Schabbat Mischpatim am 22.02.2020 = 27.Schwat 5780

Nach den Zehn Worten, die wir in der Parascha Jitro lasen, folgen nun echte Gesetze, die Mischpatim. Im Zehnwort legte Gott dem Volk eine Kurzfassung vor.
Wozu braucht es jetzt noch diese Gesetze? Was bedeuten sie im jüdischen Verständnis, das durch die hebräische Sprache eine andere ist als die unsere, die wir auf Übersetzungen angewiesen sind?

Schauen wir noch einmal auf die Sprache der Bibel

Die Gesetze müssen das Miteinander der Menschen regeln. Wie aber schon im Zehnwort wird hier wieder das Futur verwendet, weil die Sprache der Bibel unser Modalverb „sollen“ nicht kennt. Das ist für unser Denken schwer zu verstehen, das sich gerade in puncto Rechtsprechung aus dem Römischen Recht entwickelte. Muss demnach nicht jedes Gesetz streng geboten werden? Soll das Futur vielleicht als Imperativ verstanden werden, wie es das moderne Hebräisch kennt? Oder geht es doch um die Herausforderung, hinter dieser fast zärtlichen Formulierung das Wesen des sprechenden Gottes zu erkunden?
Durch seine Ebenbildlichkeit mit Gott ist in der Tiefe des Menschen schon ein Verlangen nach einem Leben mit Gott und Seinen Werten angelegt. Diese Ethik wird das Volk umsetzen, weil es sich an den Gott erinnert und an dem Gott festmacht (Emuna = Glaube = sich festmachen an Gott), der es erlöst hat.
Auf Hebräisch wird es noch deutlicher: אִם לֹא תַאֲמִינוּ כִּי לֹא תֵאָמֵנוּ = im lo ta’aminu ki lo te’amnu. Das Wortspiel müsste man übersetzen mit: Festigt ihr euch nicht in Gott, so bleibt ihr nicht gefestigt.
Jedoch realistisch gesehen liegt diese Einsicht nicht immer vor, denn jeder Mensch hat die Freiheit der Wahl. Diese Freiheit ist nicht selten eine Bürde und droht ihn oftmals zu zerreißen, was vermutlich jeder schon einmal erlebt hat und wie Goethe es ausdrückte:

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
die eine will sich von der andern trennen:
Die eine hält in derber Liebeslust
sich an die Welt mit klammernden Organen;
die andre hebt gewaltsam sich vom Dust (Staub)
zu den Gefilden hoher Ahnen.
Faust 1, Vers 1112 - 1117; Vor dem Tor. (Faust)
Johann Wolfgang Goethe

Dieses Bild der zwei Seelen kennt auch das Judentum, den guten und den bösen Trieb. Für eine Seite muss sich jeder in jedem Augenblick entscheiden.
Gesetze müssen eingehalten werden, weil sonst das Zusammenleben der Menschen scheitert. Darin liegt schon etwas wie ein Naturgesetz, was wir aus unserer aktuellen Weltlage nur zu gut kennen. Fehlt respektvoller Umgang und die Freiheit zur Entfaltung, kommt es in Diktaturen zu Aufständen, Revolutionen und zu einem anscheinend nicht enden wollenden Krieg wie in Syrien.
Wenn Gott also seinem Volk sagt, „du wirst“ so handeln oder nicht handeln, macht ER deutlich, dass ER auf die Einsicht Seiner Kinder setzt. Was bei Uneinsichtigkeit folgt, ist nach biblischem Verständnis  eine natürliche Folge dieser Gebote –keine Strafe!-, die in der Spiritualität ihren Ursprung haben und in der materiellen Welt auf Umsetzung warten.

Was heißt: Mischpatim?

Schauen wir uns noch eine andere sprachliche Besonderheit an. Das Wort Mischpatim, Plural von Mischpat, wird im modernen Wörterbuch mit „Recht“, „Gesetz“ und gleichzeitig mit „Satz“ übersetzt! Die dahinter stehende Sprachwurzel ist שפט – sch-f-t (schafat) und bedeutet auch „richten“, der Richter ist der Schofet. Dieses Richten ist zu verstehen als „etwas in eine Richtung bringen, neu ausrichten“. Hat der Mensch also sein Ziel verfehlt, die natürlich herrschenden Lebensgebote nicht ernst genommen, muss er, muss sein Denken, neu ausgerichtet werden. In dem Sinne besteht die Beziehung zu dem Wort „Satz“. Ein Satz mit seiner Botschaft richtet den Leser oder Hörer neu aus, richtet seinen Blick, seine Aufmerksamkeit, sein Denken auf etwas hin, so wie meine Sätze Sie hin-richten wollen auf die Besonderheit der hebräischen Bibel und der hebräischen Sprache.

Gesetze im jüdisch-hebräischen Verständnis

Des Weiteren ist für das Verständnis dieser oft als staubtrocken empfundenen Kapitel wichtig, dass das Judentum aufgrund der hebräischen Sprache alles, was Gesetze angeht, sehr feine Unterscheidungen vornimmt. Die häufigste Fehlübersetzung betrifft das Wort „Tora“, das „Weisung“ bedeutet und als solches auch im NT gelesen werden muss anstelle des falschen Wortes „Gesetz“.
Als nächstes gibt es das Wort „Mizwa“, das aus dem Ritual der „Bar Mizwa“ = „Sohn der Pflicht“ bekannt ist. Die sprachliche Wurzel צוה (z-w-a = zawa) gibt diesem religiösen Gebot die Idee einer guten Tat, die eine Verbindung zu Gott herstellt. Gott stellt solche Mizwot also auf, damit der Mensch durch sie sich mit IHM auf besondere Weise verbinde.
Mischpat, das oben schon erklärt wurde, ist eine Anweisung, ein Gebot, dem eine Erklärung folgt und das verständlich ist. Es gibt allerdings noch Chukim (Sg. Chok חוק), womit die Bibel (nicht das moderne Hebräisch) Gebote meint, die Gottes Weisheit entspringen und für den Menschen in seinem irdischen Leben nicht erklärbar sind. Sie verlangen das Vertrauen des Gläubigen.

„Auge um Auge?“

Ein für heute letzter, wichtiger Punkt dieser Parascha ist der bis heute falsche Gebrauch von „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Bis in unsere Zeit wird dieser Satz verwendet, als würde das Volk der Bibel sowie ihre Nachfolger, die heutigen Juden, blutrünstig einer am andren Rache üben.
Dabei korrigierte mein Schwiegervater Pinchas Lapide schon in seinem Buch „Ist die Bibel richtig übersetzt?“ (Gütersloher Verlagshaus GVH 2004, Bd.1+2, S.73ff) diesen folgenschweren Fehler, der die Vorurteile gegen Juden nur so anheizte. Man muss hier die Übersetzung Martin Bubers lesen, um zu verstehen, was der hebräische Originaltext in Exodus 21 wirklich sagt.

23 Geschieht das Ärgste aber, dann gib Lebenersatz für Leben –
24 Augersatz für Auge, Zahnersatz für Zahn, Handersatz für Hand, Fußersatz für Fuß,
25 Brandmalersatz für Brandmal, Wundersatz für Wunde, Striemersatz für Strieme.

Was sagt der Text also wirklich? Er fordert den Schädiger auf, zu geben, nämlich Ersatz für das, was er beschädigt hat, und das vor einem Richter. Dem Geschädigten ist es verboten, etwas eigenmächtig zu nehmen, also Rache zu üben. Immer wieder verbietet Gott die Rache.
Lev.19,18 Heimzahle (räche dich) nicht und grolle nicht den Söhnen deines Volkes. Halte lieb deinen Genossen, dir gleich. ICH bins.

Eine weitergehende Geschichte zur Parascha sind auf der folgenden jüdischen Seite zu finden:
https://www.synagoge-karlsruhe.de/parshah/article_cdo/aid/839135/jewish/Es-war-einmal-ein-Esel.htm

Wenn dir mein Beitrag gefällt oder du einfach jüdisches Leben in Deutschland unterstützen möchtest, lege ich dir die Chabad-Gemeinde in Karlsruhe ans Herz. Bitte spende für sie, damit immer mehr Juden zurückfinden in ihr Judentum und eine Heimat in dieser Gemeinde finden.
https://www.synagoge-karlsruhe.de/templates/articlecco_cdo/aid/445141/jewish/ber-uns.htm

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