Empfohlen für Palmsonntag 5.04.2020

1 Es war nun zwei Tage vor Pessach (das ist das Fest der Mazah), und die Haupt-Kohanim und die Toralehrern versuchten, eine Möglichkeit zu finden, Jeschua heimlich gefangen zu nehmen und ihn hinrichten zu lassen; 2 denn die sagten: „Nicht während des Festes, oder die Leute werden einen Aufstand machen!“
3 Während er sich in Beth-Anjah im Hause Schim’ons aufhielt, des Esseners[1], kam, als er gerade beim Essen saß, eine Frau mit einem Alabastergefäß mit Parfüm, reinem, sehr kostbarem Nardenöl, zerbrach das Gefäß und goss das Parfüm über sein Haupt. 4 Doch manche der Anwesenden sprachen ärgerlich: „Warum diese Verschwendung von Parfüm? 5 Man hätte es für einen Jahreslohn verkaufen und den Armen geben können!“ Und sie schalten sie. 6 Aber Jeschua sagte: „Lasst sie. Warum beunruhigt ihr sie! Sie hat ein schönes Werk für mich getan. 7 Denn die Armen werdet ihr immer bei euch haben; und ihr könnt ihnen helfen, wann immer ihr wollt. Mich aber werdet ihr nicht immer haben. 8 Was sie tun konnte, hat sie getan – im Voraus goss sie Parfüm auf meinen Leib, um mich für das Begräbnis vorzubereiten. 9 Ja, ich sage euch, dass, wo immer auf der ganzen Welt diese Gute Nachricht verkündigt wird, erzählt werden wird, was sie getan hat, zu ihrer Erinnerung.“

Jüdisches Neues Testament, David Stern, Hänssler-Verlag

Der vorliegende Text gibt als Zeitpunkt des Ereignisses zwei Tage vor Pessach an. Es ist das Fest des Überschreitens sowie der ungesäuerten Brote, beides gehört zu diesem Fest, das Jesus im Verlauf dieses Kapitels mit seinen Schülern feiern möchte. Dazu werde ich eine eigene Auslegung vor Gründonnerstag schreiben, denn am Mittwoch, 8.4.2020 feiern wir Juden den Sederabend des Pessachfestes. Der christliche Gründonnerstag wird in diesem Jahr unser erster Tag von Pessach sein.

Die Bedeutung Jesu in den jüdischen Gruppen

Die Bedeutung des Festes lässt sich erahnen, wenn man die Unruhe bei den Haupt-Kohanim, den Hohepriestern und den angeführten Toralehrern hört. Beide hier vereint genannten Protagonisten waren in der Realität keine Freunde. Die Priester und Hohepriester gehörten zu den Sadduzäern, den „Buchstabilisten“, um einen Begriff von Martin Luther an dieser Stelle zu benutzen. Sie klammerten sich an den „Buchstaben des Gesetztes“, der ihnen den Tempel- und Opferdienst vorschrieb.
Die Toralehrer waren mehrheitlich Pharisäer, aber einige legten auch ohne Zugehörigkeit zu einer Gruppe die Tora, die fünf Bücher Mose, aus. Jeder Toralehrer unterschied sich aber von den Sadduzäern, weil er in der Tora mehr sah als nur den Buchstaben; für ihn war die Tora erklärungswürdig. Trotzdem ziehen diese beiden Gruppen bezüglich Jesus an einem Strang.
Um es zu veranschaulichen, sei erklärt, dass es selbst unter den Pharisäern (Peruschim פרושים = Ausleger, verwandt mit dem Wort Parascha פרשה, der wöchentlichen Toralesung) mehrere Gruppen gab; Schalom Ben Chorin spricht von sieben unterschiedlichen Gruppen mit unterschiedlich strengen Ansichten aus. Es gab wahrscheinlich sogar eine sehr radikale Gruppe, die vor der Tötung eines vermeintlichen Widersachers nicht zurückgeschreckt hätte.
Hier muss es sich jedoch um eine kleine Gruppe handeln, die Jesus beiseite schaffen will, sonst müssten sie nicht solch eine Furcht vor einem Aufstand haben. Jesus hat seine Anhänger unter den Juden, besonders unter den Pharisäern, mit denen er in der Glaubensausrichtung völlig konform geht. Sie glauben gemeinsam an Engel, an die Auferstehung und ein Leben nach dem Tod, sie wollen gemeinsam Gottes Wort leben und im Alltag anwenden, weshalb die Diskussion über die Auslegung der Tora so wichtig ist. Seine Ansichten finden Anklang bei vielen Pharisäern, die ihn „Rabbi“ nennen oder „Meister“. Er wird gefragt, er wird ernst genommen. Deshalb könnte es einen Aufstand unter denjenigen geben, die auf seine Weisheit nicht verzichten wollen. Zum Wallfahrtsfest Pessach kommen viele Juden aus dem ganzen Land, um ihr Opfer zum Fest zu bringen. Und im ganzen Land ist der Wanderprediger Jesus bekannt. Viele, die ihn schätzen, zudem eine fast unerträgliche Enge in der Stadt, das erfordert vorsichtiges Handeln der wenigen, aber mächtigen Feinde Jesu.

Jesus im Hause des Esseners

Jesus befindet sich in Bethanien בְּבֵית-עַנְיָה, dem „Haus der Armut“ im Hause des Simon שִׁמְעוֺן, dem Hörenden. Daraus lässt sich schon einiges über dieses Treffen sagen. Jesus geht dorthin, wo es Armut gibt oder gab. Dieser Ort wird von der Armut gezeichnet gewesen sein, großen Luxus wird man dort nicht gefunden haben. Dorthin geht der Mann aus Beth Lechem, aus dem „Haus des Brotes“. Er bringt geistige und reale Speise zu den Menschen. Hier wohnt ein Mann, der hören will, der neugierig ist auf Jesu Lehre zur Tora, über Gott und über das keusche und Gott wohlgefällige Leben.
Der Hörende ist Simon, der Essener, wie Pinchas Lapide erklärt. Sowohl im Talmud[2] als auch in der Literatur des Josephus Flavius gibt es einen Simon, den Essener, der vor der Tempelzerstörung in oder bei Jerusalem lebte. (P. Lapide S.109) Des Weiteren führt Pinchas Lapide an, dass die Essener sehr enthaltsam und keusch lebten, und auch die Hilfsbereitschaft bei ihnen eine große Rolle spielte. Das passt sowohl zur ablehnenden Haltung gegenüber der Frau als auch der Kritik an der vermeintlichen Verschwendung der Salbe.

Die namenlose Frau

Frauen spielen in Jesu Leben eine große Rolle. In der patriarchalen Welt der Talmudväter wurden die Frauen aus dem Kult ausgeschlossen, obwohl sie in der hebräischen Bibel eine wichtige Rolle spielten. Dabei mag es sich durchaus um einen Schutz der Frau gehandelt haben, da der Missbrauch von Frauen im römischen und griechischen Kult bekannt war. In ihren häuslichen Aufgaben für den Schabbat und die Festtage wurden und werden Frauen sehr geehrt und geachtet, aber ein öffentlicher Auftritt erschien damals nicht sittsam. Wenn wir nun davon ausgehen, dass in diesem Hause einige Essener zu Gast waren, die im Gegensatz zu den anderen jüdischen Gruppen äußerst streng zurückgezogen lebten, war die Annäherung einer Frau an einen fremden Mann in einem öffentlichen Kontext abzulehnen.
Diese Frau war sehr mutig, denn sie traute sich in eine Gruppe von Männern, die wahrscheinlich über Fragen der Tora und des toragemäßen Lebens diskutierten. Sie bekommt keinen Namen, was in der Bibel ungewöhnlich ist, da Namen immer Ausdruck für die Persönlichkeit sind und damit ein Mensch geehrt wird. Diese Frau braucht keinen Namen, weil Jesus selbst sie ehrt und rechtfertigt. Namenlos steht sie als Vorbild für andere Frauen, die sich trauen sollen, eine Situation zu erkennen und zu handeln. Über die große Tat dieser namenlosen Frau wird sogar genauso berichtet werden wie über Jesus selbst. Auch sie wird man nicht vergessen.

Totensalbung

Die Frau salbte ihn für sein Begräbnis, so deutet Jesus ihr Handeln. Er lässt keinen Zweifel, dass nur dieser Hintergrund hinter ihrer Tat steht, auf keinen Fall eine messianische Salbung. Sie nimmt nach seinen eigenen Worten vorweg, dass es in dieser verrückten Zeit und unter dieser rücksichtslosen Härte des römischen Regimes keine Möglichkeit geben wird, den Leichnam Jesu vor seiner Beisetzung zu reinigen und zu salben. So überliefern es die Synoptiker Matthäus, Markus und Lukas.
Der Evangelist Johannes weist im Gegensatz dazu darauf hin, dass die Salbung der Toten bei den Juden ein fester Brauch war, weshalb Josef von Arimathäa und Nikodemus Tücher mit den Spezereien bereit hatten, in welche sie Jesu Leichnam wickelten. (Joh.19,40) Einen Beleg für solche Salbungen nach dem Tod finden wir beim Tode König Asas:
2.Chr.16,14 Und man begrub ihn in der Grabstätte, die er sich in der Davidsstadt hatte aushauen lassen, und legte ihn auf das Lager, das man mit Spezerei und allerlei Art von wohlriechenden Salben, in kunstgerechter Mischung bereitet, angefüllt hatte. 
Heute wird der Leichnam im Judentum lediglich gewaschen und in die Sterbegewänder gekleidet werden. Dazu gibt es die Chewra Kadischa, die „heilige Beerdigungsgemeinschaft“, wobei Frauen diesen Dienst an Frauen tun und Männer an Männern. Der Dienst der Bestattung gehört zu den Mizwot, zu den von der Tora gebotenen Diensten am Nächsten. Der Dienst der Vorbereitung auf die Bestattung ist eine ehrenvolle Zedaka, ein Liebesdienst der Gerechtigkeit.
Dem Leichnam eines Menschen gebührt Achtung, weshalb ein Gehängter oder Gekreuzigter schnellstmöglich vom Galgen oder Kreuz abgenommen werden musste. (Dtn.21,22-23: Vorsicht, Übersetzungsfehler! Der Gehängte ist nicht verflucht, sondern wenn er länger als eine maßvolle Zeit an einem Baum hängt, erniedrigt er das Antlitz seines Schöpfers, in dessen Ebenbild er geschaffen wurde.)

Jesus kritisiert die Kritiker

Jesus kritisiert die Kritiker, obgleich sie ein so edles Ansinnen haben wie die Unterstützung Armer, was ja ein ausdrücklich jüdisches Gebot ist, eine Zedaka, ein Handeln der Gerechtigkeit. Trotzdem kritisiert Jesus diese Männer, weil sie erstens die prekäre Situation nicht erkennen, in der Jesus sich befindet. Er befindet sich in Lebensgefahr! Zweitens machen sie einer Frau, die Gutes im Sinn hat, das Leben schwer. Das ist völlig unnötig. Wir sollten mit all unserer Kritik, und wenn sie noch so berechtigt scheinen mag, überlegen, ob wir damit einem Menschen das Leben schwer machen oder ihm mit einer konstruktiven Kritik zur Seite stehen.
Jesus hat mit der Bestätigung der Frau nicht das Gebot der Almosen und der Zedaka abgelehnt. Er verweist nur darauf, dass alles seine Zeit hat, wie es schon in Prediger 3,1-8 heißt:
1ALLES hat seine bestimmte Stunde, / jedes Ding unter dem Himmel hat seine Zeit. /2 Geboren werden hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit. / Pflanzen hat seine Zeit, und Ausreissen hat seine Zeit. /3 Töten hat seine Zeit, und Heilen hat seine Zeit. / Einreißen hat seine Zeit, und Bauen hat seine Zeit. /4 Weinen hat seine Zeit, und Lachen hat seine Zeit. / Klagen hat seine Zeit, und Tanzen hat seine Zeit. /5 Steine wegwerfen hat seine Zeit, und Steine sammeln hat seine Zeit. / Umarmen hat seine Zeit, und Sichmeiden hat seine Zeit. /6 Suchen hat seine Zeit, und Verlieren hat seine Zeit. / Behalten hat seine Zeit, und Wegwerfen hat seine Zeit. /7 Zerreißen hat seine Zeit, und Nähen hat seine Zeit. / Schweigen hat seine Zeit, und Reden hat seine Zeit. /8 Lieben hat seine Zeit, und Hassen hat seine Zeit. / Der Krieg hat seine Zeit, und der Friede hat seine Zeit.
Jetzt ist für Jesus die Zeit, sich mit dem Tod zu befassen, der durch die Römer an Tausenden von Menschen durch Kreuzigung verübt wurde. Die Zeit des Verrates und der brutalen Herrschaft, die Jesus das Leben kosten wird, steht jetzt im Mittelpunkt. Aber die Armen, die wird es zu jeder Zeit und in jeder Gesellschaft geben; das ist spätestens seit Mose bekannt:
 5.Mo 15:11BRU   Denn nicht werden Dürftige aufhören im Innern des Landes, darum gebiete ich dir, sprechend: Öffnen sollst, öffnen deine Hand du deinem Bruder, deinem Gebeugten, deinem Dürftigen, in deinem Land.
Jetzt ist auch nicht die Zeit, sich rauszureden und zu proklamieren, was man alles hätte tun können.
Hätte! Aber was tust du konkret, wenn der Arme vor deiner Tür steht? Denkst du dann auch noch daran, ihm von dem Deinen abzugeben?
Und wer hätte das kostbare Parfüm verkaufen können? Wer ist „man“?
Die Frau hätte es verkaufen können und sich im „Haus der Armut“ mal etwas leisten können. Vielleicht hat sie es sogar hergestellt. Sie konnte darüber entscheiden und gab es aus ihrem Herzen dem Mann, von dem sie gehört hatte oder dem sie vielleicht irgendwo bereits begegnet war. Ihm gegenüber wollte sie ihre Wertschätzung ausdrücken. Sicherlich bereitete sie Jesus damit sogar einen Trost im Angesicht des Todes.

Für uns heute ist es wie damals die Zeit, sich mit dem Tod zu befassen, der über die Erde geht wie der Todesengel beim ersten Pessach. Für uns ist es die schmerzliche Zeit des Sichmeidens, was die Bibel kannte und uns damit tröstet, dass wir nicht allein sind.

Jesus allein hat die Frau verstanden. Wenn wir zu sehr in unsere Gepflogenheiten schauen, kann der Blick für das Wesentliche versperrt werden.


[1] In allen Bibelübersetzungen wird Simon als Aussätziger genannt, was ich gemäß der Erklärung von Pinchas Lapide korrigiert habe. An anderen Stellen im Lukasevangelium wird Simon ebenfalls genannt, aber niemals mit diesem Zusatz. Aussätzige standen damals unter strenger Quarantäne wie heute in der Corona-Zeit. Bei einem derart Erkrankten könnte Jesus nicht zu Gast sein. Pinchas Lapide hält es auch für unlogisch, dass Jesus an ihm keine Heilungshandlung vornimmt, wofür er bekannt war. Deshalb geht er von einem Buchstabenfehler im Original aus. Dort könnte gestanden haben: Schim’on ha-zanu’a צנוע= Simon, der Bescheidene (Bezeichnung der Essener im Talmud: bKidd.7 Ia u.a.); es wurde verstanden oder gelesen als Schim’on ha-zaru’a צרוע= Simon, der Aussätzige. Weitere Begründungen werde ich in der Auslegung anführen. („Ist die Bibel richtig übersetzt?“ Pinchas Lapide, Gütersloher Verlag, 2004)

[2] Talmud Toss.Kelim I,6; Josephus Flavius Bell.Jud.II 8,3-6

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