Predigttext vorgeschlagen für Sonntag, d. 30.11.2025, Erster Advent
Röm. 13, 8 Seid niemand etwas schuldig, außer dass ihr einander liebt; denn wer den anderen liebt, hat die Weisung erfüllt. 9 Denn die Gebote: »Brich nicht die Ehe, morde nicht, stiehl nicht, leg kein falsches Zeugnis ab, begehre nicht« — und welches andere Gebot es noch gibt —, werden zusammengefasst in diesem Wort, nämlich: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« (Lev.1,18) 10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses; so ist nun die Liebe die Erfüllung der Weisung. 11 Und dieses werden wir tun als solche, die die Zeit verstehen, dass nämlich die Stunde schon da ist, dass wir vom Schlaf aufwachen sollten; denn jetzt ist unsere Errettung näher, als da wir gläubig wurden. 12 Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber ist nahe. So lasst uns nun ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts!
Hier spricht eindeutig der Jude Paulus Scha‘ul! Er weiß, dass es auf die Liebe ankommt. Wer den anderen liebt, erfüllt eine Mizwa, und zwar die wichtigste in Bezug auf Menschen. Sie fasst alle Gebote, die unser Verhältnis zum Mitmenschen bestimmen, zusammen.
Auch die anderen Gebote sind Mizwot. Im Hebräischen haben sie eine andere Bedeutung, als uns die Übersetzung von Gesetz oder Gebot suggerieren. Es geht nicht um eine Angelegenheit, die bei Nichterfüllung bestraft wird. Die Einhaltung einer Mizwa stellt eine Verbindung zum Vater, zum Schöpfer her. Mizwa מִצְּוָה kommt von der Wurzel צוה = zawa, welche Verbindung bedeutet. Ich komme durch die Einhaltung der Mizwot (Plural) also meinem Gott näher, weil ich IHN in Seiner Liebe nachahme.
„Gesetz“ ist häufig eine falsche Übersetzung für „Tora“. Tora, der erste Teil der hebräischen Bibel, ist Gottes Weisung an Sein Volk. Tora kommt von lehorot לְהוֹרוֹת = unterrichten, anweisen und damit heißt Tora = die Weisung. Die Tora enthält so viel Erzählabschnitte, dass man nicht von einem „Gesetzbuch“ reden kann, das erste Buch Genesis (Bereschit בראשית = Anfang) enthält nur sehr wenig Gebote.
Außerdem ist es wichtig zu beachten, dass es im Hebräischen keine Modalverben wie sollen und wollen gibt. Alles steht im Futur. Gott geht also davon aus, wenn wir Seine Liebesvorgaben erkannt haben, dass ER uns aus der Hand von Feinden rettet wie Abraham, der Lot befreite; der unserer Gebete erhört wie die von Jizchak, als er für seine unfruchtbare Frau betete; der uns aus der Sklaverei in Ägypten befreite und uns ins versprochene Land führt, dass wir dann all Seine Gebote einhalten werden.
Im Gebot „Morde nicht“ steht im Hebräischen nicht das Wort „töten“. Sonst dürften wir auch keine Tiere töten und uns in Notwehr nicht verteidigen. Für töten müsste es heißen: לַהֲרֹג leharog. Das Gebot heißt aber: לֹא תִּרְצָח lo tirzach – MORDE nicht!
Auch wenn Paulus Scha’ul seine Briefe in Griechisch verfasste, war sein Denken als Pharisäer, der bei Rabban Gamaliel gelernt hatte, Hebräisch. Das konnte er als Schüler einer Koryphäe nicht ablegen. Wenn heute Rabbiner auf YouTube die Tora auf Englisch lehren, können sie nicht umhin, den Vers oder die Auslegung auf Hebräisch wiederzugeben und etwaige Übersetzungsfehler zu korrigieren.
Was das Gebot der Nächstenliebe angeht, so hat mein Schwiegervater Pinchas Lapide bereits herausgearbeitet, dass im Hebräischen der Dativus ethicus steht, also nicht „liebe deinen Nächsten“ sondern „liebe deinem Nächsten“. Damit wird ausgedrückt, dass dem Nächsten zugute gehandelt wird, nicht zuleide. Das wusste, wie wir im Predigttext lesen, auch Paulus Scha’ul.
Der Nächste ist laut Bubers Auslegung zum Begriff re’echa רֵעֲךָ = deinen Nächsten, deinen Weidegenossen nicht derjenige, der uns nahe steht, sondern derjenige, der uns jetzt im Moment gerade angeht, der unsere Hilfe und Liebe braucht. Re’echa kommt von רועה ro’e = Hirte, und der konnte in damaliger Zeit durchaus ein Konkurrent sein. Trotzdem betont Gott hier: ICH bin Gott, der Ewige. Damit macht ER deutlich, dass ER der gemeinsame Vater aller Menschen ist. So hat die Liebe des Nächsten ihren Sinn.[1]
„Die Stunde ist da! Wir sollten vom Schlaf erwachen!“
Das ist bis heute der Ruf der Rabbiner, die den Maschiach מָשִׁיחַ = Messias = Gesalbten, den Nachfolger Davids, und die kommende Welt erwarten. Er wird das Friedensreich anbrechen lassen, das bis heute leider Utopie ist. Alle Verfolgungen, Verleumdungen und Kriege werden ein Ende haben, wenn der Maschiach Einzug hält. Dafür müssen wir bereit sein, uns vorbereiten. Wir müssen vom geistigen Schlaf erwachen und die Zeichen der Zeit ernst nehmen. Dafür haben wir Waffen des Lichts, im Besonderen die Nächstenliebe.
[1] P. Lapide: Die Bergpredigt. Utopie oder Programm 1982, S. 81