Allee der Gerechten in Yad Vaschem

Sprüche 24,10-12

Hast du dich schlaff bezeigt am Tag der Bedrängnis, notdürftig wird deine Kraft. Zu retten die zum Tode Geholten, die zur Würgung Wankenden, enthältst du dich vor, da du sprichst: »Wir haben ja davon nicht gewußt!« – ists denn nicht so: der die Herzen wägt, der merkt, der deine Seele bewacht, der weiß, und er erstattet dem Menschen nach seinem Werk?!

Buber-Rosenzweig: Verdeutschung der Schrift

Der 9. November hat einen herausgehobenen Platz in der Geschichte, doch bleibt das schmerzhafteste Ereignis der jüngeren deutschen Geschichte in Erinnerung, und es darf keinesfalls vergessen werden!  Auch wenn daneben der 9. November 1989 steht, so ist der ein Zeichen der Gnade Gottes, aber niemals selbstverständlich und nicht losgelöst vom Tag der Reichspogromnacht und dem ihr folgenden Horror.

Der Predigttext der Ev. Kirche wurde aus dem Buch der Sprüche König Salomos ausgewählt, aus dem sogenannten Alten Testament, das zusammen mit den Synagogen, Tora-Rollen und Talmudschriften verbrennen sollte! Verhasst waren diese Schriften ja schon lange in der Christenheit.

Ausgerechnet hier finden wir die Sätze:
Zu retten die zum Tode Geholten, die zur Würgung Wankenden, enthältst du dich vor,
die in meiner Jugend und vorher die junge Generation oft der Tätergeneration in etwas anderen Worten vorhielt:
„Warum habt ihr euch nicht gewehrt, als es hieß ‚Kauft nicht beim Juden?‘
Warum habt ihr keinen Widerstand gezeigt, als die Synagogen und jüdischen Geschäfte brannten?
Warum habt ihr geschwiegen, als eure Nachbarn, Arbeitskollegen und Klassenkameraden verschwanden?
Wo war euer Aufschrei, als man euren Hausarzt, euren Freund, euren Schuster oder Hutverkäufer demütigend durch die Straßen führte und in Viehwaggons quetschte?
Warum habt ihr den Propagandalügen geglaubt, dass die Juden Ungeziefer seien, obwohl die Frau des jüdischen Metzgers genauso aussah wie eure Mütter oder eure Großmütter?“

Auf all diese berechtigten Fragen gab es nur eine Antwort:
Wir haben davon nicht gewusst. Es gab doch noch kein Fernsehen, woher sollten wir es wissen?“

Aber ist es nicht so: „ … der die Herzen wägt, der merkt?“ Wird Gott nicht jeden zur Rechenschaft ziehen, der sich rauszureden versucht? und er erstattet dem Menschen nach seinem Werk?!

Es ist richtig, dass es kein Fernsehen gab, aber es gab die Wochenschauen im Kino, es gab Zeitung und Rundfunk, und es gab Plakate. Selbst während des Krieges war man Über den Kriegsverlauf bestens informiert. Hitlers und Goebbels‘ Propagandareden wurden übertragen, und in ihnen machten diese Männer keinen Hehl aus ihrem Judenhass und ihren Plänen zur „Endlösung der Judenfrage“.

Außerdem wurden Juden nicht heimlich aus ihren Wohnungen geholt, sondern am helllichten Tag! Sie wurden durch die Straßen getrieben und öffentlich verladen. Sie wurden geächtet, und schon durch das Kontaktverbot mit Juden – das doch jeder einhielt, also davon wusste -, war das Unrecht, das hier geschah, überall bekannt.
Wer wissen wollte, konnte wissen! Wer seine Augen nicht verschloss, konnte sehen!

Wer andererseits fest war in Gott und Seinem Wort, konnte die Lügen durchschauen, die über Juden verbreitet wurden. So gab es doch hier und da eine Hand, die den Zusammengetriebenen ein Stück Brot oder einen Schluck Wasser reichte. So war es möglich, dass ein Judenbaby Aufnahme fand bei christlichen Eltern, die sich bewusst machten, dass ihr Heiland ebenfalls Jude war, der leibliche Bruder der hier dem Tod Preisgegebenen. Es ist tröstlich, in Yad Vaschem im „Wald der Gerechten“ die wahren und aufrichtigen Helfer in der Not zu sehen, die ihr eigenes Leben riskierten, um einem Menschheitsverbrechen die Stirn zu bieten.

Doch es waren zu wenige, um das Verbrechen zu stoppen. Und Gott weiß, wer Seinem Augapfel zur Hilfe kam. ER weiß um die Seelen und erstattet den Menschen nach ihrem guten oder bösen Tun, denn hier war das aktive Tun des Guten wichtig, nicht ein tatenloser Glaube.

Mehr Verständnis bringe ich für solche Menschen auf, die klipp und klar ihre Angst eingestehen. „Wir hatten nackte Angst. Wir hatten Angst um unser Leben, um unsere Familie.“
Wie hätte ich mich in einer Diktatur verhalten, die mich foltert oder tötet, wenn ich ihr nicht zu Willen bin? Oder schlimmer noch, wenn sie mein Kind bedroht hätte? Ich weiß es nicht, und darum kann und will ich nicht richten, aber ich wünsche mir mehr Ehrlichkeit und weniger Märchen, weniger Ausreden. Schuld anerkennen und bekennen befreit.

In der Bibel gibt es viele Menschen, die Angst haben, existentielle Angst, sei es Gideon, der Richter, der unvorbereitet gegen mächtige Feinde kämpfen soll, oder Königin Ester, deren ganzes Volk wie in der Schoa vor der Auslöschung steht. Was kann sie als einzelne schon tun? Sie fastet, wendet sich an Gott und geht zum König. Der König kann das Dekret nicht aufheben, aber den Juden das Recht zur Verteidigung gewähren.

Angst hat ihre Berechtigung, und nicht jeder ist eine Königin Ester, aber Gott darf nicht vergessen werden. Die Nachlässigkeit im Glauben schafft ein Vakuum, in das das Böse hineinkommt. Unsere Kraft ist gering und wir sind mutlos, wenn wir uns nicht gefestigt haben in dem allmächtigen Gott der Heerscharen. Darum ist es wichtig, diese Glaubenslosigkeit einzugestehen und die Erstarrung, die damit einherging und die Unfähigkeit zur Hilfe nach sich zog.

In heutiger Zeit sind die Verantwortlichen alt oder nicht mehr am Leben. Leider fehlt denen, die noch zur Anklage gebracht werden, jedes Unrechtsbewusstsein. Sie können keine Buße tun und Reue zeigen, die den Opfern so gut tun würde. Wir können oft keine Angehörigen mehr über die Zeit und ihr persönliches Handeln und Denken befragen.
Darum ist es wichtig, dass die Nachgeborenen den Nachkommen der Opfer mit dem nötigen Respekt und der lange vorenthaltenen Achtung begegnen, denn auch sie leiden unter den Folgen der Schoa. Ihnen fehlen die Angehörigen, die vergast wurden: Oma, Opa, Onkel, Tante. Wie klein fielen ihre Familienfeiern wie Bar Mizwa oder Hochzeit aus, weil Hitler ihre Familien dezimiert hatte. Ihnen fehlen ihre jüdischen Brüder und Schwestern, deren Wissen und Erfahrung, die Glaubensfamilie in der Synagoge.
Sie leiden unter dem 2000jährigen Antisemitismus, der Zwangstaufe oder Tod zur Auswahl stellte, der sie abstempelte zu Brunnenvergiftern, Kinder- und Jesusmördern, der ihnen alle Kenntnisse und alles Wissen absprach. Zum Schluss half nicht mal mehr das Taufwasser, nachdem Juden deutsche Städte mit Kultur-, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen beschenkt hatten. Eine solche Zeit der „Vergegnung„, wie Buber sagte, lässt sich nicht in 76 Jahren heilen. Das Vertrauen muss wachsen und sich bewähren.

Heute sollten Christen sich bewusst machen, wo sie ohne das Judentum wären, welchen Reichtum es bedeutet, mit Juden die Bibel lesen zu können. Zu diesen Lehrern rechne ich nicht nur meinen Mann Yuval Lapide, der engagiert die Arbeit seiner Eltern fortsetzt, sondern gleichfalls seine Lehrer und solche, die das Neue Testament 2021 mit ihren Erklärungen bereichern.
Im Innersten und vom Ursprung her sind Christen Juden, denn die Lehre Jesu ist eine jüdische. Wenn das ins Bewusstsein der Kirchen und ihrer Gläubigen dringt, führt sich Antisemitismus ad absurdum.

Psalm 74

1 Eine Eingebungsweise Assafs. Warum, Gott, verabscheust du in die Dauer, raucht dein Zorn wider die Schafe deiner Weide? 2 Gedenke deiner Gemeinde, die du ureinst erwarbst, erkauftest als Stab deines Eigens! dieses Zionsbergs, darauf du einwohntest! 3 Hebe deine Tritte zu den Verheerungen, die dauern: alles mißhandelt hat der Feind im Geheiligten!
8 Sie sprachen in ihrem Herzen: »Ihre Brut mitsammen!« Sie verbrannten alle Begegnungsstätten der Gottheit im Land. 9 Zeichen uns sehen wir nicht, es gibt keinen Künder mehr, nicht ist einer mit uns, der kennte, bis wann. 10 Bis wann, Gott, darf der Bedränger höhnen? Darf der Feind deinen Namen schmähen in die Dauer? 11 Warum ziehst du zurück deine Hand? Deine Rechte, hervor aus deinem Busen! beend‘s!
20 Blicke auf den Bund! Denn gefüllt haben sich die finstern Plätze des Erdlands mit Triften der Unbill. 21 Nimmer möge sich abkehren müssen der Geduckte beschimpft! der Gebeugte, der Dürftige, sie sollen deinen Namen preisen! 22 Steh auf, Gott! streite deinen Streit! gedenke deiner Verhöhnung durch den Nichtigen all den Tag.

Buber-Rosenzweig, Verdeutschung der Schrift

Beim Beten dieses Psalms muss jeder nichtjüdische Beter wissen, dass diese Worte von Juden gebetet werden, besonders zu diesem Anlass, denn Gott hat sich das Volk der Juden zum Eigentumsvolk ausgesucht. Die Misshandlungen der Feinde hatten zur Zeit der Bibel ihre Ursache im Götzendienst. Wenn die Kinder Israel ihre Untreue bekannten, vergab Gott ihnen und erlöste sie aus der Hand ihrer Bedränger.
Sie dürfen beten, Gott möge des Bundes mit ihnen gedenken, denn der Bund mit Gott ist ein ewiger Bund.

Zwar findet sich auch in diesen Worten das Motiv vom Synagogenbrand, doch mit der Theodizeefrage: „Wo war Gott in Auschwitz?“ kommen wir nicht weiter. Aus Zeugnissen können wir sagen, dass Gott mit Seinem Volk litt und in die Gaskammer ging. Genauso geschahen in der Hölle Wunder der Rettung. Doch mein Schwiegervater Pinchas Lapide prägte den Begriff der „Anthropodizee“, was die Frage hervorruft: „Wo war der Mensch in Auschwitz?“, denn der Mensch baute die Gaskammern und ließ das Grauen zu.
Der Feind und die Bedränger in diesem Psalm sind Deutsche, Anhänger und Mitläufer der Nazi-Ideologie.

One thought on “Gedanken zum Novemberpogrom am 9./10. November 1938

  1. Du schreibst es nicht emotionslos aber emtionsgerecht, weniger vorwürfig als aufwürfig, weniger beschimpfend als aufimpfend. Du sprichts Mut zu und Wagen, Tun und Beten. Da sind wir auf dem richtigen Weg. Toda Raba.

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