Für die Anregung zur Predigtauslegung am 8. Mai 2022 lege ich meinen Fokus auf die Bedeutung des Lichts und das Berufungsereignis des Schöpfungsberichts. Ausführlichere Gedanken sind in der Parascha Bereschit zu finden.

Gen. 1,1 Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. 2 Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz. Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser. 3 Gott sprach: Licht werde! Licht ward. 4 Gott sah das Licht: daß es gut ist. Gott schied zwischen dem Licht und der Finsternis. 5 Gott rief dem Licht: Tag! und der Finsternis rief er: Nacht! Abend ward und Morgen ward: Ein Tag.  …
26 Gott sprach: Machen wir den Menschen in unserem Bild nach unserem Gleichnis! Sie sollen schalten über das Fischvolk des Meeres, den Vogel des Himmels, das Getier, die Erde all, und alles Gerege, das auf Erden sich regt. 27 Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn, männlich, weiblich schuf er sie. 28 Gott segnete sie, Gott sprach zu ihnen: Fruchtet und mehrt euch und füllet die Erde und bemächtigt euch ihrer! schaltet über das Fischvolk des Meers, den Vogel des Himmels und alles Lebendige, das auf Erden sich regt! …
31 Gott sah alles, was er gemacht hatte, und da, es war sehr gut. Abend ward und Morgen ward: der sechste Tag.
2,1 Vollendet waren der Himmel und die Erde, und all ihre Schar. 2 Vollendet hatte Gott am siebenten Tag seine Arbeit, die er machte, und feierte am siebenten Tag von all seiner Arbeit, die er machte. 3 Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, denn an ihm feierte er von all seiner Arbeit, die machend Gott schuf. 4 Dies sind die Zeugungen des Himmels und der Erde: ihr Erschaffensein.

Buber-Rosenzweig, Die Schrift

Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. בְּרֵאשִׁית בָּרָא אֱלֹהִים אֵת הַשָּׁמַיִם וְאֵת הָאָרֶץ
Bereschit bara Elohim et ha’schamaim we’et ha’aretz.

Gott schuf im Anfang unsere Welt aus dem Nichts. Selbst das Tohu Wabohu gab es noch nicht. Diese besondere Schaffen wird durch das Verb bara בָּרָא neu schaffen ausgedrückt, das nur für die göttliche Schöpferkraft benutzt wird.
Im Anfang stellt eine undefinierte Zeitspanne innerhalb der Ewigkeit Gottes dar, der den eigentlichen Anfang Seines Schöpfungswerks bezeichnet. Sie drückt aus, dass mit der Schöpfung ein Zeitablauf beginnt, der in der Ewigkeit nicht zu finden ist, sondern der der gesamten Schöpfung eine Orientierung, einen Halt geben wird. 

Es fängt mit dem Wirken des Geistes Gottes an, der über dem Chaos der Erde schwebt. Zwischen Gottes Geist und dem Antlitz der Wasser gibt es eine Beziehung, denn das Antlitz lässt eine Zugewandtheit erkennen. Die Urflut, das Wasser wenden sich an Gottes Geist mit der Bitte um Ordnung. Alles erkennt von Beginn an die Schöpfungsmacht Gottes an. Daraufhin beginnen die 10 Schöpfungsworte Gottes, mit denen ER die Erde und alles, was auf ihr lebt, erschafft.

Die 10 Schöpfungsworte „Gott sprach und es ward“ lassen einen Zusammenhang mit den 10 Worten vom Sinai und der Tora erahnen. So erzählt die jüdische Tradition:

Ebenso wie ein König der einen Palast bauen will, dies nicht unvermittelt tut, sondern erst die Pläne eines Architekten studiert, so schaute Gott in die Tora und erschuf die Welt.

https://www.synagoge-karlsruhe.de/parshah/article_cdo/aid/709829/jewish/Das-Licht.htm

Ebenso sagt die Weisheit von sich:
Spr. 8,22 ER hat mich als Anfang seines Weges gestiftet, als vorderstes seiner Werke von je.

Gottes Blick in die Tora und das Hinzuziehen der Weisheit, dies alles fand „im Anfang“ statt. In der Folge kann der gesamte Schöpfungsbericht auch als Berufungsereignis verstanden werden. Gemäß dem Bauplan Gottes und Seiner Weisheit schuf Gott als erstes das Licht, um das Chaos zu ordnen: „Licht werde! Licht ward.“ Diesem Licht wie auch der Finsternis ruft Gott eine Berufung zu: Sie werden zu Tag und Nacht, zu EINEM Tag. Gemeinsam verkörpern sie die Einheit des Schöpfergottes in der einen, neu geschaffenen Zeiteinheit Tag.

Nach der Erschaffung dieses Seines Schöpfungswerks würdigt Gott zum ersten Mal das Licht mit gut טוֹב tow. Dieses Licht bedeutet, dass Leben beginnen kann, dass es vor Gott keine Verborgenheit mehr gibt.
Andererseits müssen wir erkennen, dass das Licht des Schöpfungsanfangs unseren Augen verborgen bleibt. Das Licht des ersten Tages ist nicht das Licht, das wir heute sehen. Am vierten Tag schuf Gott die Himmelslichter, wie wir sie in unserer hiesigen Welt sehen. Mit der Materialität verbarg sich das Licht der Herrlichkeit Gottes, weil die irdischen Geschöpfe diesen Glanz nicht ertragen hätten. Das Licht Gottes wäre um ein Unsagbares heller als die Sonne, und schon in ihr Licht ist es uns unmöglich, hineinzuschauen. In dieser Welt Olam עוֹלָם hält Gott Sein Licht verborgen elam עְלַם.
Die jüdische Tradition weiß, dass es für die Gerechten in der kommenden Welt verborgen ist. Gott läutert diese Welt, sodass das unverfälschte Licht Gottes wiederhergestellt werden kann. Zudem „strebte der Schöpfer für sich eine Wohnstätte in der niedrigen Welt an, das heißt, dass Seine Verborgenheit (Dunkelheit) in eine offenbarte Allgegenwart (Licht) umgeformt werden würde.“[1]
Darauf hoffen wir alle, dass sich Gott in Seiner Macht und Herrlichkeit am Ende der Tage zeigt. Das Wort Gottes, das Licht, mit dem wir durch dessen Weitergabe die Welt erhellen können, verheißt uns:
Jes. 60,19 Die Sonne wird nicht mehr dein Licht sein, noch der Mond dir als Leuchte scheinen, sondern der Ewige wird dir zum ewigen Licht werden, und dein Gott zu deinem Glanz.
Der letzte Tag, der nur Gott bekannt ist, wird wie folgt beschrieben:
Sach. 14,7 Und es wird ein einziger Tag sein – er ist dem Ewigen bekannt -, weder Tag noch Nacht; und es wird geschehen: Zur Abendzeit wird es licht werden.

Dieses Licht lebt noch immer in uns als Anreiz zu guten Taten, denn wir tragen als Teil der Schöpfung die Erfahrung von hell und dunkel, von böse und gut in uns. So können wir unser Gewissen erklären. Darum hegen die meisten Menschen den Wunsch, die Welt durch gute Taten zu erleuchten. Dieses Licht gab Gott den Menschen mit auf ihren Weg:
Ps. 119,105 Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg.
Ps. 139,12 … so wäre auch die Finsternis nicht finster für dich, und die Nacht leuchtete wie der Tag, die Finsternis wäre wie das Licht für dich.

Das Berufungsereignis zieht sich durch die gesamte Schöpfung. Alle Kreaturen sind gehorsame Geschöpfe, und einige von ihnen werden zu Regenten von Nacht und Tage berufen. Die Sterne werden zur Zeitberechnung für die Feiertage herangezogen. So beginnt der Schabbat, wenn drei Sterne am Himmel zu sehen sind, zur selben Zeit endet er auch. Der Mond gibt uns den Anhaltspunkt für das Neujahrsfest. Jeder neue Monat wird ausgerufen, wenn kein Mond zu sehen ist, was ein deutliches Zeichen dafür sein soll, dass der Mond nicht anbetungswürdig ist, sondern eben nur ein demütiges Geschöpf. Er darf aber auch zur Berechnung anderer Feiertage dienen. So ist beispielsweise das Pessachfest am Vollmond wie auch das Laubhüttenfest. Gott gibt jedem Seiner Geschöpfe Aufgaben, Lebenssinn und Existenzberechtigung. Sie erfahren von ihrem Schöpfer Ansprache und bekommen damit einen Namen. Was Gott schafft, kann angesprochen werden.

Zum Schluss fehlt IHM noch ein Wesen, das ist der Mensch, der nach Seinem Bild geschaffen wird.

Mit wem bespricht sich Gott nun, dass ER Menschen machen will? Laut jüdischer Tradition spricht ER zu seinen Heerscharen von Seinem Plan. ER kann jedoch auch mit der Weisheit beratschlagen, die von Anbeginn dabei ist.
Er schuf den Menschen nach seinem Bilde, männlich und weiblich schuf er sie.
Mit dem Bilde Gottes ist also nicht das Aussehen, sondern die männliche und weibliche Natur Gottes gemeint. Der Schöpfer schuf sie als Mann und Frau. Dieser Mensch soll Gott vertreten, als Mann mit Kraft und Jagdtrieb, als Frau mit Mütterlichkeit und Beschützerinstinkt und der Fähigkeit Kinder auszutragen. All das ist auch in Gott vorhanden, der uns als Vater und Mutter begegnet.
Jes.66,13 Wie einen seine Mutter tröstet so will ich euch trösten; sagt Gott von sich selbst.

Diesem Menschen, der IHM ähnelt, der IHN vertreten wird in der Welt, diesen Menschen beruft der Schöpfer als Verwalter Seiner Welt. Der Mensch selbst vermehre sich und sorge für die belebte und die in unseren Augen unbelebte Natur. Sie braucht das Bedient werden, die Bearbeitung mit der männlichen Kraft und die Fürsorge, den Schutz der weiblichen Kraft. Dagegen soll der Mensch nicht, wie es fälschlich heißt, die Erde beherrschen oder sie untertan machen. Die Erde muss besorgt, umsorgt werden, sonst lehnt sie sich auf und schafft, wie wir es bei der Vertreibung aus dem Paradies hören, nur Dornen und Disteln. Gott bietet dem Menschen diese Erde mit allem Guten, das ER geschaffen hat, an. Es war alles sehr gut טוֹב מְאֹד tow me’od!

Mit dem Lob des Guten, das Gott sieben Mal ausspricht und damit die Vollkommenheit der Schöpfung in dieser Zeitlichkeit ausdrückt, ist nach jüdischem Verständnis das Licht Gottes gemeint, das in jeden Teil der Schöpfung Eingang fand.

Doch das Ende der Schöpfung ist noch nicht erreicht. Gott vollendet Seine Schöpfung mit Seiner Krone, dem Schabbat. Er legt die Arbeit nieder שָׁבַת schawat, was im modernen Hebräisch auch streiken heißt und zeigt dem Menschen, wie man diesen besonderen Tag dazu verwenden kann, fröhlich auf seiner Hände Werk zuschauen. An ihm kann der Mensch zur Ruhe vom Alltag und in Verbindung mit Gott kommen. Es ist kein Tag des Faulenzens, sondern ein Tag der dankbaren Rückschau auf das Werk der Woche. Es ist gleichfalls ein Tag, an dem der Mensch Gott in besonderer Weise vertraut, dass Seine Schöpfung bestehen bleibt unabhängig vom Menschen, weil der Schöpfer selbst sich in jedem Augenblick um sie kümmert, sie jeden Bruchteil eines Augenzwinkerns erhält und immer wieder neu erschafft.
Dieser Tag erfährt selbst einen besonderen Segen, den kein anderer Tag bekommt. Der Schabbat stellt einen besonderen Segen für die gesamte Schöpfung dar, denn er ist eine „Insel in unserer Zeit“ (Buchtitel von Pinchas Peli). Der Schabbat bedeutet für alle Geschöpfe ein besonderes Geschenk, für Menschen, Tiere, Pflanzen. Die Seele aller kann durchatmen. Die menschliche Seele kann das am besten, wenn sie sich mit Gott, ihrem Schöpfer, durch das Studium Seines Wortes verbindet.

Auf diese Weise holt der Mensch schon jetzt das verborgene Licht Gottes in diese Welt, die von Dunkelheit umhüllt und bedroht ist. Das sehen wir anhand des Krieges in Europa, und das ist auch die Botschaft des 8. Mai 1945, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Dieses Ereignis begleitet die Menschen weltweit noch heute und stellt an uns immer wieder die Frage: „Was haben wir aus der Geschichte gelernt?“
Sind wir in der Lage, heute voller Dankbarkeit zurückzublicken, weil Gott uns, auch Deutschland, erlöst hat aus der Hand eines Despoten? Sind wir bereit, unsere geschenkte Freiheit zu verteidigen, damit das Licht der Dankbarkeit leuchten kann? Echte Scham und aufrichtige Reue führen zurück zu Gott und lassen uns frei atmen. Falsche Scham und daraus resultierende Zögerlichkeit lassen uns unter Umständen nicht den Feind erkennen, der uns zurückwerfen will, lassen uns unter Umständen Freund und Feind nicht richtig unterscheiden und wirft uns in die Dunkelheit der Nacht.
Darum lasst uns das Licht und das Leben wählen und Gott um Weisheit bitten.
Dtn. 30,19 … das Leben und den Tod habe ich vor dich hin gegeben, die Segnung und die Verwünschung, wähle das Leben, damit du lebst, …


[1] synagoge-karlsruhe.de/parshah/article_cdo/aid/709829/jewish/Das-Licht.htm

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