Predigttext vorgeschlagen für Sonntag, d. 5.02.2023
9 Als Jesus von Kafarnaum aus weiterging, sah er einen Menschen beim Zoll sitzen, der hieß Matthäus. Jesus sagt zu ihm: »Folge mir!« Und Matthäus stand auf und folgte Jesus. 10 Und nun geschah es, als Jesus im Haus zu Tisch lag, seht, da kamen viele, die sich als Zollbedienstete bereichert, und viele, die Unrecht getan hatten. Sie kamen, um mit Jesus und seinen Jüngerinnen und Jüngern zusammen zu essen. 11 Das sahen einige aus der pharisäischen Bewegung und sagten zu seinen Jüngerinnen und Jüngern: »Warum isst euer Lehrer mit Leuten, die betrügen und Unrecht tun?« 12 Jesus hörte es aber und sagte: »Nicht die Gesunden brauchen ärztliche Hilfe, sondern die Kranken! 13 Geht nun weiter und lernt, was das heißt: Erbarmen möchte ich, kein Opfer. Denn ich kam nicht, um die zu berufen, die gerecht handeln, sondern die, die Unrecht tun.«
Bibel in gerechter Sprache
Jehoschua ist ein typischer Wanderrabbi seiner Zeit, der durch das ganze Land zieht und das Wort Gottes verkündet. Seine Verkündigung ist dem Niveau seiner Zuhörer angepasst. Im vorliegenden Text möchte er zuerst das Vertrauen der Menschen zu Gott gewinnen.
Dieser besondere Mensch, von dem die Perikope berichtet, saß am Zoll und nahm die Gebühren ein, die Händler auf ihre Waren zu zahlen hatten. Die Zöllner waren Mitarbeiter der römischen Besatzer. Von ihnen wurde die Abgabe ihrer Einnahmen erwartet, doch waren Steuern recht hoch, sodass der einzelne Zöllner nicht sonderlich viel verdiente. Deshalb forderten die Zöllner von den Reisenden mehr Zoll, als es die „Gebührenordnung“ vorsah. Der Überschuss wanderte in ihre eigene Tasche und die Händler hatten ihre liebe Not, ihre Handelsreisen zu finanzieren und ihre Waren zu verkaufen. Durch hohe Preise mussten sie die Ausgaben wieder einnehmen.
„So fällt z.B. auf, … dass er »die Zöllner«, die als Steuerpächter der Römerherrschaft vom Volk als Kollaborateure verhasst waren, regelmäßig in die Gruppe der Sünder einreiht (Mt 9,10;…)“[1], erklärt mein Schwiegervater Pinchas Lapide. Und weiter lernen wir über die damalig Zeit:
„Dieses Zurücksteigen, das alle historisch relevanten Umstände berücksichtigt, erhellt vor allem, dass Judäa seit dem Jahre 6 n. Chr. ein von den Römern besetztes Land war, die ihre Provinzen ganz offen zur wirtschaftlichen Ausbeutung missbrauchten. Die Steuererhebung, sei es mittels Militärgewalt oder durch das berüchtigte System der Steuerverpachtung an private »Zöllner«, gehörte also zu den Hauptaufgaben der »Prokuratoren«, wie die römischen Statthalter damals hießen, – was eigentlich dem Amt des »Hauptsteuereintreibers« entspricht. Kein Wunder, dass die Brutalität dieser »Zöllner«, die volle römische Unterstützung genossen, zu wiederholten Aufständen im Volke führen musste, so dass ein Teufelskreis von römischer Habgier, jüdischer Auflehnung und römischen Massenkreuzigungen als Repressalien, die wiederum die militante Reaktion der Eiferer (Zeloten) hervorriefen, den Zeitgeist und das politische Klima jener stürmischen Jahrzehnte unvermeidlich prägen mussten.“[2]
Jehoschua ruft Matthäus = Mattitjahu מתתיהו = Gabe Gottes von seiner Arbeit fort und fordert ihn auf, ihm zu folgen. Mattitjahu wird so von ihm lernen, was es heißt, mit und für Gott zu leben. Er wird erfahren, dass Gott ihm vergibt und ihn annimmt. Und dann wird er lernen, was zum Leben eines Juden dazugehört wie das dreimal tägliche Gebet, die Auslegung der Schrift, die Fürsorge für den Mitmenschen. Jehoschua wird ihm und seinen übrigen Schülern jede Frage erklären und ihnen das praktische Tun vorleben. Darum fordert Jehoschua ihn zur Nachfolge auf, da er durch das Gehen dieses Weges nach dem Vorbild seines Lehrers lernen wird, selbstständig mit Gott in allen Veränderungen des Lebens und in allen Herausforderungen zu leben. Er wird lernen, was mein Schwiegervater so erklärt:
„Kurzum, das Judentum ist seit Abraham eine stetige Werde-Religion: Umdeutung, geistige Verdauung neuer Erfahrungen und die ewige Jagd nach der Wahrheit – das sind seine Grundzüge, die nur den Glaubenskern als ewige Mitte beibehalten, alles andere aber der Dynamik des Lebens unterordnen. Daher ist das Judentum Moses nicht identisch mit dem der Richterzeit, und dieses wiederum unterscheidet sich beträchtlich von König Davids Glaubensweise. Ihnen folgen die Wandlungen des Exils, der Rückkehrer aus Babylon, der Makkabäer, der Pharisäer und der Rabbinen, die allesamt weiter dachten, neu interpretierten und ihr Judentum unaufhörlich dem Geist ihrer Zeiten anzupassen wußten.“[3]
Zu Jehoschua und Mattitjahu gesellen sich noch weitere Zöllner, die alle miteinander essen und Jehoschuas Ausführungen lauschen. Das wurde natürlich einigen Pharisäern bekannt und sie waren verstimmt. Sie hatten von ihm gehört, doch dieses enge Zusammensein und vertraute Verbringen mit den als Sünder geltenden Zöllnern rief ihre geballte Missbilligung hervor. Sie fragten darum die Schüler und Vertrauten Jehoschuas, warum er ausgerechnet mit solchen Leuten zu Tisch lag. Wusste er als Gelehrter nicht um ihre Vergehen? Dann müsste er sich doch fernhalten von ihnen oder ihnen zumindest schwerste Vorwürfe machen!
Noch bevor seine Schüler reagieren können, klärt der Lehrer selbst die Fragesteller auf: „Ich bin hier, weil die Kranken den Arzt brauchen. Das wisst ihr doch selber, dass ein Gesunder nicht zum Arzt geht. Jemand, der auf dem falschen Weg geht und sich dabei verletzt, weil er sich selbst schadet, braucht Hilfe. Ich bringe ihn zum wahren Arzt. Ich bringe ihm diesen Arzt nahe. Was tut ihr? Ist Verurteilung und Schelte der bessere Weg?“
Jehoschua übernimmt voller Erbarmen Verantwortung für Sünder. In den Worten von Pinchas:
„Da es einerseits für die Rabbinen ausgemachte Sache war, daß »ganz Israel füreinander verantwortlich ist« (Schebuot 39b), so daß keiner gleichgültig mit ansehen darf, wie ein Mitmensch in sein Verhängnis läuft, ohne zu versuchen, ihn davon abzuhalten; andererseits aber die gebotene Zurechtweisung nur allzu leicht zu einer öffentlichen Beschämung des Nächsten führen kann, die als schwere Sünde erachtet wird, galt und gilt es, mit Takt und Feingefühl den goldenen Mittelweg zu finden. Jesus, der im Sinne der Rabbinen seine Sorge um ganz Israel schon durch die Zwölfzahl seines Jüngerkreises zum Ausdruck brachte, ging es vor allem »um die Kranken, die den Arzt benötigen« (Mt 9,12), – also: die Sünder, Huren, Abtrünnigen und die verhaßten Zöllner, die er zur Buße bewegen wollte.“[4]
Jehoschua betrachtet die Sünde als Krankheit, denn er kennt die Schrift, den Tanach:
Jer. 3,22 – Kehret um, abgekehrte Söhne, ich will eure Abkehrungen heilen. – Da sind wir, wir laufen dir zu, denn DU bists, unser Gott!
Von Gott selbst lernt er, dass jemand, der sich von Gott abwendet, der Heilung bedarf. Denn warum wandte er sich vom Gott der Liebe ab? Vielleicht wurde er von Menschen schwer enttäuscht, erfuhr Ablehnung von Mitgläubigen, erlebte sich in einer schwierigen Situation alleingelassen, erfuhr weder Trost noch Rat. Darum gab er Gott die Schuld, weil Gottes Bodenpersonal versagte. Also braucht es z.B. Heilung der Gefühle.
Zur Heilung gehört die Vergebung, die Gott nicht nur Menschen zuteilwerden lässt:
2. Chr. 7,14 … so will ich es vom Himmel her hören und ihre Sünden vergeben und ihr Land heilen.
Zu Vergebung und Heilung gehört ebenso die Reinigung, denn das Begehen von Fehlern hinterlässt oft das Gefühl, schmutzig zu sein. Davon wissen auch Opfer sexueller Gewalt zu berichten, die selber nicht schuldig waren. Diese Art der Reinigung gab es genauso bei Priestern, die sich vor ihrem Dienst für Gott Waschungen unterzogen. Darum bat David:
Ps. 51,4 wasche mich völlig ab von meinem Fehl, von meiner Sünde reinige mich!
Für die verurteilenden Pharisäer hat Jehoschua eine andere Aufgabe. Sie sollen über folgenden Vers nachdenken:
Hos. 6,6 ja, ich habe an Huld Gefallen, an Schlachtmahl nicht, an Gotterkenntnis mehr als an Darhöhungen.
Im Hebräischen steht חֶסֶד chesed, was Buber mit Huld übersetzt, das aber im Wesentlichen die tätige Liebe meint. Gott freut sich nicht über Opfer, die aus Pflichtgefühl gebracht werden, nicht an blindem Gehorsam. Gott wünscht sich echte Beziehung mit den Menschen, doch dafür müssen sie IHN erkennen, müssen verstehen, dass hinter allen Opfern eine Selbsthingabe des Opfernden steht. Und dass die Beziehung zu Gott über den Mitmenschen gelingt, denn ihm kann ich praktisch Liebe erweisen, wie ich sie dann erst auf höherer Ebene Gott erweise.
Darum müssen die anwesenden Pharisäer lernen, was später der Jude Jochanan im Johannesbrief schreibt:
1.Joh. 4,20 Wenn jemand sagt: »Ich liebe Gott«, und hasst doch seinen Bruder, so ist er ein Lügner; denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann der Gott lieben, den er nicht sieht?
Jehoschua sieht sich berufen, die Sünder, die jetzt noch Unrecht tun, anzunehmen und ihnen zu helfen, neue Menschen zu werden, die von Gott geliebt werden und die darum Gott, ihren Vater, mit Hingabe lieben.
[1] Pinchas Lapide: Wer predigte in ihren Synagogen, Gütersloh 2022, S. 157
[2] Ebd. S. 304/ 305
[3] Pinchas Lapide: Die Bergpredigt, S. 66
[4] Ebd. S. 55
Danke für deine Auslegung Debora! Sie hilft mir tiefer Jesusworte in ihrem Kontext zu verstehen ! שבוה טוב