Die Lesung ist für Palmsonntag, d. 2.4.2023 vorgeschlagen

4 Gegeben hat ER, mein Herr, mir eine Lehrlingszunge. Daß ich wisse erkenne, den Matten zu ermuntern, weckt er Rede am Morgen. Am Morgen weckt er das Ohr mir, daß ich wie die Lehrlinge höre. 5 Geöffnet hat ER, mein Herr, mir das Ohr. Ich aber, ich habe nicht widerstrebt, ich bin nicht nach hinten gewichen, 6 den Schlagenden gab ich hin meinen Rücken, den Raufenden meine Wangen beide, mein Antlitz habe ich nicht verborgen vor Schimpf und Bespeiung. 7 Mir hilft ER, mein Herr, darum wurde ich nicht zum Schimpf, darum konnte ich mein Antlitz kieselgleich machen, ich wußte, daß ich nicht enttäuscht werde: 8 nah ist, der mich bewährtspricht! Wer will mit mir streiten? treten miteinander wir vor! wer ist mein Rechtsgegner? er stelle sich mir! 9 Da, mir hilft ER, mein Herr, – wer ists, der mich bezichtigen mag? da, allsamt zerfasern sie einem Gewand gleich, die Motte frißt sie auf.

Buber-Rosenzweig, Die Schrift

So einen Menschen kann ich gebrauchen! Jemand, der gelernt hat, zuzuhören und mich aufzumuntern, jemand, der mir Mut zuspricht.

Aber, Moment einmal. Dieser Mensch redete zuerst mit jemand anderem! Bevor er mit Menschen spricht, redete Gott mit ihm. Gott offenbarte ihm Seine Enttäuschung, Seinen Ärger, Seinen Frust. ER wollte zu Seinem Volk reden, aber keiner war da, der IHN hörte. ER rief, ER wollte helfen, aber niemand fragte IHN darum. Seine Kinder behandelten ihren Schöpfer, als wäre ER Luft. Sie kamen sich groß vor, handelten emanzipiert; sie konnten alles ohne IHN.

Die Antwort des Propheten Jeschajahu lautete: „Aber ich, mein Gott, ich bin hier! DU gabst mir die Zunge eines Lernenden לְשׁוֹן לִמּוּדִים laschon limudim, damit ich unaufhörlich von DIR lerne, was ich zu reden habe. Ich rede nicht von mir selbst, sondern das, was DU mich lehrst.“

Auch Mosche brauchte Gottes Zusage, dass der Ewige ihn lehren würde, denn er sagte von sich:
Ex. 4,10 …, sondern ich bin schwer von Mund und schwer von Zunge.
Darum versprach ihm Gott, ihn zu lehren und ihm seinen Bruder Aaron zur Seite zu stellen. Für den würde Mosche zum Lehrer.
Ex. 4,12 Ich selber werde dasein bei deinem Mund und dich weisen, was du reden sollst. … 15 Rede zu ihm, lege die Rede in seinen Mund! Ich selber werde dasein bei deinem Mund und bei seinem Mund und euch weisen, was ihr tun sollt.

Jeschajahu nutzt seine Sprachfähigkeit, um die Müden und Hoffnungslosen zu ermutigen, in einer Situation, in der jede Hoffnung und Aussicht auf eine bessere Lage fehlt, genau wie bei Mosche. Diese Rede der Ermutigung und des Zuspruchs empfängt der Prophet oder Nawi נָּבִיא, der Künder, der Gottes Wort überbringt und kündet (נָבִיא nawi = wir werden bringen) durch das Hören lischmo’a לִשְׁמֹעַ. Er hört, so wie ganz Israel aufgefordert ist, zu hören.
Dtn. 6,4 Höre Jissrael שְׁמַע יִשְׂרָאֵל Schma Jissrael: ER unser Gott, ER Einer!
Höre! Bewahre in deinem Herzen! Rede davon! Unterweise deine Kinder!

Das von Gott geweckte Ohr ist allein fähig, auf Seine Stimme zu hören. Das Gehörte führt zur Erkenntnis, was nun zu reden ist. Keine Plattitüden, kein oberflächliches Gesäusel, sondern die klare Botschaft Gottes in Form von Mahnung und Trost. Jeschajahu weiß durch Gottes Geist, welches Wort zu welcher Stunde von ihm gefordert wird.

Jeschajahu hörte einmal die Stimme seines Herrn:
Jes. 6,8 Wen soll ich senden, wer wird für uns gehn? Ich sprach: Da bin ich, sende mich!
Dieses הִנְנִי hineni Hier bin ich!, war die Antwort, die ihn für die Zeit seines Lebens zum Hörenden, zum Lernenden und zum Sprechenden machte. Diese Antwort verband ihn so stark mit dem Ewigen, dass er fähig war, zu erkennen לָדַעַת lada’at, wie mit einem Müden zu reden ist, welche Botschaft er jetzt an Gottes Stelle aussprechen wird, denn sein Mund, seine Zunge sind Mund und Zunge des Höchsten. Erkenntnis ist nur durch die enge Beziehung mit seinem Gott möglich.

Doch ein solcher Auftrag ist nicht einfach. Immerhin ist der Nawi der einzige, der noch auf seinen Schöpfer hört und IHM als Sein Mund dient. Da kommt Gegenwind auf. Niemand ist da, der Mahnung oder Trost hören will. Gott hatte es versucht. Nun ist Jeschajahu als menschliches Gegenüber mit dieser Aufgabe betraut. Es wird ihm übel mitgespielt. Er wird geschlagen, angespuckt und beschimpft. „Wichtigtuer! Lass uns in Ruhe! Du willst uns sagen, was wir tun sollen?! Du bist keiner von uns! Verzieh dich, sonst setzt’s was!“

Doch Jeschajahu weicht nicht zurück. Er hat einmal seine Berufung gehört und bleibt ihr treu. Dafür ist er bereit, Schimpf und Schande zu ertragen.

Ich אָנֹכִי aber, ich habe nicht widerstrebtאָנֹכִי anochi = ich, sagt der Prophet. Es ist die Form des Ich, die Gott für sich selbst gebraucht. Wenn Jeschajahu es an dieser Stelle von sich sagt, so meint er das innere Ich, Gottes Wesenhaftigkeit in sich. Er weiß sich derart intim mit seinem Gott und Berufenden verbunden, weiß, dass Gott in ihm Wohnung genommen hat, wie es in Exodus heißt:
Ex. 25,8 Ein Heiligtum sollen sie mir machen, daß ich einwohne in ihrer Mitte ihnen בְּתוֹכָם betocham.

Nur so ist es Jeschajahu möglich, die Beschimpfungen und Handgreiflichkeiten zu ertragen, weil er weiß, dass es EINEN gibt, der ihn nicht enttäuscht, und das ist sein Vater im Himmel, der ewige und treue Gott. ER hilft ihm, ER spricht ihn gerecht und stärkt ihn. Diese Hilfe heißt nicht, dass Gott ihn aus der bedrohlichen Situation herausnimmt. Gott gibt ihm vielmehr die Kraft, aufzutreten und für Gott zu ringen und zu streiten. Gottes Rechtsprechung ermutigt ihn, für die gerechte Sache einzutreten, koste es, was es wolle.

Auch heute noch beten und danken wir im Schmone-Esre, dem 18-Bitten-Gebet (Amida), dass Gott für uns streitet und uns gerecht spricht im Gericht.

Schaue auf unser Elend, führe unseren Streit und erlöse uns rasch um deines Namens willen, denn du bist ein starker Erlöser. Gelobt seist du, Ewiger, der du Israel erlösest!
Regiere über uns du, Ewiger, allein in Gnade und Erbarmen und rechtfertige uns im Gericht. Gelobt seist du, Ewiger, König, der du Gerechtigkeit und Recht liebst!

In dieser Gewissheit finden wir Jeschajahu, der allein inmitten des Volkes Gottes stand und ihre Herzen nicht mit Gottes Botschaft erreichen konnte. In dieser Tradition finden wir Jehoschua aus Nazareth, der das Volk Gottes mit der ewig gültigen Botschaft des Vaters trösten und ermutigen, aber auch vor falschen Schritten unter der Römischen Besatzung warnen wollte. Doch auch hier war die Verzweiflung größer als das Vertrauen in den gütigen Gott.

Jeschajahus Tod war grausam und sein Ende lässt sich gut mit dem Jehoschuas vergleichen. Dem Nawi wurde, laut jüdischer und christlicher Tradition, Blasphemie vorgeworfen. Das führte zum Tod durch Zersägen.[1]

Jeschajahu und Jehoschua kannten ihre Feinde, sie kannten die Beschuldigungen, die gegen sie erhoben wurden, aber sie kannten ihren treuen Gott, der ihnen beistand, ihnen die Kraft gab, Gottes Namen durch das Martyrium zu verherrlichen.

Gott braucht und will solches Leiden nicht. Doch Seine Kinder, Seine Getreuen und IHM Vertrauenden drücken mit einem solchen Weg aus, dass Gott ihnen mehr wert ist als ihr kleines Leben und das zeitlich begrenzte Leiden. Sie haben Gottes Wort verinnerlicht, sind von Gottes Geist erfüllt, so dass sie dieses Leben gerne eintauschen gegen das Leben in der Herrlichkeit Gottes. Dabei wissen sie, dass die Feinde Gottes kein Bleiberecht auf Erden haben. Sie werden zerfallen wie ein mürbes Gewand und von Motten zerfressen werden.

Gott bestärkt Jeschajahu und alle Leidenden darin:
Jes. 51,8 Denn gewandgleich frißt sie die Motte, wollzeuggleich frißt sie die Schabe, aber meine Bewährung, für die Weltzeit ist sie da, aber meine Befreiung bis ins Endgeschlecht der Geschlechter.


[1] https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/martyrium-jesajas-at/ch/d8f05a29a2abd2525816427c32051a5c/#h2

One thought on “Lesung Jes. 50,4-9 Das Ohr eines Lernenden

  1. Hören mit und ohne Hörgeräte? So banal muss ich schreiben. Denn mein Hören ist bereits schwach. Geräte helfen. Aber das Hineinhören ist auch ein Hineinfühlen. Das ist in Deinem Text bereits im Eingang so treffend eingefangen. Mut zusprechen. Das kann auch in einem Lächeln zum Ausdruck kommen. Sehr einfühlsam formuliert.

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