Schabbat Schuva (Umkehr – zwischen Rosch haSchana und Jom Kippur), 5. Tischrei 5782; 11. Sept. 2021
Wajelech וַיֵּלֶךְ – und er ging – aber wohin geht Mosche? Lech לֶךְ – Geh! kennen wir von Abraham als Aufforderung Gottes, das Land seiner Vorfahren zu verlassen. Hier ist es eine Aufforderung an Mosche, als alter Mann am Ende seines Lebens noch einmal in seine Berufung zu kommen. Er kann nirgends mehr hingehen. Gott versagt es ihm, mit dem Volk über den Jordan zu gehen. Seine Aufgabe, die er jetzt ernst nehmen muss, ist die Belehrung der Kinder Israel für die Zeit nach seinem Ableben. Diese eindringliche Ermahnung Gottes weiterzugeben, nimmt Mosche sehr ernst.
Er ist 120 Jahre alt. Die Zahl 120 birgt in sich die 12 Stämme Israels, zeigt in seiner Quersumme 3 aber auch die Veränderungen, die Mosche durchlief. Seine Lebensjahre werden in der jüdischen Tradition in 3×40 Jahre eingeteilt:
40 Jahre lebte er als Prinz in Ägypten und musste fliehen, nachdem sein Mord an einem Ägypter bekannt geworden war. Die zweiten 40 Jahre lebte er bei einem midianitischen Priester und hütete dort die Schafe seines Schwiegervaters. Mit dessen Tochter Zippora bekam er zwei Söhne. Schließlich wurde er am brennenden Dornbusch berufen, was ihm zuerst gar nicht gefiel. Doch dann befreite er zusammen mit Gott Israel aus der Sklaverei Ägyptens. Seine letzten 40 Jahre wanderte er mit dem Volk durch die Wüste bis kurz vor das verheißene Land.
Die jeweils 40 Jahre bedeuten einen umfassenden, universellen Zyklus, denn diese 40 Jahre hatten Auswirkungen auf die damalige Welt. In allen 3 Zyklen erlebte Mosche eine Verwandlung: Vom Prinzen zum Schafhirten und schlussendlich zum Befreier, Lehrer und Propheten.
In dem Wort Jahr שָׁנָה schana stecken ebenfalls die Bedeutungen von einerseits „Wandel“ und andererseits „Wiederholung“. Damit sind im Wort Schana die Lebenserfahrung durch Lernen, also durch Wandel als auch durch Wiederholung eingeschlossen. Mosche kann auf reiche 120 Jahre zurückblicken, nicht nur in der Quantität, besonders in der Qualität. Er war ein Mann, der sich und andere verändern konnte – לְשַנּוֹת leschanot = verändern, שִׁנָּה schina = er veränderte -, und ein Mann, der seine Erfahrungen verinnerlichte und das Wort Gottes wiederholte – לִשְׁנוֹת lischnot = wiederholen, שָׁנָה schana = er wiederholte.
Ebenso ist es mit der מִשְׁנָה Mischna, dem ersten Teil des Talmuds. Sie besteht aus der Wiederholung der Tora und verändert sich durch die anhaltende Diskussion über deren Verständnis.
Da Mosche nicht mehr an andere Orte gehen kann, wird Gott selber mit dem Volk hinübergehen – עֹבֵר ower; ER wird selbst zum Hebräer, zum Grenzüberschreiter, ein עִבְרִי Iwri. Auch Jehoschua wird mit hinübergehen, aber nur Gott wird die feindlichen Völker vertilgen. Jehoschua ist lediglich die Begleitung, die ER gebot und einsetzt. Er ist der Mann, der anstelle Mosches das Volk führt, aber den Kampf führt in erster Linie Gott.
Der machte die Könige Sichon und Og zu einem ermutigenden Sprichwort bei den Israeliten. Diese behinderten Israel auf seinem Weg und begannen, gegen es zu kämpfen. Da gab Gott in dem folgenden Verteidigungskampf die Könige und ihr Land in die Hand Israels! Genauso wird Gott nun für Sein Volk kämpfen und siegen! Mosche kennt das Volk, und er spricht ihm Mut und Vertrauen zu. Er erinnert immer wieder, ohne müde zu werden, an Gottes Gebote. Sie zu halten ist Gottes Bedingung für Seinen Schutz.
Noch einmal setzt Mosche vor den Augen der Israeliten Jehoschua als seinen Nachfolger ein, dessen Name Bände spricht: Jehoschua leitet sich ab von לְהוֹשִׁיעַ lehoschia retten und bedeutet in der konjugierten Form: ER (Gott) wird retten. Dementsprechend macht Mosche seinen Zuhörern deutlich, dass Gott derjenige ist, der ihnen vorangeht, der ihnen nahe ist und zu Seinem Wort steht, den Kindern Israel das Land als Eigentum zu geben. Darum brauchen sie sich nicht zu fürchten! Darum können sie stark und fest sein.
Mosche spricht Jehoschua die Worte zu, die Gott ihm zusprechen wird:
Dtn. 31,7 … Sei stark, sei fest, … 8 ER selber ists, der vor dir einhergeht, er selber wird dasein bei dir, nicht entzieht er sich dir, nicht verläßt er dich, fürchte nicht, zage nicht!
Jehoschua erlebt die Amtsübergabe des scheidenden Mosche, die im Mischna-Traktat Pirke Awot festgehalten wurde, und die den kommenden Generationen den Verlauf der Tradition vermittelt:
Mosche empfing die Tora am Sinai. Und die Überlieferung auf Jehoschua und von Jehoschua auf die Ältesten und von den Ältesten an die Propheten und von den Propheten auf die Männer der Großen Ratsversammlung.
Pirke Awot 1,1
Es gibt laut jüdischer Tradition keine Unterbrechung in der Überlieferung der mündlichen und schriftlichen Tora. Für die schriftliche Tora sehen wir in V9, dass Mosche die Tora niederschrieb und sie an die Leviten übergab. Sie sollten darauf achten, dass alle 7 Jahre zum Laubhüttenfest – ein vollkommener Zyklus, der mit dem Schmitta-Jahr zusammenfällt – die gesamte Tora laut vorgelesen würde. Vom Hören dieser Worte war niemand ausgenommen, weder Mann noch Frau, weder Kinder noch Nichtjuden. Alle müssen die Weisung hören und tun, wenn sie dereinst gemeinsam auf dem Boden des versprochenen Landes leben.
Das passt zur Feier des Laubhüttenfestes, denn die Tora lädt die Fremden im Land ausdrücklich ein:
Dtn. 16,14 freue dich an deinem Fest der Hütten, du, dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, der Levit und der Gastsasse, die Waise und die Witwe, die in deinen Toren sind,
Darum wird dieses Fest auch am Ende der Zeiten das Fest der Völkerwallfahrt sein:
Sach. 14,16 Geschehen wirds, alles Überbliebne von allen Stämmen, die wider Jerusalem kamen, die steigen Jahr für Jahr nun heran, sich hinzuwerfen vor dem König, IHM dem Umscharten, und den Festreihn der Hütten zu reihen.
Auf diese Weise wird sichergestellt, dass ausnahmslos jeder das Wort kennt, das ebenso ausnahmslos jeden verpflichtet, es zu tun, auch die immer neue Generation von Kindern. Alle können lernen, keiner ist zu jung oder zu alt, zu schlau oder zu dumm.
Dass die Tora laut vorgelesen wird, fand ebenfalls Eingang in die Mischna:
Wie wird der Teil der Tora, der vom König gelesen wird, bei der Versammlung rezitiert, wenn sich das ganze jüdische Volk versammeln wird? Am Ende des ersten Tages des Sukkot-Festes, am achten, nach dem Abschluss des Sabbatjahres, bauen sie im Tempelhof eine hölzerne Plattform für den König, und er sitzt darauf, wie es heißt: „ Alle sieben Jahre am Ende des Sabbatjahres“ (5. Mose 31,10).
Mischna Sota 41a
Das Lehren aller Bevölkerungsgruppen unterschied viel Jahrhunderte lang Christen und Juden, was den Neid und den Hass der Christen anstachelte. Die kleinen Kinder lernten bereits im Cheder (חֶדֶר – Zimmer) das hebräische Aleph-Beit und anschließend in kindgerechter Weise die Tora. Für die Kinder wurden Buchstaben gebacken, damit ihnen das Lernen versüßt würde.
„Bei Wikipedia heißt es dazu: »Grundlage war der Brauch der jüdischen Gemeinden, Kindern zu Beginn ihres an der Tora ausgerichteten Schullebens süßes Buchstabengebäck zu schenken als Erinnerung an das Psalmwort »Dein Wort ist in meinem Munde süßer als Honig.« (https://www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/suesses-zum-schulbeginn/)
So wurde die Erfüllung des Gebots aus unserer Parascha weitergeführt, sodass es im Großen und Ganzen kein Analphabetentum unter Juden gab, anders als bei Christen.
Teil 2 der Amtsübergabe findet im Zelt der Begegnung, im Ohel mo’ed אֹהֶל מוֹעֵד, statt. Dieser Begriff wird selten im Buch Dewarim benutzt und verdeutlicht, dass Gott hier den beiden Anführern des Volkes begegnen will. Für beide hat ER eine Botschaft, die offiziell an diesem Ort übermittelt werden soll. Diese Botschaft ist nur für Mosche und Jehoschua bestimmt. Gott spricht aus der ihnen bekannten Wolkensäule zu ihnen.
An Mosche sind die Abschiedsworte gerichtet, deren Zeuge Jehoschua wird. Es sind solche Worte, die Mosche noch einmal aufrütteln, das Volk zu ermahnen. Es ist ein widerspenstiges Volk, das Gottes Wege verlassen und fremden Götter anhängen wird. Wenig beruhigend, so eine Nachricht kurz vor dem Tod! Mosche erfährt von Gott, dass ER sich abwenden wird von den Treulosen, die Seinen Bund brechen. Darum gebietet Gott Mosche, das Lied aufzuschreiben, das wir in der kommenden Parascha betrachten werden. Es wird zum Zeugen werden dafür, dass Gott Seine Kinder schon immer gut kannte und sie über dieses Lied zur Besinnung kommen werden. Sie werden trotz Ungehorsam das Lied nicht vergessen.
Darum schrieb Mosche das Lied bis zu seiner Vollendung auf.
Für Jehoschua hatte Gott noch eine ermutigende Nachricht:
Dtn. 31,23 Er aber entbot Jehoschua Sohn Nuns, er sprach: Sei stark, sei fest, du sollst, du, die Söhne Jissraels in das Land kommen lassen, das ich ihnen zuschwor, und: »Ich selber werde dasein bei dir«.
ER bestärkte die Worte Mosches und gab ihm erneut das Versprechen, mit Jehoschua zu sein wie vorher mit Mosche. Er solle nur stark und fest sein, nicht wankelmütig wie das Volk, eben ein echtes Vorbild.
Bei der Landnahme erneuerte Gott diese Zusage und erinnerte ihn an das eine Mittel, das ihm diese Festigkeit allein verleihen konnte, an die Tora:
Jos. 1,6 Sei stark, sei fest, du ja sollst dieses Volk eineignen in das Land, das ihnen zu geben ich ihren Vätern zuschwor. 7 Sei nur sehr stark und fest, es zu wahren, zu tun nach all der Weisung, die Mosche mein Knecht dir gebot, wende nimmer davon rechts oder links, damit du durchgreifest überall, wo du gehst. 8 Nicht weiche dieses Buch der Weisung aus deinem Mund, murmle darin tages und nachts, damit dus wahrest, zu tun nach allem, was darin geschrieben ist, – alsdann machst du deine Wege gelingen, dann ergreifst dus. 9 Habe ich dir nicht geboten: sei stark, sei fest! ängste nimmer, scheue nimmer, denn bei dir ist ER dein Gott überall, wo du gehst.