Die Welt der Bibel

Die Welt, in die ich mit meinen Auslegungen einsteigen möchte, ist die Welt des 1. Jahrhunderts nach der Zeitenwende und davor. Diese Welt unterscheidet sich grundlegend von unseren heutigen Erfahrungen, was eine Herausforderung an uns als Leser der Bibel stellt. Wir wagen nicht nur einen Zeitsprung, wir wagen auch einen Mentalitätssprung heraus aus unserem abendländischen Verständnis hinein in den Orient. Und wir wagen einen Kultursprung heraus aus dem überwiegend monotheistischen Umfeld von Christentum und Islam, hinein in ein Heidentum der Römer im Neuen Testament und der alten heidnischen Völker der hebräischen Bibel vorher, in der es als Eingottglauben nur das Judentum gab.

Die Welt der hebräischen Bibel

Wir gehen also in der hebräischen Bibel (wie ich das Alte Testament nenne, da es seine Gültigkeit nicht verloren hat) zurück in die Welt eines Volkes, dass sich von Nomaden zu sesshaften Menschen entwickelte, das in einem stark agrarischen Umfeld lebte als Hirten und Schafzüchter besonders in der Tora, den fünf Büchern Mose. Es entwickelte aus der Offenbarung am Berg Sinai seinen Glauben und seine Tradition, die über einen langen Zeitraum mündlich tradiert wurde. Auf eine genaue Weitergabe aber legte es größten Wert, denn es gehört zu den Weisungen Gottes, Zeugnis abzulegen für jede Generation. So heißt es einmal in Ex. 13,14: Wenn dich dann künftig dein Sohn fragt: «Was hat das zu bedeuten?» so sollst du ihm antworten: «Mit starker Hand hat uns der Ewige aus Ägypten, aus dem Sklavenhause, herausgeführt.»
Und noch einmal steht in Dtn. 6,20: WENN dich dann künftig dein Sohn fragt: «Was sollen denn die Verordnungen, die Satzungen und Rechte, die euch der Ewige, unser Gott, geboten hat?»  21 so sollst du deinem Sohn sagen: Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der Ewige führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand, …

Die Tora vom Sinai wurde aufgrund ihrer mündlichen Tradition auch „Miqra“ genannt, das Gerufene oder Gesprochene, sie wurde jedoch schon recht bald schriftlich überliefert, denn sie wurde das „portabel Vaterland“ der Juden, wie Heinrich Heine es sehr viel später nannte. Die Tora erhielt auch die exilierten Juden in Babylon fest bei ihrem Gott und ermöglichte ihnen, einen Gottesdienst ohne ihren Tempel aufrecht zu halten, von dem nach der Rückkehr unter Esra und Nehemia in den gleichnamigen Büchern zu lesen ist.

Die Sprache der Bibel

Die Sprache der Juden und ihrer heiligen Schriften war Hebräisch, eine Sprache, die ein anderes Denken beinhaltet als das uns bekannte aus den romanischen und indogermanischen Sprachen. Das Hebräische ist eine sehr komprimierte Sprache, die durch das Fehlen von Vokalen in der Tora viele Deutungen ermöglicht, weshalb im gebildeten pharisäischen Judentum, das sich mit dem Verständnis und der Deutung der Tora befasste, der Ausdruck „70 Gesichter der Tora“ entstand. Gott spricht auf einer unverrückbaren Grundlage, und trotzdem in vielfacher Weise.
Besonderen Einfluss auf die Auslegung haben die hebräischen Buchstaben, die ihre eigene Spiritualität und Bedeutung haben sowie einen eigenen Zahlenwert. Die Deutung mithilfe der Zahlenwerte heißt „Gematria“ (= Vermessen der Welt, Geometrie) und findet ihren Niederschlag sowohl im rabbinischen Diskurs als auch in der Mystik und der Kabbala.

Jüdische Auslegungsvielfalt

Aufgrund dieses Reichtums entstand eine Auslegungsform, die sich am Bild eines wunderschönen und vielfältigen Gartens orientiert. Ihr Name erinnert an das Paradies: PaRDeS.
Die erste Auslegungsstufe ist der Pschat, der sich auf die wörtliche Aussage bezieht, Remes sieht in einem Bibeltext schon weiterführende Anspielungen und Allegorien, Drasch ist die Stufe der Auslegung. Hierher leitet sich das Wort: Drascha ab, das man am Schabbat in der Synagoge oder bei gemeinsamen Torastudien zum Besten gibt, also eine Predigt. Der Midrasch leitet sich von diesem Wort ab; er ist eine literarische Gattung der jüdischen Erzählungen zur Bibel. Die letzte und tiefste Stufe der Auslegung ist die des Sod, des Geheimnisses und der Mystik. Dieses Wort Sod סוד hat den Zahlenwert 70, der somit wieder eine Brücke schlägt zu den 70 Gesichtern der Tora.

Ein beeindruckendes Beispiel für die Vielfalt der jüdischen Auslegung ist für mich das Wort חרות – ch-r-u-t. Es kann gelesen werden als charut = eingemeißelt oder als cherut = Freiheit. Was macht die rabbinische Auslegung aus diesem offenkundigen Widerspruch?
„Das eingemeißelte Wort Gottes führt uns zur Freiheit.“

Die Welt des Neuen Testaments ist nicht neu

Diese jüdische Welt ist die Welt Jesu und des Neuen Testaments und sie ist uns genauso fremd wie die Zeit und Umwelt des Tanach (Akronym aus T – Tora, N – Newiim = Propheten, Ch – Chetubim = Schriften). Dieser Tanach war die Schrift Jesu, die er liebte und lehrte. Er war seinem Namensverwandten Jesaja (Jeschajahu und Jehoschua = ER, Gott, wird retten) tief verbunden und er liebte die Psalmen seines Vorfahren David.
Er lebte als beschnittener Jude, seine Eltern befolgten die Vorschriften der Tora bezüglich der Geburt eines erstgeborenen Sohnes und der Vorschriften für die Frau nach der Entbindung. Auf nichts anderes verwies er seine Nachfolger und Geheilten als auf die Reinheitsgebote der Tora und den Dank an Gott, den Vater. Im Sterben zitierte er den 22. Psalm: «Eli, Eli, lama sabachthani?» (Mt.27,46) „Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“ Sein Ausruf „Es ist vollbracht“ (Joh.19,30) ist gemäß Pinchas Lapide das Ende des 22. Psalms, den Jesus demnach vollständig am Kreuz betete, nach synagogaler Tradition so, dass meistens Anfang und Ende laut, der Mittelteil leise gesprochen wird.
Im Alltag wurde Aramäisch gesprochen, was an Jesu Ausruf am Kreuz erkennbar wird, aber die „heilige“ Sprache, die Sprache des Gottesdienstes und der Lesung heiliger Texte blieb das Hebräische. Das muss beim Lesen des Neuen Testaments im Bewusstsein bleiben, denn was auch immer Eingang in die griechische Überlieferung der Evangelien und neutestamentlichen Schriften fand, es ist geprägt durch das hebräische Denken. Einige Wissenschaftler gehen sogar davon aus, dass es Urschriften der Evangelien auf Hebräisch gab.
Paulus als Diasporajude, der also außerhalb des jüdischen Gebietes lebte, sprach und schrieb selbstverständlich auf Griechisch, da er aber bei einem wichtigen, auch im Talmud bekannten Rabbi lernte, Rabbi Gamaliel der Ältere, sind auch seine Schriften vom hebräisch-jüdischen Denken bestimmt.

Jüdisch-religiöse Gruppen zur Zeit Jesu

Die Pharisäer (von perusch פְּרוּש = auslegen), welche nach Schalom Ben Chorin aus sieben Untergruppen bestanden und unterschiedliche Schulen bildeten, waren die Vorläufer des heutigen rabbinischen Judentums, denn nur sie überlebten mit ihrer Liebe zur Tora das Römische Reich und die Exilierung für fast 2000 Jahre. Sie waren eine gelehrte Gruppe inmitten des Volkes und gaben ihren weisen Lehrern den Titel Rabbi (mein Lehrer; von raw = viel; jemand, der viel weiß)
Die Sadduzäer gingen mit dem Tempel unter, die Zeloten und Sikarier (= Dolchmänner, zu denen wahrscheinlich Judas Iskariot gehörte) als politisch orientierte Gruppen mit dem Ende jüdischen Lebens auf verheißenem Boden. Nachweislich gehörten Jesus wie auch Paulus den Pharisäern an. Jesu Lehre wird z.B. von Pinchas Lapide mit der Schule Rabbi Hillels in Verbindung gebracht, wobei er durchaus die Schärfe eines Rabbi Schammai vertreten konnte.
Bei den Essenern handelte es sich immer nur um eine kleine, zurückgezogene Gruppe am Toten Meer. Ihnen verdanken wir die Schriftrollen von Qumran. Es hat den Anschein, dass Paulus und Jesus mit ihrer Mystik vertraut waren, Johannes der Täufer soll zeitweise bei ihnen gelebt haben. Die Dialektik ihrer Lehre findet sich in Teilen im Johannesevangelium.

Die Zeit des Zweiten Tempels ist die Zeit der Mischna

Jesus lebte in einer Zeit der Bedrängnis, weil das jüdische Volk brutal von der römischen Besatzungsmacht unterdrückt wurde, was in den Aufzeichnungen eines Josephus Flavius eindrücklich nachzulesen ist und in den Evangelien einen vergleichsweise leichten Niederschlag findet, z.B. in der Erwähnung der drückenden Steuerlast und der Brutalität des Herodes. Der suchte die Gunst des römischen Kaisers, war jedoch aufgrund seiner eigenen Machtgier ein brutaler Herrscher, selbst wenn der Kindermord nicht historisch belegbar ist.
In dieser Zeit nach den Erfahrungen des babylonischen Exils und der seleukidischen Herrschaft, welche der römischen voraus ging, beseelte die Pharisäer ein Wunsch, nämlich die Niederschrift der mündlichen Tora, all der lang tradierten Erklärungen zur Tora, die den Fortbestand der gelebten Tradition für die kommenden Generationen sichern sollte. Seit dem 2. Jh. v.d.Z. schrieben sie nieder, wie die Weisungen der Tora im Alltag umgesetzt werden sollten, und zwar mit allen Diskussionsbeiträgen ihrer geschätzten Kollegen. Diesen ersten Teil des späteren Talmud nennt man Mischna = das Wiederholende. Diese Diskussionen sind u.a. ein Teil des Neuen Testaments, wenn Jesus mit seinen Phariäerkollegen diskutiert. Er trägt ebenfalls den Ehrentitel Rabbi, was auf die hohe Achtung schließen lässt, die ihm seine Kollegen entgegenbrachten.

Fazit

In allen noch so konträren und heftigen Auseinandersetzungen, die von Jesus und „den“ Pharisäern im NT berichtet werden, muss immer bedacht werden, dass bei aller Kontroverse die Diskutierenden verbunden sind von der Liebe zur Tora und vom Ringen um das richtige Verständnis. In der Sache ging es hart her, aber im Persönlichen diente man dem EINEN Gott, um dessen Ehre es ging.
Diese Überlegungen, die ich aus Quellen meiner Lehrer Pinchas Lapide, Schalom Ben Chorin, David Flusser zusammengetragen habe, bilden auch die Grundlage der Bibelseminare meines Mannes, Dr. Yuval Lapide. Unter Berücksichtigung dieser Fakten wird es hoffentlich leichter, den aus den jüdischen Quellen schöpfenden Auslegungen zu folgen.

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