Getreideernte wie in alten Tagen im Kibbuz Tirat Zwi

Gerade ist das christliche Pfingstfest zu Ende gegangen. Es ist traurig, dass viele Christen nicht wissen, was an diesem Fest gefeiert wird – am wenigsten die Geburtsstunde der christlichen Kirche oder des Christentums. Aber es ist noch trauriger, dass die Wurzel dieses Festes nur wenigen bekannt ist.

Was bedeutet Pfingsten? Diese Frage führt uns direkt zum Ursprung des Festes. Pfingsten = Pentecoste (griech./ lat.) heißt: der 50. Tag. Der 50. Tag wovon? Warum ausdrücklich 50? Die Zahl bezieht sich nicht auf die neutestamentliche Ausgießung des Geistes, sondern auf das jüdische Pfingsten, wie es in älteren Luther-Übersetzungen heißt.

Lev. 23, 9 ER redete zu Mosche, sprechend: 10 Rede zu den Söhnen Jissraels, sprich zu ihnen: Wenn ihr kamt in das Land, das ich euch gebe, und schneidet seinen Schnitt, bringt die Garbe des Anfangs eures Schnitts zum Priester. 11 Er schwinge das Garbenopfer vor IHM euch zu Begnadung, am Nachmorgen der Feierung schwinge es der Priester.  … 14 Brot, Korngeröst, Frischgraupen sollt ihr bis zu ebendem Tag nicht essen, bis ihr die Nahung eures Gottes gebracht habt, Weltzeit-Satzung für eure Geschlechter in all euren Siedlungen. 15 Zählet euch vom Nachmorgen der Feierung, vom Tag, da ihr brachtet die Garbe des Schwungs, sieben vollrunde Feiern sollen es sein. 16 Bis zum Nachmorgen des siebenten Feierrunds werdet ihr zählen, fünfzig Tage, dann werdet ihr neue Hinleite darnahen IHM.

49 Tage werden vom zweiten Tag Pessach an gezählt, und am 50. Tag ist das Schawuot-Fest, die Übergabe der Tora am Berg Sinai. Dieses Zählen wird Omer-Zählen genannt. So verbindet das Zählen jedes der 49 Tage Pessach mit dem Fest von Schawuot zu einem Festzyklus. Und darum besteht derselbe Festzyklus zwischen dem christlichen Osterfest und Pfingsten. Schließlich feierte Jehoschua Pessach und Schawuot, nicht Ostern und Pfingsten. Letztere zu feiern bezieht sich nicht auf ein biblisches Gebot, sondern auf eine spätere Tradition der Kirche.

Omer עֹמֶר ist eine Maßeinheit für Gerste, welche täglich während der 49 Omertage in den Tempel in Jerusalem gebracht wurde. Gerste stellt das erste Getreide dar, das im Frühjahr geerntet werden konnte. An Schawuot ist der Weizen reif, und aus dem Anlass werden alle reifen Feldfrüchte an Schawuot in den Tempel gebracht. So verbinden sich die Wallfahrtsfest Pessach, Schawuot und Sukkot mit dem Dank für die Ernte, die mit dem Eintritt ins verheißene Land nach 40 Jahren möglich wurde. Mit dem Einzug ins Land hörte das Manna auf und das Volk lebte fortan vom Ertrag des Landes.

Den Tempel in Jerusalem gibt es nicht mehr. Trotzdem werden weiterhin mit großer Hingabe die Omertage gezählt. Warum?

Zum einen ist der Tempel in der Erinnerung des Juden sehr präsent. Er stand für die Verbindung mit Gott, für Gottes Präsenz unter Seinem Volk. Die Hoffnung richtet sich auf die Wiedererrichtung des Tempels, die Rückkehr der Herrlichkeit Gottes nach Zion. Allerdings sind Juden sich bewusst, dass dieser Tempel nicht durch Menschenhand erbaut werden wird, sondern durch Gott nach der Ankunft des Maschiach.

Um die Erinnerung an den Tempel so wach wie möglich zu halten, wird er durch Gebete ersetzt, durch Erwähnungen der Opfer in der Liturgie oder an jedem Schabbat und Festtag durch den Kiddusch zu Hause. Die häusliche Festtafel wird für den Moment zum Altar, auf dem Gott Brot und Wein zurückgegeben werden aus Dank, dass ER uns mit diesen Dingen versorgt. Auf den Sederteller wird ein Knochen in Erinnerung an das Pessachopfer im Tempel gelegt und Omer wird ab dem 16. Nissan, dem 2. Tag von Pessach, in Erinnerung an die täglichen Gerstenopfer im Tempel zwischen den beiden Wallfahrtsfesten gezählt.

Allerdings klingt das sehr technisch. Doch hinter dem Zählen des Omer ספירת העומר  Sefirat Ha’omer steht eine große Spiritualität.

Wir alle ziehen jedes Jahr aus Ägypten = Mizraim מִצְרַיִם (von der Wurzel zar צַר = eng), dem Land der doppelten Enge, aus. Wir rekapitulieren die Geschichte nicht einfach, sondern jeder Jude und jede Jüdin weiß, dass sie selbst aus der Sklaverei ausziehen müssen, dass sie sich in jeder Generation mit einem Feind konfrontiert sehen, der ihre Auslöschung will: Kreuzzüge und Pogrome, Hitler und Hamas sind nur ausgewählte Beispiele.

Aber jeder Jude, jede Jüdin zieht auch aus seiner/ ihrer eigenen Enge und Bedrückung aus. Und die ist sehr oft innerlich.

Von den Israeliten in der Wüste weiß der Midrasch, dass Gott sie in letzter Minute aus Ägypten rettete, denn sie waren 49 Stufen auf der moralischen Leiter gesunken, auf der 50. Stufe wären sie nicht mehr zu retten gewesen. Darum brauchte es die 49 Tage bis zum Sinai, damit sie sich von ihrer spirituellen und moralischen Unreinheit reinigen konnten. In diesen 49 Tagen half ihnen Gott, ihre Würde und Heiligkeit wiederzuerlangen, sodass sie als geeintes Volk, als freie und aufrechte Menschen die Tora am Berg Sinai in Empfang nehmen konnten. Ein Volk mit einer verbindlichen Ethik, das das Land Abrahams in Besitz nehmen würde.

In Anlehnung an dieses Bild verlassen wir jedes Jahr unser Ägypten, verlassen unser persönliches Exil mit unseren eigenen Anstrengungen. Wir machen kleine Schritte, indem wir Omer zählen und so jeden Tag eine Art Seelenbilanz חֶשְׁבּוֹן נפש cheschbon nefesch vornehmen. Cheschbon חֶשְׁבּוֹן ist heute die Rechnung oder Bilanz, meint aber zurzeit der Bibel gleichfalls zählen. Wir begeben uns auf eine Reise durch unsere Gefühls- und Gedankenwelt und fragen uns, wie wir sie verbessern können. Alles, was uns die wahre Freiheit vorenthält, wird somit Schritt für Schritt abgeschält, damit auch wir als freies, aufrechtes Volk am Sinai die Tora empfangen und Gott noch besser begegnen können. Aus Liebe zu IHM wollen wir IHM ähnlicher werden, heilig wie ER gemäß
Lev. 19,2 Ihr werdet heilig werden, denn heilig bin ICH euer Gott.

Wie das Feld eines Landwirts vor der neuen Saat von Steinen befreit werden muss, so räumen wir in unserem Innern auf. Davon hängt, wie beim Feld, unsere spirituelle Ernte eines ganzen Jahres ab.

Durch das ausdauernde Zählen ist das Ziel, das Wachsen unserer Persönlichkeit gemäß der göttlichen Eigenschaften. Wir wachsen mehr und mehr in die göttliche Reinheit. Manche Eigenarten halten uns von spirituellem Wachstum ab. Sie sollen überwunden werden, und dazu Gott gibt uns gerade in diesen Tagen Herausforderungen für unser Wachsen, indem wir vergangene Fehler reparieren dürfen. Eigentlich sind wir Sklaven unserer negativen Eigenschaften, doch von denen können wir uns durch das Zählen reinigen und befreien. Ganz neues Potential wird in uns geweckt.

Weil das Fest Schawuot שָׁבֻעוֺת = Wochen heißt, werden nicht nur die Tage gezählt, sondern auch die  Wochen.
lispor לספור bedeutet zählen, aber als lesaper gelesen heißt es erzählen. Friedrich Weinreb sagt: Wer zählt, erzählt. Mit ספירה sefira (Zählung) hängt auch סֵפֶר sefer = Buch zusammen. Wenn wir also zählen, so erzählen wir gleichzeitig die Geschichte unseres Lebens und schreiben sie in unserem Buch nieder. (Rabbi Chaim Richman)[1] Dadurch machen wir unsere Tage gleichzeitig zählbar und wertvoll.

Im Psalm 90 heißt es:
Ps. 90,12  Unsre Tage zu bestimmen, laß es recht kennen, daß ein Herz der Weisheit einkomme uns!
Vielleicht bekannter mit der Formulierung der Schlachter-Übersetzung:  Lehre uns unsere Tage richtig zählen, …
Im hebräischen Urtext wird das Verb לִמְנוֹת limnot benutzt, dass so viel bedeutet: unsere Tage zu gewichten (Yuval Lapide). Indem wir die Tage unseres Lebens „zählen“, verbringen wir sie bewusst und verleihen ihnen Gewicht und Bedeutung.
Oder, wie ein anderes Wort mit der Sprachwurzel von lispor ausdrückt: סַפִּיר Sapir – Saphir, der Edelstein. Wir werden unsere Tage zum Leuchten bringen. Sie werden Gottes Größe und Liebe ausstrahlen. Wir gewinnen Gottes Licht der wahren Freiheit.

Das Zählen der Omertage hat besondere Bedeutung, wenn man die kabbalistischen Sefirot ספירות = Ziffern, hier die 7 göttlichen Attribute der Emotionen, hinzunimmt. Jeder Tag und jede Woche wird diesen Attributen wie Chessed = tätige Liebe, Gevurah = Disziplin, Zurückhaltung, Tiferet = Schönheit, Harmonie, Netzach = Ausdauer, Ambition, Hod = Demut, Glanz, Jesod = Begrenzung, Fundament, Malchut = Souveränität, Adel zugeordnet. Somit stellt sich für den Beter – denn gezählt wird mit einem Segensspruch -, wie meine Liebe in der Harmonie oder in der Disziplin aussieht, oder wie ich meine Demut in der Souveränität lebe und was ich daran verbessern kann. Mein Gebet wird durch diese Beispiele praktisch.

Wir zählen 7 Wochen nicht nur wegen der 49 Stufen, die die Kinder Israel gesunken sind. Die 7 hat ihre Bedeutung darin, dass sie einen vollständig abgeschlossenen Zyklus in unserer Welt meint. 7 Tage hat die Woche, wovon Gott den 7. Tag heiligte. Das 7. Jahr ist ein Schabbat für das Land, das Schmitta-Jahr, indem der Boden nicht bearbeitet werden darf. Ebenso ist nach 7×7 Jahren das 50. Jahr ein Jobel-Jahr, ein Jahr der Freilassung.
7-mal nennt Gott Seine Schöpfung „gut“.
Auf Hebräisch heißt 7 שבע schewa. Es gibt die Schewa Brachot, die 7 Segnungen nach einer Hochzeit oder die Schiwa-Tage, die 7 Tage der Trauer bei einem nahen Angehörigen.

שבע als sawe’a ausgesprochen, bedeutet satt; שְׁבוּעָה schwu’a ist der Schwur. Demnach heißt Elisabeth/ Elischewa: Gott hat mir Seine Fülle zugeschworen.

Nach den 7 Wochen erwartet uns Gottes Fülle, die ER uns so gerne gibt. Wenn wir unseren Beitrag leisten – nachdem ER Seinen durch die Erlösung aus der Knechtschaft geleistet hat -, dürfen wir reiche Ernte einfahren. Was wir für Gott tun, ist wirkliche Freiheit. Wir arbeiten nach Beendigung des Manna für unser tägliches Brot, wir zählen das Omer – und vertrauen in allem Gott. Wir tun Seinen Willen, und das allein bringt uns an Gottes großes Ziel.

Die 50 sagt uns, dass wir nach der 40, welche für die Zeitlichkeit steht, in der Überzeitlichkeit sind. Der 50. Tag ist der Beginn der 8. Woche und markiert die Transzendenz, in der Gott sich mit dem Menschen durch den Bundesschluss am Sinai verbindet.

Nach Schawuot, nach unserem spirituellen Aufstieg, wird der Weizen geerntet und Brot daraus gebacken. Früher war die Gerste eher das Getreide für die Tiere. Jetzt sind wir in der Lage, als erneuerte Menschen Weizenbrot zu essen.


[1] https://www.youtube.com/watch?v=HYra8DemGfQ

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