11. Tewet 5781, 26. Dezember 2020

Wajigasch – und er konfrontiert

Es ist das Schlimmste eingetreten: Benjamin ist als Dieb festgesetzt. Es kommt alles auf Jehuda an, der vor den Vizekönig tritt und ihn konfrontiert. Er beginnt die ganze Geschichte und Tragik vor dem fremden Herrscher auszurollen. Immerhin hat er versprochen, Benjamin zum Vater zurückzubringen. Er hat Verantwortung übernommen, die er sicher durch seine Schwiegertochter Tamar in Kap. 38,15ff gelernt hat, als er nicht bereit war, ihr den jüngsten Sohn zu Mann zu geben. Darum „verführte“ sie ihren Schwiegervater, um von ihm schwanger zu werden und nicht als verwitwete, kinderlose Frau leben zu müssen.
Jehuda spricht mit einer Kraft und Intensität über seinen Bruder und die Beziehung zum Vater, dass es Jossef zu Herzen geht. Jehuda konfrontiert ihn mit dem Leid des Vaters, wie schwer es für ihn war, Benjamin ziehen zu lassen. Aber seine Brüder und er konnten den Vater überzeugen, indem Jehuda die Verantwortung übernahm. Er spricht auch über das eigene schuldhafte Verhalten gegenüber dem verlorenen Bruder, von dem der Vater glaubt, er sei von einem wilden Tier zerfleischt worden. Er möchte durch seine konfrontative Rede diesen mächtigen Mann überzeugen, Benjamin freizulassen und dadurch seinen alten Vater Jaakob vor weiterem Leid zu bewahren. Jehuda ist bereit, an Benjamins Stelle in Ägypten zu bleiben, was immer ihn dort erwartet.

Jossef gibt sich zu erkennen

Zum dritten Mal kann Jossef sich kaum bezähmen und die Tränen zurückhalten. Alle Umstehenden schickt er hinaus, als er sich endlich seinen Brüdern zu erkennen gibt. Unter Weinen spricht er zu ihnen:
Gen. 45,3 Ich bin Jossef. Lebt mein Vater noch?
Er fragt nicht nach der Mutter, weil er weiß, dass sie tot ist. Es ist, als sollten ihn die Brüder schon anhand dieser gezielten Fragestellung erkennen.
Noch einmal spricht er ihnen zu: Gen. 45,4 Tretet doch zu mir heran! Sie traten heran. Er sprach: Ich bin Jossef, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt.

Von Papst Johannes XXIII ist überliefert, dass er eine jüdische Delegationen unter Teilnahme meines Schwiegervaters Pinchas Lapide mit den Worten begrüßte: „Herzlich willkommen, ich bin Jossef, euer Bruder.“ Er wollte damit seine Verbundenheit mit den älteren, jüdischen Geschwistern deutlich machen. Nach zwei Jahrtausenden der Verleugnung gibt der Papst zu, dass er Bruder der Juden ist. Vielleicht ahnte er, dass sich die christlichen Kirchen durch eine falsche Auslegung der Schrift, durch Übersetzungsfehler, durch langjährigen christlichen Hochmut zu einem verlorenen bzw. verschollenen Sohn entwickelt hatten. Er wollte die Geschwisterlichkeit der beiden Religionen betonen, weshalb er die Juden „die älteren Geschwister“ nennt.

Jossef muss seinen Brüdern Mut machen, heranzutreten. Er weiß aus all ihren Reden, ob untereinander oder ihm gegenüber, dass sie ihre Tat bereuen. Darum erklärt er ihnen, dass nicht sie ihn nach Ägypten gesandt haben, sondern allein Gott, der wusste, wie er sein Volk am Leben erhalten wollte.
Gen. 45,3 … Aber seine Brüder vermochten ihm nicht zu antworten, denn bestürzt waren sie vor seinem Antlitz.
מִפָּנָיו mipanaw = von seinem Angesicht. Eigentlich müsste es heißen לפָּנָיו lepanaw = vor seinem Angesicht. Damit wird deutlich, dass Jossefs Ausstrahlung die Brüder bestürzt sein lässt. Sie können nicht antworten.
Gen. 45,6 Denn zu Lebenserhaltung sandte mich Gott vor euch aus. Denn zwei Jahre ist schon der Hunger drinnen im Land und noch fünf Jahre sinds, da kein Pflugriß und Kornschnitt sein soll.
Gott hat alles in der Hand. Die Anwesenheit Jossefs in Ägypten, die Dauer der Notlage. Die von Gott bestimmte Hungersnot wird ihre gesamte Zeit von 7 Jahren dauern, nichts wird diesen Plan ändern können. Auch unsere Coronazeit wird die von Gott geplante Zeit in Anspruch nehmen, egal wie wir dagegen angehen und demonstrieren.
Gen. 45,8 Nun also, nicht ihr habt mich hierher gesandt, sondern Gott! Er hat mich zu einem Vater bei Pharao und zum Herrn all seinem Haus und Walter in allem Land Ägypten gesetzt.
Gott hat Jossef zum Vater für Pharao und für Ägypten gemacht. Somit hat er eine Funktion, die sogar menschlich über dem Pharao steht. Wir haben in Kap. 41,55 gesehen, dass Pharao sich von allem zurückzog und die Verteilung der Nahrung allein Jossef überließ.
Gen. 41,55 Als nun alles Land Ägypten hungerte und das Volk zu Pharao um Brot schrie, sprach Pharao zu allem Ägypten: Geht zu Jossef, was er euch zuspricht tut.
Ein Vater hat Autorität, ist fürsorglich. Das traut Pharao dem Jossef zu. Jossef selbst hatte bis zu diesem Zeitpunkt keinen Vater mehr, durfte aber für den Pharao zum Vater werden. Er darf durch seine Ausstrahlung, vor der ja auch die Brüder verstummen, sogar einem Heiden seine väterliche Autorität schenken. Damit zeigt er dem Pharao gleichzeitig, wie Gott für uns Menschen als Vater da ist und sorgt.
Nach all den Jahren möchte Jossef nun endlich seinen Vater wiedersehen. Darum schickt er die Brüder eilig zu ihm mit der Nachricht, dass er Vizekönig von Ägypten ist. Da er weiß, dass seine Brüder Hirten sind, verschafft er ihnen einen Lebensraum im Lande Goschen. Es ist ihm nämlich auch bekannt, dass die Ägypter Schafe vergöttern und es darum unter den Ägyptern keine Hirten gibt, die Nutzvieh weiden. Jossef will für Jaakob sorgen und er erklärt, dass noch fünf Jahre Hungersnot vor ihnen liegen. Die Brüder scheinen zu zweifeln, denn Jossef braucht zehn Verse, um sich auszuweisen. Er ruft die Augen der Brüder und die Augen Benjamins zu Zeugen, dass er, ihr Bruder, mit ihnen redet. Er fällt schließlich Benjamin um den Hals, danach allen Brüdern. Es ist nur ein kurzer Satz, der uns verrät, dass danach seine Brüder mit ihm redeten.
Gen. 45,15 Er küßte alle seine Brüder und weinte an ihnen. Danach redeten seine Brüder mit ihm.
Worüber haben Sie gesprochen?  Konnte Jossef ihnen seine Geschichte erzählen?  Konnten die Brüder  erzählen,  wie es den Seinen zu Hause erging?  Haben sie ihm vom Leid des Vaters um ihn erzählt  und von der nicht enden wollenden Trauer? Die Begrüßungsfreude war so groß, dass sie weithin zu hören war und auch der Pharao davon erfuhr. Und es war gut in seinen Augen.
Gen. 45,16 Gehört wurde die Stimme in Pharaos Haus, man sprach: Jossefs Brüder sind gekommen! Gut wars in Pharaos Augen und in den Augen seiner Diener.

Der Pharao als Wohltäter

Nun muss man sich vorstellen, was es heißt, dass Pharao selbst für die Brüder sorgt und ihnen Wagen mitgibt, damit sie ihre Frauen und Kinder nach Ägypten bringen können. Ihnen steht alles zur Verfügung, was es ist in Ägypten gibt. Nun wird er zum Vater für Jossefs Familie, indem er ihnen alles zur Verfügung stellt, was sie brauchen. Er gibt die Fürsorge zurück, die er bisher erfahren hat. Die Familien brauchen es nicht zu bedauern, wenn sie etwas in Kanaan zurücklassen müssen.
Mit reichen Gaben können sie zum Vater ziehen, mit Kleidern, mit Getreide, mit Wegzehrung. Der Vater erhält besondere Gaben, die ihn von Jossefs hohem Stand überzeugen sollen. Er ist seinem Vater und seinem Glauben treu geblieben, ein guter Sohn, der nun allein die Sorge zu tragen bereit ist. Wieder ist zu sehen, dass er jeden beschenkt, aber Benjamin mit reicheren Gaben. Vielleicht ist es auch darum, dass er seine Brüder ermahnt, unterwegs nicht zu streiten. Andererseits heißt es in Gen. 45,21 Die Söhne Jissraels taten so, Jossef gab ihnen Wagen nach Pharaos Geheiß und gab ihnen Zehrung auf den Weg,
Es sind hier die gereiften Söhne, die Stammväter ihre Sippen, die Verantwortung übernehmen und einmal zum Volk werden sollen. Sie brauchen nicht um die Vorrangstellung zu streiten, denn sie werden dankbar sein, dass Benjamin bei ihnen ist und sie eine gute Botschaft zu ihrem Vater bringen können. Sie wissen nun auch, dass sie nicht um ihre Schuld streiten müssen, denn sie sind nicht Gott. Nur Gott hatte die Macht, Jossef dorthin zu bringen.

Jissrael im Wechselbad der Gefühle

Von Ägypten ziehen sie hinauf ins Land Kanaan, nach Ägypten ziehen sie hinunter, denn der Weggang von dem verheißenen Land ist immer ein Abstieg. Noch heute ist die Einreise nach Israel eine Alija, ein Aufstieg.

Jaakobs Herz bleib kalt, starr, er glaubte seinen Söhnen die gute Nachricht nicht. Und wenn Jossef wirklich in Ägypten lebt, hat er dann vielleicht den Glauben seiner Väter abgelegt? Er muss all die guten Dinge sehen, die ihm sein Sohn sandte, bevor mit Entschlossenheit kundtat, zu Jossef gehen zu wollen.
Gen. 45,27 Sie redeten nun zu ihm alle Rede Jossefs, die er zu ihnen geredet hatte, er sah die Wagen, die Jossef gesandt hatte, ihn hinzutragen, und der Geist ihres Vaters Jaakob lebte auf.
Der Geist ihres Vaters Jaakob lebte auf. Geist gleich רוּחַ Ruach ist die zweite Stufe der fünf Vergeistigungen. Ruach ist das, was das Leben in uns gibt, was uns zu handlungsfähigen Menschen macht und uns gegenüber der Nefesch fähig macht zur Gotteserkenntnis. Der Vater lebt wieder auf, vermutlich nach 22 Jahren der Trauer und Verzweiflung.
Gen. 45,28 Genug! mein Sohn Jossef lebt noch, ich will hingehn und ihn sehen, ehe ich sterbe.
Wir können uns seine Lebendigkeit und Kraft vorstellen, wenn er aufsteht und spricht, was der Geist in ihm neu belebt. Jissrael spricht, nicht nur der Stammvater, sondern der Verantwortliche für seine Söhne und für sein Kollektiv. Er weiß, das Jossef sein Sohn geblieben ist, der seine Werte beherzigt.

Jissrael kommt nach Ägypten

Gen. 46,1 Jissrael wanderte mit allem, was sein war, und kam nach Berscheba. Er schlachtete Schlachtgaben dem Gott seines Vaters Jizchak.
Als der Verantwortliche bricht Jissrael er zu seiner Reise auf mit allem, was ihm gehört. Doch in dieser Situation denkt er an seinen Gott, den Gott seines Vaters Jizchak. Es ist hier der Gott Jizchaks, seines Vaters, an den er denkt, vermutlich weil er diesen ebenfalls 20 Jahre nicht gesehen hat. Nicht ohne eine Opfergabe an diesen ihm treuen Gott, der ihm zweimal in Bet El begegnet war, will er aus seinem Land aufbrechen.
Und Gott erscheint ihm aufs Neue, spricht ihn mit seinem alten Namen Jaakob an. Er spricht ihn als den Sohn seines Vaters an und als Stammvater. Auch im folgenden Vers stellt Gott sich als Gott Jizchaks vor. Fürchte dich nicht, die Botschaft, die bis heute durch die Welt schallt, die so oft in der Bibel vorkommt, dass sie uns jeden Tag begleiten kann. Gott ermutigt Jaakob, nach Ägypten hinabzuziehen, denn ER selbst will nach Ägypten hinabziehen. ER ist ein in allen Lagen mitgehender Gott. Wie lange es auch immer dauern wird, ein großes Volk wird entstehen, das Gott selbst wieder herausführen wird. Jaakob braucht sich nicht vor dem Tag seines Todes zu fürchten, denn Jossef wird bei ihm sein.
Beer Schewa ist der richtige Ort für diese Begegnung, denn es ist ein Ort der Fülle, ein Ort des Schwurs. An diesem Ort war Gott schon Jaakobs Vater Jizchak erschienen und hatte ihm viele Nachkommen um Abrahams Willen versprochen. Jizchaks Knechte waren es, die diesen Brunnen bohrten und somit dem Brunnen und der Stadt den Namen gaben. Hier opferte Jizchak Gott Dank.
Gen. 26,25 Er baute dort eine Schlachtstatt und rief den NAMEN aus. Dort spannte er sein Zelt, und Jizchaks Knechte bohrten dort einen Brunnen.
Die Bedeutung der Väter wird uns klar, denn so wird auch durch Jaakob seines Vaters Jizchaks gedacht.
Im Folgenden werden uns die Namen all derer aufgezählt, die nach Ägypten auswanderten. Dabei ist es nicht unwichtig, dass auch die Mädchen, also die Töchter der Söhne und Dina als Tochter Jaakobs genannt werden. 70 Seelen kamen nach Ägypten, ein Pendant zu den 70 Völkern, die nach dem Turmbau zu Babel zerstreut wurden. 70 heidnische Völker stehen 70 Menschen gegenüber, die zum Volk Jissrael gehören. Jedes heidnische Volk wird das Licht aus dem jüdischen Volk sehen und damit den EINEN Gott.
Jehuda hatte sich bewährt, und so solle er nun dem Tross vorausziehen.  In Goschen trifft Jossef auf seine Familie und begrüßt seinen Vater, weint lange an seinem Hals. Für Jaakob ist das die Erfüllung eines langen Traums, den er vermutlich nicht zu träumen gewagt hatte. Jossef meldet seine Familie beim Pharao an und gibt seinen Brüdern und dem Vater die Anweisung, zu sagen, dass sie von jeher Hirten sind. Dann werden sie in diesem furchtbaren Landstrich siedeln können, denn die Ägypter mögen Schafzüchter. Als Hirten will er gerne die fähigsten Männer der Brüder anstellen. So wie Jossef gleich einem guten Hirten den Ägyptern dient, sollen auch die Brüder für Pharaos Tiere sorgen.
Über die ganze Vorstellungszeremonie in Kapitel 47 fällt besonders auf, dass Jaakob vor Pharaos Antlitz steht. Gen. 47,7 Dann ließ Jossef seinen Vater Jaakob kommen und stellte ihn vor Pharaos Antlitz. Jaakob segnete Pharao. Was tut dieser Mann? Jaakob segnete Pharao. Auf die Frage nach seinem Alter fügt er noch hinzu, was ihm diese Jahre bedeuteten. Sie sind eine Pilgerschaft auf Erden, womit er andeutet, dass das Leben hier ein Unterwegssein ist zu einem größeren Ziel. Auf Erden sind wir nur ein Gast. Diese Wanderschaft kann auch schwierig sein, wie Jaakob dem Pharao erzählt. 130 Jahre ist er zu diesem Zeitpunkt alt, was uns wiederum zur Bedeutung der Zahl 13 führt, zu Liebe und Einheit.
Bevor Jaakob geht, segnet er wiederum den Pharao. Er führt die Segnungen weiter, die seinem Großvater Abraham verheißen wurden.
Gen. 47,10 Jaakob segnete Pharao und ging von Pharaos Antlitz.

Bitte lesen Sie doch einige Gedanken nach bei https://www.synagoge-karlsruhe.de/parshah/default.htm. Dort können Sie auch weitere interessante Geschichten finden.

Kommentar verfassen