Schabbat NOACH am 3. Cheschwan 5782; 9. Oktober 2021
Jesaja lebt als Prophet in einer konfliktreichen Zeit politischer Spannungen, in der Israel in einem Zustand der Orientierungslosigkeit ist. Er stammt aus Jerusalem und spricht als Hofprophet sowohl mit den Königen als auch mit dem Volk. Er hält Kontakt mit den Königen des Südreiches, denn er will sie an ihre Verfehlungen ermahnen.
Dass Jesaja aus der Aristokratie kommt, sieht man daran, dass er mit Königen auf Du und Du steht. Als Sohn des Amoz = der Mutige ist er der Neffe eines früheren Königs. Amoz war der Bruder des Königs Usijahu (2. Chron. 26) Aber als Navi נָבִיא = Künder – Überbringer des Wortes Gottes (לְהָבִיא lehawi = bringen, נָבִיא nawi = wir werden bringen), Prophet ist Jesaja bereit, auf all das große Ansehen zu verzichten.
Da er Künder sowohl für das Süd- wie das Nordreich war, ist auch sein Prophetenbuch so lang. Jesaja warnte das Nordreich vor dem anstehenden Exil, dann auch vor der Zerstörung des Nordreichs 587 v.d.Z. durch die Babylonier. Er gibt sein ganzes Herz, um das Volk zu warnen. In allem ist er bereit, sein Blut zu geben sowohl für die harten Worte als auch für die Tröstungen. „Nach jeder Drohbotschaft folgt eine Trostbotschaft.“ (P. Lapide)
Jesaja verkündet Freude und sieht das Licht am Ende eines jeden Tunnels, wenn er harte Strafen ankündigen muss, wie beispielsweise den Untergang des Nordreiches 722 v.d.Z. Der König Salmanasse deportiert die zehn Stämme ins Exil nach Assyrien und das zerstört Land.
In der vor uns liegenden Haftara haben wir es mit einer solchen Trostbotschaft zu tun.
Schon in Kap. 52 stellt Gott die Erlösung Jerusalems in Aussicht:
Jes. 52,2 Schüttle den Staub von dir ab, steh auf und setze dich hin, Jerusalem! Mache dich los von den Fesseln deines Halses, du gefangene Tochter Zion! 3 Denn so spricht der Ewige: Umsonst seid ihr verkauft worden, so sollt ihr auch ohne Geld erlöst werden!
Wenn ER im selben Kapitel von Seinem Knecht spricht, so wissen wir, wer gemeint ist, aus
Jes. 49,3 Du bist mein Knecht, bist Israel, durch den ich mich verherrliche.
Um diesen Knecht, um Israel, ging es bereits in Kap. 53, wo das Leiden des Volkes dargestellt wird. Wir können Jes. 53 vor dem Hintergrund des bevorstehenden Exils und der Zerstörung des Landes lesen oder vor dem Hintergrund der uns besser bekannten Bilder der Schoa, dann verstehen wir, wie Israel als Gesamtheit gelitten hat, was es ertragen hat. Es hatte nicht mehr das Erscheinungsbild eines Menschen, Haut und Knochen boten eine unansehnliche Gestalt, glattrasierte Köpfe mit hohlen Wangenknochen boten kein menschliches Antlitz, doch trug dieses bis zur Unkenntlichkeit gequälte Volk die Schuld der Mörder und Verfolger und sühnte sie.
Jes. 53,12 drum teile ich die Vielen ihm zu, die Menge teilt er als Beute, dafür daß er entblößte seine Seele zum Tode, unter die Abtrünnigen gerechnet ward. Und trug doch, er, die Sünde der Vielen, für die Abtrünnigen ließ er sich treffen.
Israel wurde schuldig gesprochen und für abtrünnig gehalten, Gottes Bund wurde ihm abgesprochen, jedoch nicht von Gott, sondern von verblendeten, hochmütigen Menschen. Denn in seinem eigenen Leid liegt die Erlösung für die wahrhaft Abtrünnigen.
Darum kann unser Text mit dem Jubel beginnen:
Jes. 54,1 Freue dich, du Unfruchtbare, die du nicht geboren hast! Brich in Jubel aus und jauchze, die du nicht in Wehen lagst! Denn die Vereinsamte wird mehr Kinder haben als die Vermählte!, spricht der Ewige.
Israel erlebte als Konsequenz für seinen Ungehorsam gegen Gott das Leid und die Zerstörung, aber es wurde vom Feind über Gebühr gemartert. Jetzt schafft Gott dem Volk Israel, das so viele Menschenleben einbüßte und sich nun wie eine unfruchtbare Frau fühlt, wieder Kinder und neues Leben. Israel ist sogar gehalten, seinen Wohnraum zu erweitern, damit jeder hineinkommen kann. Die Heidenvölker gehören ab jetzt Israel, und es bewohnt verlassene Städte.
„Fürchte dich nicht!“, ruft Gott zum wiederholten Male Seinem Volk zu. Die Vergangenheit ist vorbei! Gott selber ist Israels treuer und liebender Ehemann. ER ist kein Geringerer als der Schöpfer der ganzen Welt; Er verfügt über mächtige Engelheere; Er ist der Erlöser Israels! So klar und deutlich steht das als festgeschriebene und immer gültige Aussage! Der ewige Gott erlöst Israel, das sich nicht mehr schämen muss, denn ER gedenkt der vergangenen Sünden nicht mehr! ER bedeckt Sünden wie an Jom Kippur (lekaper לְכַפֵּר bedecken; tekupar תְּכֻפָּר bedeckt). Und wer wollte Gott vorschreiben, wie ER zu erlösen hat?
Gott wendet sich Israel wieder zu, nimmt es auf wie ein Ehemann, der die große Jugendliebe erneut heimführt, der die verlassene Frau wieder aufnimmt und ihr Schutz bietet.
Ja, Gott hat Israel einen kleinen Augenblick verlassen. Dem Volk erscheint es mit Sicherheit wie eine halbe Ewigkeit. Aber die Zusage des sich erbarmenden Gottes steht. Sie ist schon jetzt zuverlässig, da das Volk die Botschaft mitten in seinem Schmerz hört.
„Spürst du auch jetzt noch meinen Zorn, meinen ganzen Ärger über deine Lieblosigkeit und Untreue, so darfst du zur selben Zeit jubeln und dich freuen, denn ICH erbarme mich über dich. ICH sammle dich wieder und führe dich nach Hause, denn ICH liebe dich mit unaufhörlicher Liebe.“
Der folgende Vers bildet die Verbindung zur Paraschat Noach. Gott vernichtete die Menschheit, die derart verkommen war, weil sie sich von Gott getrennt hatte. Nur 8 Menschen wurden in der Arche gerettet. 8 ist die Zahl der Transzendenz und gibt den Geretteten die Kraft zum Neuanfang.
Die Arche heißt תֵּבָה Tewa, was ein alter Ausdruck ist für „Wort“. Damit wird dem Bibelleser klar, dass Gott diese 8 Menschen in Seinem ewig gültigen Wort rettete.
Durch das Wort Gottes werden auch die Israeliten gerettet, denn Gott erinnert sich, wie ER versprach, die Erde nicht mehr vernichten zu wollen. Mit der Sünde der Menschen würde ER auf andere Weise fertig, nämlich durch Vergessen, durch das Werfen der Sünden in die Tiefen des Meeres. So mächtig ist Gott, dass ER das entscheiden kann! Und so entschied ER nun, mit dem Volk nicht mehr zu grollen und es nicht mehr zu bedrohen.
Dafür befleißigt sich Gott noch eines zusätzlichen starken Vergleichs, der zu einer Zeit mein Konfirmationsvers wurde, als ich seine Tiefe noch nicht verstand, noch nicht wusste, dass diese Zusage zuerst Israel gilt:
Jes. 54,10 Ja denn, die Berge mögen weichen, die Hügel mögen wanken, meine Gnade weicht nicht von dir, der Bund meines Friedens wankt nicht, hat dein Erbarmer, ER, gesprochen.
Sogar die Natur kann außer Rand und Band kommen, Erdbeben von unvorstellbarer Stärke, oder wie wir es erlebten, Wassermassen von unglaublichem Ausmaß, aber Gottes Gnade und Liebe ist stärker als das alles zusammen.
Im Hohelied heißt es: 8,6 Denn die Liebe ist stark wie der Tod, und ihr Eifer unbezwinglich wie das Totenreich; ihre Glut ist Feuerglut, eine Flamme des HERRN. 7 Große Wasser können die Liebe nicht auslöschen, und Ströme sie nicht ertränken.
Es gibt rein gar nichts, was Gottes Liebe zu Israel beenden könnte oder Seinen Friedensbund mit Seinem Volk auch nur wackeln lassen könnte! Niemand und nichts wird diesen Bund jemals aufkündigen! Wenn Israel sich einseitig aus dem Bund verabschiedet, so spürt es den Schmerz Gottes, der verletzt reagiert wie ein betrogener Bräutigam, aber ER lässt nicht locker! Es gibt erneut ein Hochzeitsfest! Israel wird Gott in der Tiefe erkennen, was einziger Sinn dieser Beziehung ist!
Hos. 2,21 Und ich will dich mir verloben auf ewig, ich will dich mir verloben in Gerechtigkeit und Recht, in Gnade und Erbarmen; 22 ja, ich will dich mir verloben in Treue, und du wirst den HERRN erkennen!