Schabbat 25.April 2020, 1. Ijar 5780 – 17. Tag des Omer
Rosch Chodesch = Beginn des neuen Monats

In dieser Auslegung zum Wochenabschnitt werde ich den Fokus legen auf die Reinheitsgebote, welche Mann und Frau betreffen sowie auf den Aussatz, der immer wieder als Lepra missverstanden wurde, damit aber nichts zu tun hat. Vielmehr geht es bei allem um die Spiritualität und um die Gesundheit unserer Seelen. Zur Verdeutlichung gehe ich zurück zu den Geboten bezüglich der „reinen“ und „unreinen“ Tiere. Spannend ist die Aktualität der Bibel für unsere Zeit.

Reinheitsgebote für Mann und Frau

Auch in dieser Parascha geht es um Vorschriften, was das Buch Levitikus ausmacht. Nicht umsonst kennt die deutsche Sprache die Metapher „jemandem die Leviten lesen“. Die Leviten hatten im Tempel die Gesetze durchzuführen und einzuhalten, die im Buch Levitikus aufgeschrieben sind. Auf Hebräisch heißt es allerdings „Wajikra“ וַיִּקְרָא = „und er rief“ nach dem ersten Wort des ersten Kapitels. Gott rief zu Mose aus dem Stiftszelt, welches den Vorläufer des Tempels bildete.
In diesen Kapiteln geht es um das Gebot der Beschneidung der männlichen Neugeborenen sowie um die Reinigungsvorschriften für die Frau während der Menstruation oder nach einer Entbindung sowie für den Mann nach einem Samenerguss.
Für nichtjüdische Ohren klingt bei Reinigungsgeboten immer ein unangenehmes Gefühl mit, als seien die Monatsblutungen oder der Samenerguss etwas Schlechtes, etwas Schmutziges,  von dem man sich reinigen muss. Doch darum geht es im jüdischen Denken an dieser Stelle nicht, denn es geht um eine rein spirituelle Reinigung, die nichts mit Schmutz zu tun hat. Sexualität und Körperlichkeit sind im jüdischen Denken nichts Anstößiges, was die christliche Religion auf dem Hintergrund ihrer kulturellen Erfahrungen so nie verstanden hat. Aber warum gibt es dann solche Vorschriften bezüglich Reinigungen in den genannten Situationen?
Zum einen spielt der Gedanke mit, dass das Blut etwas Kostbares ist, in dem sie Seele des Menschen lebt. Das Blut der Frau steht immer im Zusammenhang mit der Weitergabe von Leben, zeigt also, wie die Frau als Nachfahrin der ersten Frau Eva = Chawa = „Mutter allen Lebens“ von Gott in den Schöpfungsprozess der Lebenserschaffung hineingenommen ist. Dafür steht beim Mann der Same. Mann und Frau erkennen durch die Reinigung an, dass sie in einen heiligen Prozess einbezogen sind. Wenn also das Lebenspendende den Körper verlassen hat, ist ein rituelles Bad angesagt, das Untertauchen in der Mikwe, wie die Talmudväter es ausdrückten, die mit lebendigem Wasser gefüllt sein muss, mit Grundwasser oder Quellwasser. Bei diesem Wasser geht es also wiederum um ein Eintauchen in das Leben. Das Wasser steht für Gott, der die Quelle lebendigen Wassers ist. Jesus verspricht dieses Lebenswasser der Frau am Jakobsbrunnen (Joh.4)
Jesu Mutter hielt die Tage der Reinigung ein und brachte danach ein Opfer. Aus Kap.12,8 können wir schließen, dass die Eltern Jesu arme Leute waren, die kein Schaf darbringen konnten, sondern nur zwei Tauben.
Die Zeiten, die eine Frau im Abstand zu anderen Menschen einhalten soll, dienen ihrem Schutz. Leider hat die moderne Gesellschaft das völlig vergessen, da Frauen sich selbst unter den Leistungsdruck gestellt haben, in einer Männergesellschaft mithalten zu können. Die körperlichen Unterschiede und Einschränkungen dürfen da keine Rolle mehr spielen. Dabei sind sie von Gott gegeben und verschaffen der Frau, die unter mehr oder weniger Monatsbeschwerden mit und ohne Stimmungsschwankungen leidet, ihren persönlichen Freiraum. Es kann ganz praktisch so gesehen werden, dass Mann und Frau durch solche Zeiten des Abstands ihre Liebe feurig und frisch erhalten können, weil es diese Zeiten gibt, in denen man sich neu aufeinander freut.
Die Zeit nach einer Entbindung heißt nicht umsonst „Wochenbett“, also die Wochen, in denen eine Frau mit den Blutungen, mit der Rückbildung der Gebärmutter, mit den Verschiebungen der Hormone und dem Umsorgen und Stillen des Neugeborenen Ruhe und Schonung braucht. Acht Wochen Mutterschutz nach einer Entbindung sind nach unserem Gesetz für eine berufstätige Frau Pflicht. Die Gefahren von Nachblutung und Infektionen sind in der Zeit erhöht.
Die Opfer nach der Entbindung markieren den Übergang von der Zeit des Abstandwahrens zurück in das alltägliche Leben. Die Zeit, welche die Frau damit verbringen musste, sich mit ihrer Körperlichkeit zu befassen und die Spiritualität notwendigerweise zu vernachlässigen, ist vorbei. Sie gibt mit dem Opfer von ihrer eigenen Körperlichkeit in dem Tier an Gott ab und startet neu in den neuen Lebensabschnitt.
Abstand wahren erfahren wir durch diese beschriebenen Situationen als etwas Gesundes, das Freiräume schafft und der Frau den ihr gebührenden Respekt entbietet. Wäre es nicht wünschenswert in unseren modernen Gesellschaften, dass die Frau sich nicht überfordern muss, um in der Männergesellschaft anerkannt zu werden, sondern dass diese den Frauen verantwortungsvolle Berufe und Aufgaben zutrauen, sie darin respektieren und sich ihrerseits auf die weiblichen Bedürfnisse einstellten. Das Volk zurzeit der Bibel musste diese Rücksicht nehmen und seinen Zug verlangsamen. Nicht die Ehrgeizigen und Ellenbogenkämpfer gaben das Tempo an, sondern diejenigen, die gerade Rücksichtnahme brauchten. Das macht eine Gesellschaft menschlich und stark, denn die Frauen in jeder Gesellschaft können nicht genug geachtet werden, da sie sich von Gott gebrauchen lassen, ihren eigenen Körper für das Heranwachsen neuen Lebens zur Verfügung zu stellen. Nach der Entbindung nehmen sie sich weiterhin zurück, um den Säugling zu nähren und lebensfähig zu machen.
In der aktuellen Coronazeit erleben wir das Gebot des Abstandhaltens. Es gibt, wie wir erleben können, ein Zuviel an Nähe, was wir als Übergriffigkeit empfinden. Beispielsweise haben wir die Prüderie der Nachkriegszeit hinter uns gelassen. Zum Glück können junge Menschen beiderlei Geschlechts ungezwungen miteinander umgehen. Das Pendel schlug aber zur anderen Seite aus, sodass junge Menschen sich fast unter dem Gruppendruck sehen, schon früh nach der Geschlechtsreife auch Geschlechtsverkehr zu haben, obwohl das dann mit Sicherheit noch nicht der „Mann fürs Leben“ oder „die Frau fürs Leben“ ist. Wir haben Verhütungsmittel als Medikamente und Kondome, was wie ein Freiheitsschlag verstanden wurde. Kein Abstand mehr zwischen den Geschlechtern, um sich die Zeit zur Reifung und Entdeckung der Welt zu lassen.

Aussatz und Heilung

Im Verlauf der Parascha wird ein weiterer Grund für Abstand ausführlich dargelegt: Aussatz. Diese Erkrankung hat nichts mit Lepra zu tun. Es handelte sich zur Zeit der Bibel um einen Ausschlag, der sowohl den Menschen als auch Kleidung oder das gesamte Haus befallen konnte. Es war die Aufgabe der Priester, anhand der Erklärungen in unserem Wochenabschnitt die Erkrankung zu diagnostizieren, die Behandlung in Form von Quarantäne anzuordnen, regelmäßige Kontrollen durchzuführen und schließlich die Heilung zu attestieren. Musste ein Mitglied des Volkes wegen Aussatz in Quarantäne, so musste die Reise angehalten werden. Das gesamte Volk musste bis zur Genesung des Erkrankten warten, bevor es weiterziehen konnte.
Auch damals gab es also Quarantäne, Abstand und Reisebeschränkungen. Wenn wir uns dem Wort Gottes öffnen, können wir aus diesem alten Buch viel für unsere Jetztzeit lernen.
Aussatz galt als Erkrankung für schlechtes Reden, üble Nachrede, ein Verhalten, das nicht mit Gottes Geboten der Nächstenliebe übereinstimmt. Was im Herzen dieses Menschen an schlechten Gedanken sein Zuhause gefunden hat und sich verletzend gegen Mitmenschen richtet, wird auf der äußeren Ebene sichtbar. Abstand ist notwendig, damit dieser Mensch sein falsches Verhalten überdenken kann. Abstand ermöglicht die Beschäftigung mit dem eigenen Ich, mit den Gefühlen und Verwirrungen, mit der eigenen Beziehung zu Gott.
Dieser Abstand ist auch heute für viele nicht leicht auszuhalten, weil sie mit sich selbst konfrontiert werden. Heute ermöglichen dann die modernen Medien Ablenkung und Zerstreuung, die aber nicht Sinn der Quarantäne und Abgeschiedenheit sind.
Manche Menschen haben schon vor Corona „Auszeiten“ in Klöstern genommen oder an stillen Orten, wo sie abgeschieden sein konnten von der Lautstärke der Außenwelt, von den ständigen Erwartungen und der pausenlosen Erreichbarkeit. Keine leichten, aber heilsamen Erfahrungen, um dem Hamsterrad zu entkommen und um sich selbst kennen zu lernen. Was da so alles in uns selbst aufzufinden ist, findet nicht immer Gefallen in unseren Augen. Umso notwendiger ist es, dass wir es erkennen und annehmen. Wenn wir an unserem Mitmenschen schuldig werden, steckt dahinter nicht unbedingt eine große Sünde. Es kann einfach ein Verdrängen unserer ungeliebten Seite sein, die uns ab und zu aus dem Gleichgewicht bringt, uns unsere Selbstliebe zerstört und wir darum keine Geduld und Liebe für den anderen finden können. Schon kommt es zu Neid und Verleumdung. Der andere muss klein gemacht werden, damit ich groß bin. Dieses innere Chaos soll seine Heilung in der Absonderung finden.
Je mehr das Innere spirituell durch Einsicht und Gespräch mit Gott gereinigt wird, umso deutlicher wird die Heilung des Körpers. Schließlich kann der Priester die Heilung bestätigen und die Quarantäne aufheben. Der Geheilte bringt das Opfer, mit dem er sich verdeutlicht, dass er von sich selbst Gott gibt, sich darbringt mit all der neu gewonnen Erkenntnis und bereit ist für den Neuanfang. Jeder Geheilte heilt damit die ganze Gesellschaft, die zur Rücksicht, zum Warten aufgefordert ist und diese Zeit ebenfalls zur Bilanzierung nutzen kann. Außerdem ist die Gesellschaft in der Wüste gefordert, den ehemals Schuldigen willkommen zu heißen und ohne Vorwurf wieder aufzunehmen, andernfalls beginge sie selbst die Sünde der üblen Nachrede.

Die ewige Seele des Menschen

Betrachten wir die Anordnungen, die in der vorhergegangenen Parascha mit den Speisegeboten, mit für den Verzehr erlaubten resp. unerlaubten Tieren endete und nun mit der Reinigung des Menschen fortfährt, so geht es immer um den Aspekt, dass Gott Sein Volk berufen hat, Ihm, dem Ewigen, zu entsprechen und ebenso heilig zu sein wie Er. Bei dem Unreinen geht es nicht um Schmutziges, sondern um Abstandsregeln, wenn ein Mensch nicht in Übereinstimmung steht mit dem lebendigen Gott; um eine Würdigung der Schöpfung, die für den Menschen geschaffen wurde, aber auch vom Menschen zu hüten und zu hegen ist. Bedenken wir, dass auch die „unreinen“ Tiere von Gott im Schöpfungsakt als „gut“ bewertet wurden.
Gott gab diese Regeln der Absonderung von Reinem und Unreinem zur Gesunderhaltung unserer Seelen, nicht zuerst unseres Körpers. In Lev. 11,43 sagt Gott: Verabscheulicht nicht eure Seelen durch alles wimmelnde Gewimmel,… (Martin Buber)
Die Bedürfnisse und Maßstäbe unserer Seele kennt Gott besser als wir, weshalb Er diese Vorgaben am besten geben kann, auch wenn sie unserem Ego nicht zugänglich sind. Unsere Seelen sind Gott so wichtig, dass Er diesen Hinweis im folgenden V44 wiederholt und zu sich selbst in Beziehung setzt:
Denn ICH bin euer Gott: heiligt euch und werdet heilig, denn heilig bin ich, bemakelt nicht eure Seelen an allem Gewimmel, das auf der Erde sich regt,… (Martin Buber)
Es geht um mehr als um Gelüste, es geht darum, den Anweisungen Gottes für die Gesundheit unserer ewigen Seele zu vertrauen, sodass wir mit dieser Festigkeit Anteil gewinnen an Seiner Heiligkeit. Damit ehren wir Gott und respektieren die Schöpfung.
Aus all diesen Entdeckungen in Gottes Wort komme ich zu dem Schluss, dass der weltweite Stillstand nicht das Versagen irgendeiner Regierung ist. Ich bin davon überzeugt, dass die Regierungen der Welt in dieser Situation auch Fehler machen, aber die erinnern mich an die Verwirrung und Verunsicherung, welche Gott die Ägypter erfahren ließ, als sie in die Wolkensäule rasten und am Ende im Meer versanken. Mittels eines mikroskopisch kleinen Lebewesens verunsichert Gott die gesamte Weltbevölkerung so sehr, dass sie still steht, Abstand nehmen muss und damit auch Abstand nehmen muss von Wirtschaftswachstum und verschwenderischem Konsum.
Gott wirft uns Menschen zurück auf uns selbst und fordert uns auf, nachzudenken und umzukehren wie zur Zeit der Bibel.
Auch Dürre und Missernten waren in der Sprache Gottes zu Bibelzeiten immer ein Hinweis darauf, dass der Glaube eines Volkes ausgedörrt ist und keine Frucht mehr bringt. Somit gilt die Einladung an uns, bei aller demokratischen Wachsamkeit, einen Blick auf unsere Situation aus einer höheren Perspektive zuzulassen und zu tun, was die heutige Parascha lehrt:
Gehe in dich, halte dich aus, lerne dich kennen und lieben, und dann gehe weiter mit Gott.

Wenn dir mein Beitrag gefällt oder du einfach jüdisches Leben in Deutschland unterstützen möchtest, lege ich dir die Chabad-Gemeinde in Karlsruhe ans Herz. Bitte spende für sie, damit immer mehr Juden zurückfinden in ihr Judentum und eine Heimat in dieser Gemeinde finden.
https://www.synagoge-karlsruhe.de/templates/articlecco_cdo/aid/445141/jewish/ber-uns.htm

Kommentar verfassen