Mensch, der im Ebenbild Gottes zu unserem Bruder, unserer Schwester geschaffen wurde.
Wer ist unser Gott?
Nach den Anweisungen für das Jom-Kippur-Opfer gibt Gott weitere Anweisungen. Diese stehen unter der Proklamation: ICH (der Ewige) bin euer Gott. (18,2) אֲנִי יְהוָה אֱלֹהֵיכֶם = ani JHWH (adonai) elohejchem. Ich, der sich Mose am brennenden Dornbusch offenbarte. Ich, der mit seinem Namen dafür bürgt, dass er immer bei euch ist. „Ich werde sein, als der ich da sein werde“.
In diesem Namen steckt die ganze Barmherzigkeit Gottes, Seine Seite des Mitgehens in jedes Ungemach Seiner Kinder. ER sah Seine Kinder in der Sklaverei. ER ging zu ihnen und führte sie heraus. ER bestimmte ein Leben in Freiheit für Seine Kinder. Und ER kennt die Spielregeln, die ein solches Leben ermöglichen. Sein Name bürgt für Vertrauen und für Bundestreue, die sogar Bundesbrüche des Bundespartners, des Menschen, vergeben und heilen kann. Darum sollen Seine Kinder sich nun nach diesen Anweisungen richten und nichts mehr von dem praktizieren, was sie in Ägypten lernten. Denn das sind keine Lebens-weisen, das sind Haltungen, die weder Gott noch das Leben in seiner Tiefe respektieren. Das ist Götzendienst und führt weg vom wahren Leben. Wenn die Israeliten die falschen Gewohnheiten abgelegt und sich die Gottesbotschaft angelegt haben, sind sie gewappnet, auch nicht dem Götzenkult zu verfallen, der im Land der Verheißung, in Kanaan, noch praktiziert wird. Nur so können sie Gottes Wahrheit auf ihrem Weg bezeugen und verbreiten.
Lev.18,5 BRU Wahret meine Satzungen und meine Rechtsgeheiße, als welche der Mensch tut und lebt durch sie. ICH bins אֲנִי יְהוָה. (ani JHWH – ich, der Ewige)
Und so handelt es sich bei den folgenden Anweisungen um solche, die die Würde des Menschen achten. Es geht um Nähe und Abstand. Wieder einmal wird deutlich, dass Abstand auch Respekt bedeuten kann, sowohl der richtige Abstand und die richtige Nähe zu Gott als auch der richtige Abstand und die richtige Nähe zum Menschen. Es gibt klare Regeln für den geschlechtlichen Umgang miteinander, und in dem Zusammenhang sogar das Verbot, sein Kind dem Moloch zu opfern!
Kinder entstammen einer sexuellen Beziehung zwischen Mann und Frau, die bereit sind, für diese Frucht ihrer Liebe Verantwortung zu übernehmen. Die besteht darin, dieses Kind Gott zu nähern. In beiderlei Richtung, denn das Kind wird zu Gott gebracht wie der Junge am 8.Tag im Ritual der Beschneidung, aber auch dem Kind wird Gott nahe gebracht, sodass es nach den Weisungen dieses Gottes wird leben wollen. Dieses Kind gehört dem wahren König מֶלֶךְ = melech, und die Eltern tragen die Verantwortung, ihr Kind auf dem Weg zu diesem König unterstützend zu begleiten. Es ist ihnen verboten, ihr Kind einem falschen König, einem Moloch מֹּלֶךְ = molech zu geben, denn das bedeutete nicht nur den psychischen Tod der Kinder, sondern ihren realen Tod, denn der falsche, brutale König forderte Kinderopfer, die im Feuer brannten.
Ich bin‘s, betont Gott deshalb immer wieder, ein Gott des Lebens, des sinnerfüllten und vollen Lebens. Dazu gehört eine Gesellschaft, in der Menschen menschlich miteinander umgehen.
Ihr seid heilig
In Kap. 19 beginnt die Lesung des zweiten Wochenabschnitts mit Gottes Aufforderung in V2: Ihr werdet heilig sein, denn heilig bin ICH euer Gott. – קְדֹשִׁים תִּהְיוּ כִּי קָדוֹשׁ אֲנִי יְהוָה אֱלֹהֵיכֶם (kedoschim tihiju ki kadosch ani JHWH elohejchem.
Aber was bedeutet heilig und wie können Menschen heilig sein?
Heilig bedeutet: abgesondert. Das Leben der Kinder Israel soll also ein abgesondertes sein für Gott. Es soll die Verbundenheit Seiner Kinder mit IHM zeigen in einer Welt, in der es damals ansonsten nur Götzenkult gab. Sondert euch ab von diesem falschen Kult! Sondert euch ab von unmenschlichem oder menschenunwürdigem Verhalten!
Darum folgt dieser Aufforderung ohne Unterbrechung die Aufforderung zur Ehrung der Eltern und dem Einhalten der Feiertage, wozu in erster Linie der Schabbat gehört. Hatte Gott nicht schon bei der Äußerung der Zehn Worte gesagt, dass Seine Weisungen Leben bedeuten?
Ex.20,12 BRU Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit sich längern deine Tage auf dem Ackerboden, den ER dein Gott dir gibt.
Gottes Weisungen betreffen den Alltag, in dem wir unsere „Heiligkeit“, unsere Verbundenheit mit Gott ausdrücken können. Es betrifft den Umgang mit den Armen, für die ein Rest des Ackers bei der Ernte übrig gelassen wird. Es geht um einen wahrhaftigen und neidlosen Umgang mit dem Mitmenschen, der nicht belogen werden darf und dem nichts wegzunehmen ist. Alles, was die Ehre des Menschen antastet und in ihm die Würde seiner Gottesebenbildlichkeit antastet, untersagt Gott, damit Seine Kinder ein Leben in Heiligkeit vorleben können.
Wir haben ganz praktische Aufgaben, die sich lohnen in diesem Kapitel nachzulesen und die es uns ermöglichen, Gott auf dieser Erde zu vertreten und zu bezeugen, indem wir so handeln, wie ER es an Seinen Kindern tun möchte.
Außerdem ist dieses Heilig-Sein keine Magie, sondern ist allein davon abhängig, dass Gott heilig ist. Nur in der Verbundenheit mit IHM werden wir auf dem Weg durch unser Leben heilig werden.
Befohlene Nächstenliebe?
Ein Satz in dieser Auflistung hat es zu besonderer Berühmtheit gebracht, dabei wird er nie als ganzer Vers zitiert:
Lev.19,18 BRU Heimzahle nicht und grolle nicht den Söhnen deines Volkes. Halte lieb deinen Genossen, dir gleich. ICH bins.
Bekannter ist es in den Worten: sondern du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst;
וְאָהַבְתָּ לְרֵעֲךָ כָּמוֹךָ – we ahawta re’echa kamocha
Dieses „Gebot der Nächstenliebe“ steht inmitten der erwähnten Anweisungen zum Umgang mit dem Mitmenschen. Innerhalb des Verses steht er im Zusammenhang mit der Aufforderung, keine Rache zu üben und nicht über seinen Nächsten zornig zu sein.
Geht das? Ist das nicht Utopie? Sollen wir alles durchgehen lassen, was der andere uns antut? Oder ist es eher die Aufforderung, Gott jede noch so verfahrene Situation anzuvertrauen, anstatt vorschnell zu re-agieren!
Dann aber doch die Frage: Kann man Liebe überhaupt befehlen?
Mein Schwiegervater Pinchas Lapide stellt eben diese Frage in seinem Buch: Die Bergpredigt – Utopie oder Programm? (S.31)
„Hier steht ja gar kein Imperativ, sondern die Zukunftsform[1]: ‚Du wirst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘
Wann wird das geschehen? Sobald Gott seine Tora ‚in unser Herz gegeben und in unseren Sinn schreiben wird‘ (Jer.31,33), sobald er uns ‚das steinerne Herz wegnehmen und uns ein fleischernes Herz geben wird‘ (Hes.36,26), dann wird es keiner Gebote und Befehle mehr bedürfen, um die Nächstenliebe als überschäumende Gottesliebe zur Selbstverständlichkeit zu machen.“
Pinchas hebt eine weitere Besonderheit dieser Bibelstelle hervor (ebd. S.101): „[In Lev.19,18 steht] nicht: ‚Liebe deinen Nächsten‘ im Akkusativ, sondern im Dativus Ethicus, eine Wortfolge, die im Deutschen nur umschrieben werden kann: Wende dich ihm liebend zu! Oder: Erweise ihm Liebestaten! Oder: Tu ihm Liebe an! Mit einem Wort: Leb ihm zuliebe, nicht zuleid!“
Bei der Nächstenliebe geht es also nicht um angeordnete Gefühle, sondern um Taten! Wer Gott liebt und Gottes Liebe bezeugen will, muss an seinem Mitmenschen zum Guten handeln. Der Wille Gottes muss getan werden! Darum geht es auch nach diesem Satz weiter mit den „Kleinigkeiten“ des Alltags, die aber doch den Unterschied machen: Vor ergrautem Haar steh auf! Den Fremdling bedrücke nicht! Wie gesagt: Es lohnt sich, diese Aufforderungen zu lesen, die zum einen Ausdruck der Nächsten- und Gottesliebe sind und die dazu beitragen, uns heilig zu machen.
Heilig werden wir nicht durch fromme Sprüche, sondern durch das TUN.
Wenn dir mein Beitrag gefällt oder du einfach jüdisches Leben in Deutschland unterstützen möchtest, lege ich dir die Chabad-Gemeinde in Karlsruhe ans Herz. Bitte spende für sie, damit immer mehr Juden zurückfinden in ihr Judentum und eine Heimat in dieser Gemeinde finden.
https://www.synagoge-karlsruhe.de/templates/articlecco_cdo/aid/445141/jewish/ber-uns.htm
[1] Für die Hebräischkenner unter meinen Lesern: Durch das Konversions-Waw vor dem Verb in der Vergangenheit ahawta wird dieses zum Futur gewandelt.