vorgeschlagen für Heilig Abend 24.12.2021
Micha ist ein Prophet, der eine weite Sicht bietet. Er kündet noch lange Zeit vor dem Exil dieses an, sowie die Zeit der Befreiung, wenn das Volk Buße tat und wieder heimkehrte. Seine Schau geht sogar noch weiter in die Zukunft und kündet die Zeit des Messias an. Zwischen diesen verschiedenen Szenarien oszillieren Michas Kündung.
Kapitel 5 muss im Zusammenhang mit Kapitel 4 gelesen werden, denn es wird uns in beiden Kapiteln von einer Gebärerin berichtet:
Mi. 5,2 Drum gibt Er sie hin bis zur Zeit nur, da die Gebärerin hat geboren, dann kehrt der Überblieb heim seiner Brüder samt den Söhnen Jissraels.
Mi. 4,10 Winde dich nur im Krampf, aber laß hervorbrechen auch, o Tochter Zion, wie die Gebärende! Ja denn, mußt du nun hinaus von der Burgstadt, mußt auf dem Feld Wohnung nehmen, kommen mußt du bis Babel: dort wirst du errettet, dort löst ER dich ein aus der Hand deiner Feinde.
In beiden Versen steht das Exil noch bevor. Israel befindet sich in den Geburtswehen, und der Prophet stellt klar, dass dieser schmerzhafte Prozess zum Plan Gottes gehört. Das Volk kann diese Phase nicht aussparen. Es muss durch die Geburtswehen hindurch, die das Volk in das Exil hineingebären. Somit findet die hier angekündigte Geburt in die Verbannung Israels nach Babel hinein statt. Nur dort kann die ersehnte Rettung stattfinden. Dort im Babylonischen Exil würde Israel auf den Propheten Jeremia hören und um das Wohl des Landes beten.
Jer. 29,7 Und fragt dem Frieden der Stadt nach, dahin ich euch verschleppen ließ, betet für sie zu MIR, denn in ihrem Frieden wird euch Frieden sein.
Gott erhörte das Gebet und sorgte für Anerkennung und Wohlergehen Israels im Land der Fremde. Die Zeit in Babel wurde bis heute zu einer fruchtbaren Zeit, denn hier entstand der Babylonische Talmud, der heute die größte und wichtigste Aufzeichnung der Diskussionen darstellt um das Verständnis der Tora, wie die Gebote der Tora praktisch zu erfüllen sind. Über die Grenzen hinaus berühmte Jeschiwot, Talmud-Schulen entstanden hier, aus denen ebenso berühmte Gelehrte hervorgingen. Aus diesem Grund gab es einige Juden, die später die Möglichkeit der Rückkehr nicht wahrnahmen. Die Mehrheit aber war nach 70 Jahren Verbannung dankbar, dass Gott sie zur versprochenen Heimkehr befähigte.
Die Zeit des Messias, die Micha ebenfalls in den Blick nimmt, ist auch eine Abrechnung mit den Völkern, die Israel über Gebühr leiden ließen. Das kündete Micha in Kap. 4 an:
Mi. 4,13 Steh auf und drisch, o Tochter Zion! Denn eisern mache ich dein Horn, und ehern mache ich deine Hufe, daß du viele Völker zermalmest und MIR zubannest ihren Gewinn, ihr Vermögen dem Herrn aller Erde..
Gott treibt die Völker zusammen, doch ER gibt diejenigen, die Gottes Plan mit Israel nicht akzeptieren, in die siegreiche Hand seines Volkes.
In Kap. 5,4 werden sieben Hirten und acht Könige angekündigt. Erstere sind die früheren, weniger dekadenten Könige des Südreiches aus der Linie Davids. Sie erstehen in der Endzeit erneuert und geläutert. Gemeint sind die Könige Chiskijahu (2.Kö. 20,21), Menasche, Amon (2.Kö. 21,18), Joachas (Joschijahu 2.Kö. 21,26), Jehojakim, Jehojachin, Zedekia.
Die acht Könige regierten in früherer Zeit das Nordreich. Auch sie mussten geläutert werden, damit sie in neuer Würde erstehen. Gemeint sind Joachas, Joasch, Jerobeam, Sacharja (2.Kö. 15,11), Menachem (2.Kö. 15,14-21), Pekachja (2.Kö. 15,22), Pakach (2.Kö. 15,27) Hoschea. Die Könige werden gemeinsam nach ihrer Läuterung für die Fortführung des Königtums im messianischen Zeitalter sorgen. Damit geht die Prophetie Hesekiels in Erfüllung, wo es um die Wiedervereinigung von Nord- und Südreich geht:
Hes. 37,19 Da, ich nehme das Holz Jossefs, das in der Hand Efrajims und der Jissraelstäbe, seiner Gefährten, ist, ich gebe mit ihnen zusammen, daran das Holz Jehudas, ich mache sie zu Einem Holz, daß sie eins sind in meiner Hand … 22 Ich mache sie zu Einem Stamm im Land, in Jissraels Bergen, ein König wird ihnen allen zum König, sie werden nicht mehr zu zwei Stämmen, sie spalten sich nicht mehr zu zwei Königreichen.
Die insgesamt 15 Könige des Nord- und Südreichs ergeben das JH des Namens JHWH. So verstehen wir, dass Gott König sein wird. Alle diese Szenarien werden sich realisieren in der messianischen Zeit. „Der Glanz des wiedervereinigten Israels geht einher mit dem Fall der Feinde Israels“, wie der Ausleger dieser Stelle Malbim, 19. Jh. verdeutlicht. Was bedeutet nun der vorliegende Predigttext, der für die christliche Tradition seit Jahrhunderten so wichtig ist?
Mi. 5,1 Du aber, Betlehem-Efrat, gering, um zu sein unter den Tausendschaften Jehudas, aus dir fährt mir einer hervor, in Jissrael Herrscher zu sein, dessen Ausfahrt ist von urher, von den Tagen der Frühzeit.
Aus Beth Lechem בֵּית לֶחֶם, dem Haus des Brotes, aus Ephrata אֶפְרָתָה, der fruchtbaren Stadt, wird der Messias kommen, der Spross auf dem Thron Davids, der vorzeiten von Gott versprochen wurde. Am Ende der Tage wird er kommen, und zwar nachdem Israel alle Schritte seines Wachstums durchlebt und erfolgreich absolviert hat. Deshalb musste es zuvor das Exil durchleben, durch das es diesen Reinigungs- und Entwicklungsschritt durchmachen konnte, denn er war nicht zu vermeiden. Die Rückkehr des Restes Israels konnte erst nach dem Exil erfolgen.
Nach Exil und Rückkehr wird Gott zu Seiner Zeit den Herrscher, den Gesalbten מָשִׁיחַ maschi’ach bringen, der in Gottes Kraft das Volk Israel wie Schafe weidet. Im Namen des EINEN Gottes wird er das Volk in Sicherheit wohnen lassen. Es wird deutlich, dass dieser Messias nicht in eigenem Namen und aus eigener Kraft handelt. Er selbst hat den EINEN und EINZIGEN Gott über sich, dem allein Anbetung gebührt. Letztlich gewinnt Israel seine Größe durch den alleinigen Gott.
Die Botschaft ist nicht, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde, denn der Vers spricht noch vom anstehenden Exil, sondern dass jegliche Hilfe und Errettung Gottes nur dann kommt, wenn wir den ganzen Weg, den Gott für uns vorgesehen hat, gegangen sind. Wir können nicht außer Acht lassen, dass nicht nur der eine christlich beanspruchte Satz zu uns spricht, sondern dass dieser Vers in einem größeren Zusammenhang steht.
Nach einem intensiven Gespräch mit meinem Mann Yuval kamen wir zu der Einsicht, dass in der christlichen Exegese den Auslegern zu diesem inhärent jüdischen Prophetentext der Fehler der „Reduktionsdeutung“ unterläuft, will sagen, die absichtliche Ausrichtung auf „messianisch wohl klingende“ Textzeilen innerhalb des Prophetenwortes werden unter Weglassung der umrahmenden ebenso zentralen Aussagen aus ihrem Kontext heraus gerissenen. Endzeitliche Visionen der Propheten Israels sind ausschließlich an das zeitgenössische Volk der Kinder Israels gerichtet und pendeln ganzheitlich stets in der Dualität von Gottes harter Züchtigung Seines geliebten Israel und der darauf folgenden liebevollen Annahme, Befriedung und Beglückung des geschundenen Volkes. Wer die Glanzseite der ganzheitlich zu betrachtenden prophetischen Visionen herausschneidet, versteht nicht den tief durchdachten Zuspruch Gottes, der jeder Prophetie zugrunde liegt.
In heutiger Zeit sollte sich die Kirche auf ihre Wurzeln besinnen und der Substitutionstheologie nicht länger auf den Leim gehen. Wenn die Verständigung zwischen Kirche und Synagoge gesucht wird, können die inhärent jüdischen Texte Israel zurückgegeben werden, denn zusammenhanglos sind sie keine überzeugenden Stützen des christlichen Glaubens.
Uneingeschränkte Zustimmung. Rosinenpicken steht der christlichen Sicht nicht zu. In den Dienst eines Gedanken verengen ist die Ursünde des Antisemitismus. Die in der christlichen Kirch gepredigte Ursünde hat sie selbst geschaffen.
Die Befriedung kommt aus der Annahme des ganzen Wortes, der ganzen Schrift, der ganzen Wurzel.
Daher einen herzlichen Dank für diesen Text.