Vorgeschlagen für Sonntag, 28.06.2020, 3. Sonntag nach Trinitatis
18 Wer ist Gottheit wie du, Verfehlung tragend, hinwegschreitend über Abtrünnigkeit dem Rest seines Eigentums! der nicht auf ewig festhält seinen Zorn, denn es verlangt ihn nach Huld! 19 der nun rückkehrend sich unser erbarmtיָשׁוּביְרַחֲמֵנוּ (jaschuw jerachamenu), unsre Verfehlungen bezwingt! Ja, werfen wirst du תַשְׁלִיךְ (taschlich) all ihre Sünden in die Strudel des Meers, 20 Treue אֱמֶת (emet) wirst du dem Jaakob schenken, Huld חֶסֶד (chessed) dem Abraham, die du zugeschworen נִשְׁבַּעְתָּ (nischba‘ta) hast unseren Vätern von den Urtagen קֶדֶם (kedem) her.
Übersetzung Martin Buber, Franz Rosenzweig
- Wer ist der Prophet Micha?
- Warum sind Gottes Eigenschaften so erwähnenswert?
- Einsicht und Selbstreflexion führen zum Staunen
- Einige hebräische Besonderheiten im Predigttext
- Anwendung des Textes an Rosch HaSchana
Wer ist der Prophet Micha?
Der Prophet Micha gehört zu den sog. „Kleinen Propheten“, was sich auf den Umfang seiner Schrift bezieht, nicht auf seine Relevanz. Er wirkte im letzten Drittel des 8.Jh.s zusammen mit Hosea, Jesaja und Amos. Mit Sicherheit war er der Jüngste dieses Quartetts. Seine Worte richteten sich gegen Samaria und Jerusalem, und zwar in der Zeit des Königs Jotam. Die Wirkzeit Michas lässt sich von 722 v.d.Z., also vor dem Fall Samarias, der Hauptstadt des Nordreiches, bis etwa 701 v.d.Z. datieren. Er erlebt sowohl die Belagerung Jerusalems als auch die Verwüstung des Südreiches Juda durch den Assyrer Sanherib.[1]
Auf welche Zeit sich seine Trostworte bspw. in Micha 5 über Bethlehem Ephrata beziehen, darüber streiten die rabbinischen Gelehrten. R. Gradwohl teilt die Ansicht, dass sich ein Teil der Verheißungen immer in der nahen Zukunft des Propheten erfüllt, ein anderer Teil erst in der fernen Zukunft bis hin zur Erfüllung im messianischen Reich.[2]
Warum sind Gottes Eigenschaften so erwähnenswert?
Die Undankbarkeit des jüdischen Volkes ist sprichwörtlich und altbekannt. In den Wochenlesungen aus der Tora sind zahlreiche Treuebrüche von Seiten des Volkes zu lesen. Es anerkennt nicht die großen Wundertaten anlässlich des Auszugs aus Ägypten und während der selbst verschuldeten 40-jährigen Wüstenwanderung. In Mi. 6 führt Gott einen „Rechtsstreit“ mit den Kindern Israel. ER fragt sie, was ER Seinem Volk angetan habe, dass es IHN immer wieder verlasse, IHM immer wieder misstraue.
Gott erinnert an die Errettung aus der Sklaverei, an die „Dreiheit“, die ER als geistige Führer Seinem Volk mit auf den langen Weg gab: „Mose zum Lehren und zur Übergabe der Tora, Aaron zur Sühne für das Volk (Aaron war Hohepriester) und Miriam zur Belehrung der Frauen.“[3]
Gott verließ Sein Volk NIE! ER vergab die Sünde des goldenen Kalbs, die Verweigerung, auf die zwei der zwölf Kundschafter (Num.13) zu hören und sogar die Baal-Verehrung und die sexuellen Ausschweifungen in Num.25,1-9. Gott half gegen jedweden Feinde, handelte es sich um die verfolgenden Ägypter oder die Amalekiter am Bitterwasser. Gott verschaffte den Seinen Sieg.
ER gab Seinem Volk Leitlinien am Sinai und Möglichkeiten, sich IHM zu nähern, aber das Volk hurte mit anderen Göttern und brachte IHM die Opfer nur als reine Routinehandlung, als wäre Gott auf die Opfer angewiesen, die doch ein Teil der menschlichen Seele zu Gott bringen sollten.
Gott will weder Tier- noch Menschenopfer.
Mi.6,7 Hat der Ewige Wohlgefallen an Tausenden von Widdern oder an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen geben für meine Übertretung, die Frucht meines Leibes für die Sünde meiner Seele?
Im historischen Kontext ist die Frage nach Kinderopfern nicht aus der Luft gegriffen. Sie war unter heidnischen Völkern ein gängiger Brauch. Dieselbe Botschaft vermittelt auch die Bindung Isaaks (Gen.22). Gerade durch die verhinderte Opferung Isaaks wird eindrücklich dargestellt, wie sehr die Tora und der ewige Gott Menschenopfer ablehnen.[4]
Wenn der Mensch Gottes Leitfaden, die Tora, für ein sinnerfülltes und gelingendes Leben wirklich gelesen und gelernt hat, so weiß er, was zu tun ist:
Mi.6,8 ER hat dir gesagt, o Mensch, was gut ist und was der Ewige von dir fordert: Was anders als Recht tun, Nächstenliebe üben und demütig wandeln mit deinem Gott?
Einsicht und Selbstreflexion führen zum Staunen
Was im vorigen Kapitel noch ein Rechtsstreit mit Gott war mit all den Konsequenzen, die auf die Abtrennung von Gott folgen, klingt in Kapitel 7 wie eine eigene Einsicht in die Lage des Volkes. Dass es keine ausreichende Ernte mehr gibt, hängt mit der Treulosigkeit und Unzuverlässigkeit eines jeden einzelnen zusammen, der nicht auf die Anweisungen zur Nächstenliebe achtet. Einer vergeht sich am Nächsten, indem er ihn übervorteilt, den eigenen Lohn auf Kosten des anderen sucht und sogar seine nächsten Verwandten belügt und betrügt. Nirgends mehr gibt es einen Ort der Zuflucht, der Vertrautheit und der Geborgenheit – nicht bei Menschen!
Die Beschreibungen sind immer wieder aktuell. Erst vor 30 Jahren wurde die DDR aufgelöst, aber sie ist aus manchem verwundeten Herzen ebenso wenig verschwunden wie die Verbrechen des Dritten Reichs. Wer in diesen Unrechtsregimen Verfolgung und Bespitzelung erlitt und sogar Freunden und den nächsten Verwandten nicht trauen konnte, oder sogar Folter und die Ermordung von Freunden und Verwandten erlebte, der leidet bis heute an dieser traumatisch belastenden Erfahrung. Und selbst nach dem Fall dieser Regime ist unsere Welt von Diktaturen nicht befreit. Immer wieder hören und lesen wir von unrechtmäßigen Verhaftungen, von Misshandlungen, deren Ziel die Beschränkung der Meinungsfreiheit ist. Gier nach Macht führt zu Machtmissbrauch.
Aber auch in demokratischen Staaten ist das Gieren nach Karriere und Erfolg nicht selten gepaart mit Veruntreuung, mit Intrigen, deren Opfer in die Verzweiflung gestürzt werden. Depression, Selbstmord, Morde und Verleumdung, um die eigene Weltsicht skrupellos durchzusetzen. Ich muss keine vollständige Liste inklusiv Mobbing im realen wie im virtuellen Bereich oder von Familientragödien vortragen. Jeder von uns kennt genügend Beispiele für den Verlust der Werte, die uns durch die Bibel vermittelt wurden.
Mi.7,4 … deine Heimsuchung ist gekommen, …
Für all dieses gelebte Unrecht gibt es eine Abrechnung gemäß dem Rechtsstreit mit Gott. Sinn einer solchen Abrechnung ist es, die Ungehorsamen heim-zusuchen, also durch die gerechte Konsequenz wieder zu Gott heim finden zu lassen.
Mi.7,7 Ich aber spähe nach IHM aus, harre auf den Gott meiner Freiheit, erhören wird mich mein Gott.
Micha durchschaut das Szenario, das Vergehen, das zum „Unglück“ führte, aber er kennt den einzigen Ausweg: Die Hinwendung zu Gott, der auf die Umkehr wartet. Micha spricht für sich und für das von Feinden umringte Volk. Das Volk fiel – aber es steht auf. Nicht das Fallen ist problematisch, sondern das Liegenbleiben. Wer aber begriffen hat, dass jede Verfehlung nach Umkehr schreit und jeder Fall nach einem Aufstehen und Neubeginn, der weiß, dass die Feinde besiegt werden und Finsternis in Licht verwandelt werden wird.
Mi.7,8 – Meine Feindin, freu dich mein nimmer! Wenn ich fiel, stehe ich wieder auf, wenn ich in Finsternis sitze, ER ist mir Licht.
Im nächsten Vers 9 spricht Micha für sich und das Volk das Bekenntnis aus: Tragen will ich SEIN Dräuen – denn ich habe gesündigt an ihm -, bis daß meinen Streit er streitet, dartut mein Recht, ans Licht führt er mich hinaus, seine Bewahrheitung sehe ich an.
Micha kann aus dieser Perspektive in die erlöste Zukunft schauen. Die heidnischen Völker, die Israel in ihrer Machtbesessenheit stärker züchtigten als es dem Willen Gottes entsprach, werden zuschanden werden. Sie haben sich zu früh gefreut. Sie werden vor Angst zittern.
Dieser Weg aus der sich immer wiederholenden Schuld und dem göttlichen Zorn hinein in eine neue Friedens- und Freiheitszeit lässt nur staunen. Das Verdienst des Menschen ist es nicht, dass Gott ihn nicht aufgibt. Gäbe es die fremden Götter, mit denen man hurte, hätten sie diese Langmut, diese Treue zum Bund oder würden sie den Menschen in Nullkommanichts vernichten, da sie doch schon der Menschenopfer bedürfen.
Wo gibt es sonst noch einen Gott wie den Gott Israels? Wer stiftet mit Treulosen einen Bund und hält trotzdem dran fest? Nicht mittels Opfer, sondern mittels Einsicht und Umkehr. Ich muss nichts bringen außer einem reuigen und umkehrwilligen Herzen.
Einige hebräische Besonderheiten im Predigttext
In V19 wird Gott selbst als Umkehrender beschrieben. Buber übersetzt sehr passend: der nun rückkehrend sich unser erbarmtיָשׁוּב יְרַחֲמֵנוּ (jaschuw jerachamenu),
Mit „jaschuwu“ wird für Gott derselbe Terminus benutzt wie für die Umkehr der Sünder. Der Sünder muss mittels Einsicht und Reue תְּשׁוּבָה teschuwa = Umkehr leisten. Damit gibt er Gott gleichzeitig eine Antwort, denn Teschuwa bedeutet sowohl Umkehr, Reue als auch Antwort. Umkehr bedeutet also ebenfalls Kommunikation. Gott kehrt um aus Seinem Zorn, getrieben von Seinem großen Erbarmen. רַחֲמִים Rachamim = Barmherzigkeit ist ein Wort, das es nur im Plural gibt, was schon in sich den Willen zu unbegrenztem Erbarmen trägt. Seine sprachliche Wurzel hat die Barmherzigkeit im Wort רֶחֶם rechem = Gebärmutter. Die Mutter gibt unbegrenztes Erbarmen und unbegrenzten Schutz an das Ungeborene, was das Bild für die Barmherzigkeit bietet. Diese Geborgenheit und Leben stiftende Barmherzigkeit treibt Gott um, sodass Er umkehrt und sich wieder hinwendet zu Seinem umkehrenden Volk. Das Gespräch und die Beziehung sind wieder hergestellt.
Die Beziehung besteht durch Gottes Treue – אֱמֶת Emet -, was auch Wahrheit bedeutet. Gott pflegt einen wahrhaftigen und treuen Umgang mit Seinem Volk. Um die Wahrheit zu erleben, braucht es Gott. Das kann an dem Wort Emet gezeigt werden. Ohne den ersten Buchstaben, im Hebräischen der erste Buchstabe Alef, der auch für Gott stehen kann, heißt das Wort מֶת „met“ = tot. Leben und Wahrheit entstehen, wenn Gott an die erste Stelle tritt und das Wort „Emet“ entsteht.
Das konnten die Kinder Israel erleben: Sie waren geistig tot, als sie sich von Gott und Seiner Wahrheit trennten. Erst durch die Umkehr und die Akzeptanz Gottes als den eigentlichen Herrscher finden sie zurück zur tragfähigen Wahrheit und Treue Gottes.
Treue und tätige Liebe (Chessed) hat Gott bereits Abraham versprochen. ER hat sie Abraham zugeschworen, einen Schwur geleistet, der sich in all den erneuerten Bundesschlüssen immer wieder bestätigte. Gott seinerseits leistete diese שְׁבוּעָה schwu’a = Eid, Schwur. In dem Wort steckt die Wurzel שֶׁבַע schewa = sieben bzw. שָׂבְעָה ßow‘a = Sattheit. Somit bedeutet der Schwur Gottes, dass ER für Fülle und Sättigung Seines Volkes sorgen wird. Diese Bedeutung trägt der beliebte Name Elisabeth = Elischewa = Gott ist meine Fülle, Gott hat mir Fülle zugeschworen.
Gottes Versprechen gelten seit Urzeiten. Sie haben tiefe Wurzeln in der Geschichte des jüdischen Volkes. Aber sie weisen auch nach vorne, denn aus kedem leitet sich das Wort קָדִימָה kadima = vorwärts ab. Die alten Zeiten und Werte geben Ansporn für die Zukunft.
Anwendung des Textes an Rosch HaSchana
Der vorliegende Predigttext wird zu einem besonderen Ritual am jüdischen Neujahrsfest gebetet, welches „Taschlich“ heißt. Es bezieht sich auf V 19, wo es heißt: Du wirst werfen = taschlich. Rosch HaSchana ist nicht vergleichbar mit dem christlichen oder weltlichen Neujahrswechsel, denn dieser Tag, welcher in der Bibel (3.Mo 23:24) „Tag des Gedächtnisschmetterns“ (Buber) genannt wird, ist ein Tag, an dem das Schofar zum Aufrütteln der Gläubigen geblasen wird. Sie sollen aufgerüttelt werden aus ihrer Routine durch diesen „herzzerreißenden“ Ton und dazu angeregt werden, ihr Leben mit all seinen Verfehlungen zu überdenken. Diese Bußzeit dauert 10 Tage bis Jom Kippur und ist getragen von Gottes Versprechen, unsere Sünden zu bedecken (לְכַפֵּר – lechaper = bedecken) bzw. unsere Sünden in der Tiefe des Meeres zu versenken. Das Meer bedeckt damit die Sünden, die wir nicht vergessen, weil sie ein Bestandteil unserer Lebenserfahrungen ausmachen. Außerdem erinnern die jährlich sich wiederholenden Gebete an die Vergehen der Vergangenheit. Ziel ist nicht das Vergessen, sondern das Wachsen an den Verfehlungen und das Transformieren des Schlechten in Gutes.
Die Buße dieser 10 Tage geht also von vornherein nicht ins Leere, sondern wendet sich an den EINEN, den barmherzigen und vergebenden Gott. Diese Gewissheit ermutigt zur Buße.
Am Nachmittag von Rosch HaSchana gehen einige Juden einem nicht allgemeingültigen Brauch nach, diese Verse aus Micha an einem Gewässer zu sprechen, in dem es möglichst Fische geben soll. Dort dreht man symbolisch die Mantel-oder Hosentaschen nach außen, um all die kleinen Krümel und Reste darin auszuleeren, sich von dem Alten, Unnützen zu trennen wie man sich von seinen Sünden trennt.
Fische gelten als die stummen Zeugen Gottes, weil sie die Augen nie schließen. Dadurch entsteht der Eindruck, sie könnten zu jeder Zeit alles sehen. Außerdem zeugen sie von Lebendigkeit, von der Kraft, gegen den Strom zu schwimmen und sich reichlich fortzupflanzen. Wer den Geboten der Tora gehorcht, muss nicht selten „gegen den Strom“ schwimmen. Christen kennen das Lied:
Sei ein lebendger Fisch,
https://musikguru.de/snubnose/songtext-sei-ein-lebendger-fisch-183259.html
Schwimme doch gegen den Strom!
Auf, und wag es frisch:
Freude und Sieg ist dein Lohn.
[1] Roland Gradwohl, Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen, Calwer Verlag Stuttgart³ 2002, Bd. 1, S.235
[2] Ebd.
[3] Ebd. Bd.2, S.322
[4] Beispiele für Kinderopfer oder deren Andeutung: die Könige Ahas (735-715) und Manasse (687-642) ließen „ihren Sohn durchs Feuer ziehen“ (2.Kö.16,3; 21,6) Das mag dem Sohn nicht das Leben gekostet haben wie die kanaanäischen Kinderopfer für den Ba’al. (Dtn.12,31; Jer.7,31; 19,5). Trotzdem entspricht ein solcher „Feuersprung“ heidnischen Ritualen, welche die Tora verbietet. Sprichwörtlich ist das Hinnomtal, in welchem dem Moloch Kinder geopfert wurden. > Jer.32,35; Ez.20,31; Verbot in Lev.18,21; 20,2-5