Jeschiwa in der Churwa-Synagoge in Jerusalem
Joh. 3,1-16 vorgeschlagen für Sonntag, d. 30.05.2021
1 Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern namens Nikodemus, ein Oberster der Juden. 2 Der kam bei Nacht zu Jesus und sprach zu ihm: Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, der von Gott gekommen ist; denn niemand kann diese Zeichen tun, die du tust, es sei denn, dass Gott mit ihm ist. 3 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen! 4 Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Er kann doch nicht zum zweiten Mal in den Schoß seiner Mutter eingehen und geboren werden? 5 Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, so kann er nicht in das Reich Gottes eingehen! 6 Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. 7 Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden! 8 Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist jeder, der aus dem Geist geboren ist. 9 Nikodemus antwortete und sprach zu ihm: Wie kann das geschehen? 10 Jesus erwiderte und sprach zu ihm: Du bist der Lehrer Israels und verstehst das nicht? 11 Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, und wir bezeugen, was wir gesehen haben; und doch nehmt ihr unser Zeugnis nicht an. 12 Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie werdet ihr glauben, wenn ich euch von den himmlischen Dingen sagen werde? 13 Und niemand ist hinaufgestiegen in den Himmel, außer dem, der aus dem Himmel herabgestiegen ist, dem Sohn des Menschen, der im Himmel ist. 14 Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöhte, so muss der Sohn des Menschen erhöht werden, 15 damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verlorengeht, sondern ewiges Leben hat. 16 Denn so [sehr] hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verlorengeht, sondern ewiges Leben hat.
Schlachter Übersetzung 2000
Wie es bei jüdischen Gelehrten üblich ist, sitzen sie zusammen und diskutieren miteinander. Noch heute kann man dieses angeregte Treiben in jüdischen Jeschiwot (יְשִׁיבָה Jeschiwa von laschewet לָשֶׁבֶת- sitzen = Lehrhäuser) sehen. Doch bei der Begegnung zwischen Johannes und Nikodemus kommen schon in den ersten zwei Sätzen Fragen auf.
1. Wer sind die beiden Männer?
Von Nikodemus erfahren wir, dass er ein Mann mit Ansehen ist, ein Pharisäer und ein Gemeinderepräsentant der dortigen jüdischen Gemeinde. Die „Bibel in gerechter Sprache“ vermeidet solche Verallgemeinerungen wie „die Juden“, was dem Sachverhalt viel näher kommt. Noch heute haben jüdische Gemeinden einen Repräsentanten oder Vorsteher.
Nikodemus spricht Jesus mit „Rabbi“ an, das von raw רַב = viel kommt. Es bedeutet „Vielwisser“ und darum auch im übertragenen Sinne „Lehrer“. Der Ehrentitel „Rabbi“ bedeutet „mein Lehrer“ und wurde nur zwischen Pharisäern gebraucht. Allein daher wissen wir, dass Jesus Pharisäer war. Diese beschäftigten sich mit der Auslegung der Tora für das alltägliche Leben. Die Bezeichnung kommt von לְפָרֵשׁ lifrosch = auslegen, absondern, פָּרוּשׁ perusch = Pharisäer oder Abgesonderte. Die Pharisäer sonderten sich von den Sadduzäern ab, weil die sich lediglich für den Tempeldienst an den Buchstaben des Gesetzes hielten. Die Pharisäer aber wollten die Tora als „Lebensweg“ für alle Juden verstehen, weshalb sie diese auslegten. Die Gebote waren für sie das „Zu-Gehende“, die Halacha von halach הָלַךְ = er ging.
Beide Männer drängt es, über die Tora zu reden, wobei sich Nikodemus gegenüber Jesus als Lernender verstand.
Nikodemus trägt einen heidnischen Namen. Er liebäugelte vielleicht mit den Römern oder wollte unter ihrer Herrschaft ungestört Karriere machen. Wir kennen seinen jüdischen Namen nicht, den er in frommen Kreisen benötigte, z.B. bei der Tora-Lesung. Johannes war dieser Name nach der Tempelzerstörung und im Umfeld seiner messianisch orientierten Gemeinde wohl nicht mehr wichtig. Nikodemus kommt aus dem Griechischen und bedeutet: der Volkssieger.
2. Warum treffen sich beide Männer in der Nacht?
Immer wieder kommt das Argument, der Beweggrund sei „Angst vor den Juden“ (Joh. 20,19). Johannes kennt jedoch sein Judentum und das Motiv der Nacht. Zum einen ist es für ihn Nacht, da er das Evangelium etwa 90 n.d.Z. schreibt, als der Tempel bereits zerstört war, Juden aus Jerusalem vertrieben waren, wodurch es ihnen sehr schlecht ging, und Jesus nicht mehr unter ihnen weilte. Aber seiner Gemeinde aus messianischen Juden wollte er Hoffnung und Perspektive geben.
Zum anderen kennt auch Johannes das Motiv der Nacht aus der Tora. Es ist eine Zeit der Entscheidung und der Erlösung. In der Pessach-Liturgie wird dieses Bild stark hervorgehoben mit dem Verweis auf die Anlässe in der Tora. Folgendes Lied wird gegen Ende des Sederabends gesungen:
ובכן ויהיּ בחצי הלילה uwe‘chen wajehi bachazi haleila – Und es geschah in der Mitte der Nacht – „Eine Fülle von Wundern vollbrachtest du in der Nacht“. Dabei handelte es sich beispielsweise um Gottes Bund mit Abraham zwischen den Fleischstücken (Gen. 15), Abimelechs Traum (Gen. 20,3), Gottes Warnung an Laban (Gen. 31,24), Jakobs Kampf am Jabbok (Gen. 32,24ff), usw., insgesamt 18 Episoden. Dazu gehört natürlich auch der Auszug aus Ägypten (Ex. 12) als 19. Ereignis hinzu.
Vor diesem Hintergrund können wir den Evangelisten besser verstehen, denn durch die Verlagerung des Gesprächs in die Nacht gibt er diesem mehr Bedeutung und Wichtigkeit.
Von Bedeutung ist, dass Nikodemus nicht anderen Rabbinern die Fähigkeit abspricht, Wunder zu tun. Jeder, der Gott nahe ist, kann Wunder tun und heilen. Wunder waren zurzeit Jesu und im späteren Judentum nichts Ungewöhnliches, wenn dabei immer wieder der Blick zu Gott gelenkt wurde, der Adonai, unser Arzt ist (Ex.15,26). Dafür war auch Jesus bekannt, dass er immer wieder auf den Vater verwiesund das war es, was Nikodemus an Jesus schätzte.
Mit der Aussage, an der sich ein spannender Dialog entspinnt, verweist Jesus auch hier auf den Vater. Laut der hebräischen Rückübersetzung heißt es: „Wenn ein Mensch nicht מִמְּקוֺר mimkor – aus der Quelle neu geboren wird, …“ Die Zürcher Bibel verweist auf ein Missverständnis, das sich anhand der griechischen Übersetzung ergibt, aber zwei Pharisäer sprachen miteinander weder Griechisch noch Latein, sie sprachen in der heiligen Sprache Hebräisch miteinander. Gerade für heilige Themen war diese Sprache vorbehalten. Aramäisch sprach man, wenn es um Alltägliches ging.
Was ist nun „die Quelle“? Für jeden Juden war das die Tora, besonders für Jesus, der sagte:
Mt. 5,18 Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergangen sind, wird nicht ein Buchstabe noch ein einziges Strichlein vom Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist.
Jesus erklärt, dass die Tora und die mündliche Lehre, also die Mischna, um die es bei den Diskussionen und Gesprächen mit seinen Kollegen ging, kein trockenes Wissen bleiben dürfen. Vielmehr müssen wir uns in all dem von Gott Wasser und Geist schenken lassen, um zu einem tieferen und spirituellem Verständnis der Tora zu kommen. Durch den Geist lässt Gott das Wort Fleisch in uns werden, wie er im Propheten Hesekiel sagt:
Hes. 36,24 Ich nehme euch aus den Weltstämmen, ich hole zuhauf euch aus allen Ländern, ich lasse euch kommen zu eurem Boden. Ich sprenge reines Wasser auf euch, 25 daß ihr rein werdet: von all euren Bemaklungen, von all euren Dreckklötzen reinige ich euch. 26 Ich gebe euch ein neues Herz, einen neuen Geist gebe ich euch in das Innre, das Herz von Stein schaffe ich aus eurem Fleisch weg, ich gebe euch ein Herz von Fleisch. 27 Meinen Geist gebe ich euch in das Innre, ich mache, daß ihr geht in meinen Gesetzen und meine Rechtsgeheiße wahret, sie tut.
Das Wort muss ins Herz eindringen, seine Wahrheit dort „verstanden“ werden, dann erneuert es den ganzen Menschen. Schon der Prophet wusste, dass es der Reinigung mit Wasser bedurfte, um sich selbst seine spirituelle Unreinheit einzugestehen. Es bedarf zuerst der ehrlichen Selbstreflexion, danach ist der Jude bereit für Gottes Geist. Die Folge des ausgegossenen Geistes würde sein, Gottes Tora ernst zu nehmen, den Vater in den Mittelpunkt zu rücken, die Tora zu befolgen, sie zu tun, wie Israel es am Berg Sinai versprochen hatte.
Ex.24,7 wir tuns, wir hörens נַעֲשֶׂה וְנִשְׁמָע! (na‘asse we nischma)
Dagegen lesen wir auch in der Tora häufig, wie alles Fleisch verdorben ist und nicht auf Gottes Wort hört. Die Tora kennt es, dass das Fleisch eintauchen muss in lebendiges Wasser, also frisches, sprudelndes Wasser, in dem Leben von Gott ist.
Lev. 15,13 … er bade sein Fleisch in lebendigem Wasser, und er sei rein.
Vielmehr ist das Fleisch ohne Gottes Geist vergänglich.
Jes. 40,6 Stimme eines Sprechers: Rufe! Es spricht zurück: Was soll ich rufen! alles Fleisch ist Gras, all seine Holdheit der Feldblume gleich!
Nur der Geist schafft Leben, sodass wahres Leben entsteht mit Recht, Gerechtigkeit und Frieden, denn der Geist lässt das Wort der Tora lebendig werden.
Jes. 32,15 Bis ausgeschüttet wird über uns ein Geistbraus aus der Höhe: dann wird zum Garten die Wüste, als Wald wird der Garten geachtet, 16 in der Wüste von einst wohnt das Recht, im Garten siedelt Wahrhaftigkeit, 17 die Tat der Wahrhaftigkeit wird Friede, der Dienst der Wahrhaftigkeit Stillehalt und sichre Gelassenheit in Weltzeit.
Der Geist ist wie der Wind nicht zu fassen und nicht zu kontrollieren.
Pred. 11,5 Gleichwie du nicht weißt, welchen Weg der Wind nimmt und wie die Gebeine im Mutterleibe bereitet werden, so kannst du auch Gottes Tun nicht wissen, der alles wirkt.
Diese Worte aus der Tora sind den beiden Gesprächspartnern bekannt, darum kann Jesus fragen: Du bist der Lehrer Israels und verstehst das nicht? (V10)
Jesus weiß, dass sich das jüdische Volk schon immer schwer tat, die Botschaft Gottes aufzunehmen.
Ex. 20,19 Sie sprachen zu Mosche: Rede du mit uns, wir wollen hören, aber nimmer rede mit uns Gott, sonst müssen wir sterben.
Mose war immerhin jemand, der zum Himmel aufstieg, denn auf dem Sinai redete Gott in der Wolke mit ihm. Er ging zwischen Gott und dem Volk, zwischen oben und unten, hin und her. Auch wissen wir nicht, wo sein Grab ist. Der Midrasch sagt, er könne von Gott direkt in den Himmel aufgenommen worden sein.
Jesus ist der neue Mose, der die Verbindung zwischen Gott und Israel schafft. Das wird deutlich an dem Kindermord (Mt. 2), an der Flucht nach Ägypten (Mt. 2,13ff) und an der Verklärung auf dem Berg Tabor (Mt. 17). Darum muss Jesus nun eine ergänzende Botschaft bringen, denn die Tora will er ausdrücklich nicht abschaffen. Dass Jesus von sich oder Johannes sagte: „…, der im Himmel ist“, ist umstritten. Es kann eine spätere Hinzufügung sein, die Jesus über Mose erheben sollte.
Es folgt konsequenter Weise Mose und die eherne Schlange (Num. 21,8ff), die den Kindern Israel in der Wüste Heilung brachte. Auch Jesu Tod sollte den Menschen Leben und Heilung bringen. Sie brauchten darum nicht zu verzweifeln, wenn er den Tod am Römerkreuz sterben würde, zusammen mit hunderten, sogar tausenden von Juden. Im Gegenteil, die Jesus Vertrauenden, die jetzt unter der Vertreibung litten, sollten sich freuen, denn Gott würde sein Wort erfüllen wie in Ps. 133 und ewiges Leben ermöglichen.
Ps. 133,3 gleichso der Tau des Hermon, der sich herabsenkt auf Zions Gebirg: denn dorthin hat ER entboten den Segen, Leben auf Weltzeit.
Oder wie er Seinem Freund David zusagte:
Ps. 21,5 Er bat dich um Leben, du gabst es ihm, Länge der Tage in Zeit und Ewigkeit.
Voraussetzung ist, an Gott angebunden zu sein, IHM zu glauben bzw. denen, die ER uns als Sein Sprachrohr gab. So sollten die Kinder Israel zuerst an Mose glauben.
Ex. 19,9 ER sprach zu Mosche: Da, ich komme zu dir in der Dichte des Gewölks, um des willen, daß höre das Volk, wann ich mit dir rede, und auch dir sie vertrauen auf Weltzeit.
Jetzt sollen die Anhänger Jesu ebenso wie Mose auch ihm glauben, denn er hatte, wie Mose, die reine Lehre der Tora zu verkünden, die er mit seinem Leben und später auch mit seinem Sterben verknüpfte.
Allein Vers 16 wirft Fragen auf, denn Jesus war gemäß der Tora nicht der einzige Sohn Gottes. Schon dem Pharao lässt Gott durch Mose sagen:
Ex. 4,22 So hat ER gesprochen: Mein Erstlingssohn ist Jissrael, 23 ich sprach zu dir: Schicke meinen Sohn frei, daß er mir diene, und du hast dich geweigert, ihn freizuschicken. nun bringe ich deinen Erstlingssohn um.
Hos. 11,1 Als Jissrael jung war, liebte ich ihn, von Ägypten an rief ich meinem Sohn zu.
Wer sagte diesen Satz, und von wem sprach er? Sagte ihn Jesus? Dann passt er entweder nicht zu seinem demütigen Wesen, das wir aus den Synoptikern kennen.
Oder spricht er von dem erstgeborenen Sohn Israel, den Gott der Welt gab, damit sie das Licht haben und durch das Licht Leben. Hatte Gott nicht bereits Seinen Sohn Israel dahingegeben durch die Vertreibung durch die Römer, durch die Verwüstung der heiligen Stätte? Würde dieser Sohn Israel nicht ebenso durch die Jahrtausende leiden wie Jesus gelitten hatte: auf den Scheiterhaufen der christlichen Kirche nach Konstantin, durch Verfolgungen der Kreuzritter und Pogrome in Ost und West? Nicht zuletzt durch die Gaskammern Europas?
Jesus kann sich als Jude natürlich als Teil der Gemeinschaft Israel empfunden haben und somit sich gemeinsam mit Israel als der einzige Sohn empfunden haben. Von sich selbst als einzigem Sohn kann ein gläubiger Jude wie Jesus nicht gesprochen haben, der immer wieder die Tora ehrte. Johannes kann es wider besseres Wissen getan haben, da er ihn vor seiner Gemeinde überhöhen wollte. Die Zeit der Spaltung, die einen innerjüdischen Konflikt zeigt, ist gerade bei Johannes deutlich. Als Nachfolger Jesu, die in ihm den Messias sahen, hatten sie Hausverbot in den Synagogen. Da musste Johannes seiner messianischen Gemeinde etwas bieten, das die Tora zu übertreffen schien, auch wenn das nicht im Sinne des Juden Jesus war. Er schrieb etwa 60 Jahre nach Jesus, sodass die Gemeinde eine starke Identifikation mit ihm brauchte, die ihr eine Hoffnung und eine Perspektive gab. Und die war nach Überzeugung des Johannes in Jesus, seinem Messias, gekommen.