zur Parascha Jitro am Schabbat, d. 22.01.2022, 20. Schwat 5782
Der Beitrag beruht zum Teil auf einem Seminar meines Mannes Yuval Lapide zum Thema Jesaja.

In diesem Kapitel wird eindrucksvoll die Berufung des Jesaja = Jeschajahu geschildert. Den Rabbinern stellt sich die Frage, warum die Berufung erst im 6. Kapitel vorkommt. Eine Antwort geht auf den Charakter Jeschajahus ein. Dieser ist ein sehr bodenständiger Prophet im Gegensatz zu dem scharfzüngigen Hesekiel. Gegenüber Jeremia, der zwischen seinem eigenen Leid und dem Leid seines Volkes nicht unterscheiden kann, weil er sein Volk so liebt, ist Jeschajahu sehr nüchtern. Als Hofprophet spricht er mit den Königen und wendet sich zusätzlich an das Volk. Die Könige des Südreiches warnt er ernsthaft ob ihrer Verfehlungen.
Als ein solcher Mann braucht Jeschajahu nicht in erster Linie diese Art von Beglaubigung. Sein Leumund ist bekannt, sodass er ein so tiefgreifendes und heiliges Erlebnis nicht an den Anfang seines Schauempfangs erzählen muss. Gott offenbart ihm allein durch Sein Sprechen Seine Botschaft.

Andererseits geht Rabbi Julius Hirsch, der Sohn des berühmten Samson Raphael  Hirsch, auf die Situation in Israel ein. Diese war himmelschreiend desolat.

Jes. 6,1  Im Todesjahr des Königs Usijahu sah ich meinen Herrn sitzen auf hohem und ragendem Stuhl, seine Säume füllten den Hallenraum.
Die Zeitangabe mit dem Todesjahr Usijahus ist nicht sein leiblicher Tod, sondern meint den Zeitpunkt, als bei ihm dauerhafter Aussatz festgestellt wurde.
Dieser König, der im Alter von 16 Jahren den Thron bestieg, fing sehr gut an und tat den Willen Gottes. Doch mit seinem Erfolg, den Gott ihm schenkte, wurde er hochmütig und maßte sich im Tempel priesterliche Aufgaben an. Sein Zorn gegen die ihn zurechtweisenden Priester ließ auf seiner Stirn Aussatz sichtbar werden (2. Chron. 26,16-20).
4.Mos. 12,12 sei sie nimmer doch wie ein Totes, dem, aus dem Schoß seiner Mutter kommend, das Fleisch halb verwest ist!
Dieses Gebet Aarons bei Miriams Erkrankung veranlasste nicht erst die Talmudväter, einen dauernd an Aussatz Erkrankten als Verstorbenen zu betrachten.

Die Situation in Israel war dergestalt, dass man im Tempel wohl alle Opfer gemäß der Vorschriften darbrachte und jeden Feiertag einhielt, aber dass man die Lehre, die im Tempel empfangen wurde, nicht mit hinaus in den Alltag nahm. „Es fehlte eben die Verbindung zwischen Tempel und Haus.“[1] Nach außen glänzte es, doch Gott war nicht zufrieden, denn es handelte sich nur um äußeren Schein, während das Leben sittenlos verrohte.
Zudem schildert Hirsch, wie Israel vergessen hatte, „Gottes Herold an die Allmenschheit zu werden …“.[2] Das sollte Jeschajahu seinen Landsleuten wieder in Bewusstsein rufen.

Wir können Verbindungen ziehen zur heutigen Zeit. Zwar gibt es in Deutschland die Trennung von Kirche und Staat, doch bedeuten die letzten Untersuchungsergebnisse einen schweren Schlag gegen die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche. Während es nach außen glänzt und die Feierlichkeiten mit viel Prunk zelebriert werden, wussten die Kirchenoberen von Lüge und Missbrauch, den Verfall jeglicher Sittlichkeit. Auch andere Landes- und Freikirchen sind nicht frei von Schuld. Auch die evangelische Kirche ist nicht frei von Schuld, wie in mehreren Artikeln nachzulesen ist. Dementsprechend ist die Gesellschaft von Misstrauen gegen Kirche und Politik geprägt, sodass Werte und Moral verloren gehen.

Jeschajahu sieht nun in der Tempelhalle den Saum des Gewandes Gottes. Nach Hirschs Meinung steht diese Schau noch ganz unter dem Eindruck des Ungehorsams von König Usijahu und deutet an, wie sich die Herrlichkeit Gottes aus dem Tempel entfernt. Dieses Haus ist nicht länger Sein Haus, denn Sein Name wird nicht mehr geehrt.
Ps. 50,13 Soll das Fleisch der Stiere ich essen, trinken das Blut der Böcke?!
Ps. 40,7 Nach Schlachtmahl, Hinleitspende gelüstets dich nicht: Ohren hast du mir gebohrt. Darhöhung, Entsündungsgabe heischest du nicht..
Jer. 7,11 Ist dieses Haus, über dem mein Name gerufen ist, in euren Augen zur Räuberhöhle worden? Wohl, auch ich selber sehe es so an, ist SEIN Erlauten.

In dieser Situation, in der Gott keine Heiligkeit mehr bei Seinen Dienern im Tempel noch bei Seinem Volk findet, sieht Hirsch „Gottes Herrlichkeit im Begriff, das irdische Heiligtum zu verlassen.“[3] Diese ernste Lage wurde ihm gemäß in den vorangehenden Kapiteln vorbereitend dargelegt.

Welche Meinung uns auch immer ansprechen mag, Jeschajahu war in seiner Vision sichtlich beeinflusst vom Unrecht des Königs im Tempel. Gemäß der jüdischen Engellehre gibt es 7 Himmel. In den Zwischenhimmeln arbeiten die regulären Engel. In der obersten Etage, der dritten Heiligkeitsstufe, sitzt Gott mit den Seraphim. Jeschajahu darf in diese oberste Etage blicken.

„Vier Klassen von dienenden Engeln dienen dem Heiligen Einen – gesegnet sei Er – und sprechen sein Lobpreis: das erste Lager, angeführt von Michael, zu seiner Rechten, das zweite Lager, angeführt von Gabriel, zu seiner Linken, das dritte Lager, angeführt von Uriel, vor ihm, und das vierte Lager, angeführt von Raphael, hinter ihm. Die Schechina des Heiligen Einen aber – gesegnet sei Er – befindet sich in der Mitte. Er sitzt auf einem Thron hoch und erhaben.“

Pirke de Rabbi Eliezer, Kapitel 4: According to the Text of the Manuscript belonging to Abraham Epstein of Vienna. Transl. and annot. with introd. and indices by Gerald Friedlander. Kegan Paul, London,

Der Wille Gottes verlangt Heiligkeit und Reinheit. Diese Heiligkeit bringen die Seraphim, die Feuerengel, mit. Sie sind bereit, Gott in aller Demut zu dienen, weshalb sie sich mit ihren Flügeln bedecken.
Jes. 6,2 Brandwesen umstanden oben ihn, sechs Schwingen hatten sie, sechs Schwingen ein jeder, mit zweien hüllt er sein Antlitz, mit zweien hüllt er seine Beine, mit zweien fliegt er.
Die Zahlen Zwei, Vier und Sechs sind auch hier von Bedeutung. Zwei steht für die Polarität des Lebens: oben – unten, Mann – Frau, Tag – Nacht.
Sechs meint das Umfassende: Nord, Süd, Ost, West, oben und unten, die Ausdehnung des Raumes. Was hier geschieht, hat Auswirkung auf den gesamten Raum der Erde. Das Geschehen ereignet sich oben, aber es wirkt weiter ins Irdische bis in alle Himmelsrichtungen.
Vier Flügel bedecken den Körper und bleiben inaktiv, zwei Flügel zum Fliegen sind aktiv. Das Aktive spielt sich oben und unten ab. Passivität und Aktivität stehen im Verhältnis 2:1. Es gibt also Zeiten, in denen es der Ruhe und der aufmerksamen Wahrnehmung bedarf. Der Vorgang im Tempel ist stärker geprägt von Passivität und verlangt Innerlichkeit.

Jes. 6,3 Und der rief dem zu und sprach: Heilig heilig heilig ER der Umscharte, Füllung alles Erdreichs sein Ehrenschein!
Ein dreimaliges Heilig lässt Franz Rosenzweig die Entwicklung der Menschheit in dieser Triade sehen: Schöpfung, Offenbarung, Erlösung. Die Idee des Satzes besteht darin, dass die Erde zwar desolat ist, aber Gott von der Höhe in die niedrigsten Ebenen der Erde reparativ eingreift. Die Erde ist von IHM erfüllt, ob Seine Menschheit es wahrnimmt oder nicht.
Gott ist und bleibt absolut heilig, daran ändert auch der Zustand der Welt nichts, denn Gott ist nicht von ihm abhängig. An dieser Heiligkeit teilzuhaben, das bot Gott Seinen Kindern an.
3.Mos. 11,44  Denn ICH bin euer Gott: heiligt euch und werdet heilig, denn heilig bin ich,
Jeschajahu wird Israel zurückrufen, es an die Möglichkeit erinnern, Gott nahe zu kommen, heilig zu werden und Gottes Bote in der Welt zu werden.

Jemand, der geehrt wird, bekommt Gewicht = כֹּבֶד = kowed, die sprachliche Grundlage von Ehre = kawod = כַּבוֹד. Gott, der Schöpfer von Himmel und Erde, der alles erfüllt und trägt, bekommt diese Ehre zumindest von Seinen Dienern. Sie rufen sich die Botschaft von der Heiligkeit Gottes gegenseitig zu und vermitteln sie nicht hinab zu den Menschen.

Die Fülle Gottes wird durch den Rauch symbolisiert. Er gilt als Synonym für die Fülle von Gottes Geist. Wieder taucht die Drei auf: Rauch, Feuer, Glut in der Kohle.

Jes. 6,5 Ich sprach: Weh mir, denn ich werde geschweigt, denn ich bin ein Mann maklig an Lippen und bin seßhaft inmitten eines Volkes maklig an Lippen, – denn den König, IHN den Umscharten, haben meine Augen gesehn!
Jeschajahu empfindet sich als Mensch unreiner Lippen, weil die Heiligkeit Gottes ihn überwältigt. Es verschlägt ihm die Sprache. Dann bekennt er sich solidarisch mit seinem Volk. Durch das Sehen der Herrlichkeit Gottes im Saum Seines Gewandes erfährt er eine Klarheit, die er vorher nicht hatte. Er merkt, dass er klein ist und beschuldigt sich selbst, ohne dass ihn jemand dazu anhalten muss.
Die Mystik des Judentums sagt, dass der Mensch in der anderen Welt den Film seines Lebens sieht mit allen positiven und negativen Gefühlen. „Du kannst durch dieses Sehen und die Erkenntnis, die du am Ende hast, entweder den Himmel in dir haben oder die Hölle.“ Wir werden uns selber zum Himmel oder zur Hölle. Das Gefühl, das sich dann einstellt, wird sehr echt sein. Gott gibt damit die Möglichkeit des Purgatoriums, eines Ortes der Reinigung. Durch die Einsicht Gottes wird jedes Leben verändert.

Jeschajahu darf jedoch nicht sein Volk als ein Volk unreiner Lippen bezeichnen, weil er so üble Nachrede begeht. Ein Mann Gottes soll das Gute benennen und herbei beten, aber nicht den schlechten Status quo durch sein Reden festigen. Im Gegensatz zu ihm trat Mosche für sein Volk ein.
Andererseits sieht er sich nicht als etwas Besseres gegenüber dem Volk, denn der Kontrast zwischen der Heiligkeit Gottes und seinem Leben sowie dem Leben seiner Landleute schmerzt ihn. Dieses schlechte Sprechen über sich selbst und über sein Volk versündigt ihn, sodass der Seraph seine Lippen reinigt.
Es gab zu jeder Zeit reichlich Rufmord, auch die Ritualmordlegenden gegen Juden. Bis heute werden solche Verleumdungen in Gestalt von modernen Verschwörungstheorien tradiert. Da es diese ausgesprochenen Diffamierungen gibt, muss die Lippe mit Feuer gereinigt werden. Gott will keine Lippenbekenntnisse, denn sie sind nicht ernst gemeint. Sie können im Empfänger jegliche Freude töten. Jeschajahus Sünde wird bedeckt, nicht einfach beseitigt. Das lernen wir genauso von Jom Kippur, dem Tag der Bedeckung, nicht Versöhnung!
Jes. 6,7 er berührte damit meinen Mund, er sprach: Da, dies hat deine Lippen berührt, so weicht dein Fehl, so wird deine Sünde bedeckt (תְּכֻפָּר tekupar)
Auf  der bedeckten Sünde darf durch Gottes Gnade Neues wachsen. Gott vertilgt die Sünde nicht so, als hätte es sie niemals gegeben, sondern ER bedeckt sie, lässt sie hinwegschreiten (2.Sam. 12 13) aus Seinem Angesicht und aus unserem, wenn ER die Sünden bezwingt und dorthin wirft, wo sie auch für uns nicht zu sehen sind, sondern bedeckt vom Meerwasser.
Gott ist ein eiferndes Feuer, deshalb kommen hier die Seraphim = Brandwesen. Die Begegnung mit Gott ist ein feuriges Ereignis. Die Reinigung kann durch Feuer geschehen, muss aber nicht. Auf jeden Fall gibt es kein Feuermeer wie in Sodom und Gomorra, das vernichtet.

Jes.6,8 Nun hörte ich die Stimme meines Herrn, sprechend: Wen soll ich senden, wer wird für uns gehn? Ich sprach: Da bin ich, sende mich!
Gott stellt generell Fragen, weil er in Beziehung tritt. ER stellt zwei Fragen und Jeschajahu gibt zwei Antworten.
Der Prophet gilt in der jüdischen Tradition als ein verkörperter Engel. Da Gott fragt: „Wer geht für uns?“, kann angenommen werden, dass Jeschajahu einer des inneren Kreises ist. Darum legt ihm auch ein Engel die feurige Kohle in den Mund. Der verbrennt daran nicht, weil er gewohnt ist, mit Engeln umzugehen.

Erst nach der Prozedur der Reinigung hört Jeschajahu deutlich die Stimme Gottes. Und jetzt erwartet Gott eine beherzte Entscheidung, weshalb ER die Frage nach dem Boten stellt. Dabei Gott muss nicht fragen, weil ER alles weiß. ER stellt die Frage, weil sie auch das Volk Israel betrifft, das seinen Auftrag vergaß.
Aber nun entscheidet sich der Prophet eindeutig. Er sagt: Hier bin ich, sende mich. Damit geht er sogar über Mosche hinaus, indem er sich ausdrücklich mit einer Botschaft senden lässt. Jeschajahu ist der einzige Mensch, der dieses שְׁלָחֵנִי schlacheni = „sende mich“ ausspricht. Er ist bereit, ganz in dieser Sendung aufzugehen und die himmlische Ordnung, die er gesehen hat, auf Erden zu verkünden. Wer Jeschajahu sieht und hört, soll den Vater sehen und hören, längst bevor Jesus so sprach.

Der typische Sendungsauftrag lautet: Geh! Gott gibt 8 Imperative, was auf die Unendlichkeit hinweist.
Jes. 6,9 Geh, sprich zu diesem Volk: Hört nur, höret, und unterscheidet nimmer, seht nur, sehet, und erkennet nimmer!
Und dann wird Gott ironisch. Die Ironie zeigt Gottes Verletztheit und verletzt ihrerseits den Hörer. Die drei wichtigsten Organe des Menschen sind nicht in Ordnung: Herz, Ohren und Augen. Das Herz ist der Sitz der Weisheit, mit dem ich aufgefordert bin, Gott zu lieben. Gott hätte Heilung bereit, aber es muss zur Wende kommen. Augen und Ohren müssten aufnahmefähig sein, dann müsste das Aufgenommene im Herzen am Wort Gottes geprüft und entschieden werden. Wieder die Drei würde zu Umkehr und Heilung = Neuerstehung führen, wenn Gott bereit wäre. Aus der Drei + Umkehr und Heilung wird die Fünf, das Begreifen. Doch das braucht nach Gottes Plan einen längeren Weg.

Jes. 6,11 Ich sprach: Bis wann, mein Herr? Er sprach: Bis dahin, daß Städte verheert sind, kein Insasse mehr, Häuser, kein Mensch mehr darin, des Menschen Boden verheert zu Öden. 12 Entfernen will ER den Menschen, groß wird die Verlassenheit des Landesinnern.
Nur Jeschajahu fragt Gott: Bis wann? Wie lange dauert es bis zur Heilung. Jeschajahu nimmt Anteil an dem Leid seines Volkes. Er braucht eine Perspektive für seine Botschaft und für seine Trostbotschaft. Doch es muss leider erst Zerstörung geben, damit es einen wirklichen Neuaufbau geben kann. Und die Zerstörung, die Entfernung aus seiner Heimat betrifft alle Menschen.

Jes. 6,13 Dann, wenn nur noch ein Zehntteil darin ist und es wieder zur Abweide ward: der Eiche gleich, der Steineiche gleich, von denen beim Fällen ein Stumpf blieb: sein Stumpftrieb ist Same der Heiligung.
Die Einheit Gottes wirkt durch die Zehn. Wenn nur noch ein kleiner Stumpf übrig bleibt, wird der zum Same für das Neue. Die Triebquelle wird erhalten. Gott reißt nicht gnadenlos alles aus und pflanzt neue Bäume an, sondern ER erhält diesen kleinen Lebenstrieb, in dem Sein Lebenshauch Neues erschafft. In Bezug zu V3 entsteht das neue Heilige, wenn die Bereitschaft zum Bekenntnis du zur Umkehr wieder als zartes Pflänzchen aufkeimt und hineinwächst in die Anerkennung Gottes als der Eine Einzige und der regierende König.


[1] Das Buch Jeschaja, Julius Hirsch, Morascha Basel, 2019, S. 18
[2] Ebd.
[3] Ebd. S.70

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