vorgeschlagen für den 1. März 2020, 1. Sonntag Invocavit

Die List der Schlange

Die Schlange erscheint in diesem Text als besonders listiges Tier, das sich der gerade aus des Menschen Seite erschaffenen Frau nähert. Warum ausgerechnet wendet sich dieses Tier an sie? War es nicht Adam, der im Gegensatz zu der Frau direkt mit Gott gesprochen hatte? Sie war noch gar nicht geschaffen, als Gott dem Menschen die Aufgabe der Bewahrung des Paradieses auftrug sowie den Verzicht auf die Früchte des einen Baumes.
Beachten wir, dass die Schlange im Hebräischen männlich ist. Daraus ergibt sich der interessante Aspekt, dass der Schlangerich sich mit seiner Frage in doppeltem Sinne verführerisch an Adams, des „Erdlings“ (Pinchas Lapide) Gattin wandte. Da er erst in Konsequenz dieser Verführung auf dem Bauch kriechen musste, versteht die jüdische Tradition den Schlangerich als schönes Tier, das in der Lage war, anmutig aufrecht zu gehen und so dem Menschen auf Augenhöhe zu begegnen.
Er tat also interessiert, fragte nach dem, was Gott gesagt hatte und ließ die Frau selbst beginnen, von dem besonderen Baum zu sprechen, von dem allein sie nicht essen durften. Dabei machte sie einen fast unmerklichen Fehler, indem sie dem Wort Gottes etwas scheinbar Unbedeutendes hinzufügte: Wir dürfen ihn nicht berühren.  Gott aber hatte zum Menschen gesagt: Kap.2,V16 Von allen Bäumen des Gartens magst essen du, essen, V17aber vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, von dem sollst du nicht essen, denn am Tag, da du von ihm issest, mußt sterben du, sterben.
Somit braucht man nicht viel Fantasie, wie der Schlangerich die Frau umschmeichelnd nur leicht gegen den Baum schubsen musste, um ihr zu demonstrieren: „Schau mal, du bist gar nicht gestorben.“ Konsequenterweise folgt daraus:  Kap.3,4 Sterben, sterben werdet ihr nicht, V5 sondern Gott ists bekannt, daß am Tag, da ihr davon esset, eure Augen sich klären und ihr werdet wie Gott, erkennend Gut und Böse.
Plötzlich wurde der Baum zu Lust und Anreiz für die Augen und damit auch für das Begehren, die Hand gerade nach dem Verbotenen auszustrecken.

Das kennen wir nur zu gut, und Peter Alexander sang es melancholisch:

Die süßesten Früchte fressen nur die großen Tiere,
Nur weil die Bäume hoch sind und diese Tiere groß sind,
Die süßesten Früchte schmecken Dir und mir genauso,
Doch weil wir beide klein sind, erreichen wir sie nie.

Sündenfall? Vertreibung?

Das, was uns unerreichbar ist, sei es durch Entfernung oder Gebot, wird für uns zum Verlockendsten auf der ganzen Welt! Es kann zur Besessenheit werden, dieses Unerreichbare doch zu erreichen. Und das ist wiederum so zweideutig wie die Dualität in der Schöpfung angelegt ist: Geht es um unsere eigene Begierde, die nie genug bekommt, immerzu unzufrieden und egoistisch ist, so führt diese Gier zur Sünde, zu Diebstahl, Manipulation, Betrug …
Geht es jedoch um die Linderung von Not, die unerreichbar scheint, ist sie die Triebfeder für Forschung und Entdeckung, für die Entdeckung von Erregern und dem heilenden Pilz Penizillin, von Röntgenstrahlen und Impfseren, von orthopädischen Hilfsmitteln, die Gelähmten oder Amputierten ein Stück ihrer Beweglichkeit wiedergeben.
Wie ist nun unsere Geschichte zu verstehen? Handelt es sich um den berühmt-berüchtigten Sündenfall? Das Wort „Sünde“ kommt im gesamten Text nicht vor, lediglich in der Perikopenüberschrift, welche christliche Bibelübersetzer erfanden und damit eine Interpretation vorgaben, die dazu verleitete, ungeprüft übernommen zu werden.
Die Fragen sind doch: Warum ist der Verzehr einer Frucht so unverzeihlich? Und: Was bedeutet „sterben“? Was konnte das erste Menschenpaar darunter verstehen, das gerade erst in ein sehr lebendiges Paradies gestellt worden war. Die Frage wird noch interessanter, wenn man sieht, dass nach diesem Ungehorsam keiner von beiden nach unserem Verständnis stirbt.

Leben in der Polarität

Hierzu möchte ich Gedanken von Friedrich Weinreb, „Schöpfung im Wort“ (S.172-180), wiedergeben, der erklärt, was die Bedeutung des hebräischen Wortes „essen“ ist. Es geht dabei nicht nur um die reine Nahrungsaufnahme, sondern um ein Verinnerlichen dessen, was aufgenommen wird. Hier essen der Mensch und seine Frau von der Frucht des Baumes „der Erkenntnis des Guten und des Bösen“. Sie essen von einem Baum, der die Polarität der Schöpfung in sich trägt, nämlich Gut und Böse. Solange der Mensch nicht davon isst, erkennt er diese Polarität nicht, weil er sie nicht verinnerlicht hat. Er erlebt zwar hell und dunkel aufgrund von Tag und Nacht, aber es erscheint ihm noch wie etwas Zusammengehöriges. Gleichermaßen verhält es sich mit dem Tod. Als ein Gang in eine andere Welt ist er im Paradies noch Teil des einen Lebens. Durch die Verinnerlichung der Zweiheit durch die Frucht vom Baum dieser Zweiheit aber wird der Tod für den Menschen zum Bruch mit dem Leben. Und darum „erkennt“ der Mensch auch seine Nacktheit, in der er sich doch die ganze Zeit befand. Aber sie bedeutete ihm noch nichts Anstößiges, Schambesetztes. Das konnte sich erst durch die verinnerlichende Aufnahme dieser Frucht ereignen.
Aus der Geschichte verstehen wir laut Weinreb, wie Gott die Welt geschaffen hat und welches die Auswirkungen der Polarität der Schöpfung sind. Darum hat sie für uns heutige Leser noch immer Gültigkeit. Es geht nicht darum, wer Schuld trägt an unserem irdischen und wenig paradiesischen Leben, sondern was jedes Geschöpf Gottes umtreibt, sodass es den außerparadiesischen Weg als Lernweg braucht, um somit nach diesem Leben ins Paradies zurückzugehen. Unsere materielle Welt zeigt uns, dass wir mit Herausforderungen, mit Versuchungen und Verführungen zu tun haben, dass wir lieber die „Schuld“ oder Verantwortung beim andren suchen als bei uns selbst. Wenn wir aber all diesen Ballast durch die Kenntnis der Bibel, die uns Gott nahe bringt, mit diesem Schöpfer und Vater in Verbindung bringen und zum Guten transformieren, dann bereiten wir uns und unseren Mitmenschen schon hier ein Paradies auf Erden und wir bereiten uns darauf vor, in Gottes Nähe endgültig leben zu können. Die Vertreibung aus dem Paradies gab dem Ebenbild Gottes die Chance zur Entwicklung. In der polaren Welt geht das nicht ohne Schmerz.

Eine sprachliche Besonderheit

Ein sprachlich interessanter Aspekt sind die hebräischen Worte für Wahrheit und Tod. Tod heißt „met מת“, Wahrheit  „emet אמת“. Der Unterschied zwischen beiden Worten liegt allein in einem einzigen Buchstaben, dem Buchstaben Aleph א, dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets. Mit Aleph beginnt auch der Gottesname „Elohim“. Die Wahrheit liegt also in Gott und ohne IHN kommt es zum Tod. Das mag ein spiritueller Tod sein, der dem körperlichen vorangeht, wie wir es auch in der Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies deuten können.

Die Konsequenzen

Wichtig scheint mir, dass der Schlangerich als erster von Gott angesprochen und auf die Konsequenz seiner Verführung hingewiesen wird. Der Verführer verliert seinen aufrechten Gang, den er nur äußerlich hatte. Nun entspricht sein Äußeres seiner inneren Unaufrichtigkeit. Mann und „Männin“, wie Luther früh und durchaus richtig übersetzte, tragen nachparadiesisch die Last des polaren Lebens, aber sie bleiben beide in ihrer Aufgabe sich zu vermehren und der Erde zu dienen. Allerdings müssen sie nun bewusst und real erleben, wie anstrengend, ermüdend, gefährlich sowohl die Schwangerschaft und Geburt als auch die Arbeit zur täglichen Versorgung sein werden. Ihre Aufgabe, weiterhin Mitschöpfer Gottes zu sein und Verwalter Seiner Schöpfung, das bleibt ihnen, dazu sind sie bestimmt. Und sie werden das immer mit dem Schöpfer gemeinsam tun können, sobald sie sich auf IHN besinnen.

Jeder ist gerufen

Gott rief nicht nur im Garten: „Adam, wo bist du?“ ER ruft noch heute nach jedem Adam (= Erdling, aus Erde = Adama geschaffen), also nach jedem Menschen. Wusste Gott etwa nicht, wo Adam war? Weiß ER nicht, wo wir sind, wenn ER ein allmächtiger Gott ist. O doch, ER weiß es sehr wohl, aber ER möchte mit jedem Menschen ins Gespräch kommen. Der Gesprächsfaden reißt nicht ab, auch nicht nach Verfehlungen in unserem Leben. Die Frage ruft auf zum Gespräch. Und sie ruft ins Nachdenken für den Antwortenden: „Ja, wo bin ich eigentlich gerade? Wohin habe ich mich verlaufen?“ Die Frage ist wie ein Ruf im Dunkeln, der uns neu die Orientierung schenkt.

Wer kämpft gegen die Schlange?

Auf Vers 15 möchte ich nur kurz eingehen. Dieser Vers wird in der christlichen Auslegung gerne auf Jesus bezogen, obwohl es sich hier um eine Geschichte des Anfangs handelt, die für die Menschheit eine viel allgemeinere Gültigkeit bieten möchte.
15 Feindschaft stelle ich zwischen dich und das Weib, zwischen deinen Samen und ihren Samen, er stößt dich auf das Haupt, du stößest ihm in die Ferse.
Der Schlangerich oder die Schlange steht für eine Versuchung, der wir uns in diesem irdischen Leben durchgängig ausgesetzt sehen. Diese Verführung zielt darauf ab, uns im wahrsten Sinne des Wortes „den Kopf zu verdrehen“ und „zu Kopfe zu steigen“, unsere Gedanken zu verwirren, zu verunsichern. Darum müssen wir diese destruktive Kraft unter die Füße bekommen und ihr den Kopf zertreten, bevor sie uns zu Kopfe steigt. Diese Aufgabe obliegt uns jeden Tag aufs Neue.

Dazu zitiere ich meine Lieblingssätze von Pinchas Lapide S.22:

„So steht er nun vor uns:
Ebenbild und Erdenkloß,
animalischer Natur und göttlichen Geistes,
eine Zerreißprobe auf zwei Beinen,
ein lebendiger Bindestrich zwischen Oben und Unten,
erdgebunden und himmelstrebend,
verurteilt zur ewigen Freiheit, tagtäglich zu wählen zwischen Gut und Böse –
und kein Gottessohn, kein heiliger Geist, kein Himmelswesen nimmt ihm diese Verantwortung ab, die seine Hölle oder sein Himmelreich werden kann.“

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