Predigttext vorgeschlagen für So. d. 14.09.2025
Mk. 3,1 Und er ging wiederum in die Synagoge. Und es war dort ein Mensch, der hatte eine verdorrte Hand. 2 Und sie lauerten ihm auf, ob er ihn am Schabbat heilen würde, damit sie ihn verklagen könnten. 3 Und er spricht zu dem Menschen, der die verdorrte Hand hatte: Steh auf und tritt in die Mitte! 4 Und er spricht zu ihnen: Darf man am Schabbat Gutes tun oder Böses tun, das Leben retten oder töten? Sie aber schwiegen. 5 Und indem er sie ringsumher mit Zorn ansah, betrübt wegen der Verstocktheit ihres Herzens, sprach er zu dem Menschen: Strecke deine Hand aus! Und er streckte sie aus, und seine Hand wurde wieder gesund wie die andere. 6 Da gingen die Pharisäer hinaus und hielten sogleich mit den Herodianern Rat gegen ihn, wie sie ihn umbringen könnten.
Wir haben es hier mit einem schwierigeren Text zu tun, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Dem hinterfragenden, kritischen Leser fällt auf, dass wir es mit vielen Verallgemeinerungen zu tun haben, mit unhaltbaren historischen Behauptungen und einer ebenso unhaltbaren Darstellung des Schabbatgottesdienstes.
Hier möchte ich im Sinne meines Schwiegervaters Pinchas Lapide und mit Unterstützung meines Mannes Yuval versuchen, diese Schwierigkeiten aufzuzeigen und zu einem kritischen Lesen anzuregen. Dabei werde ich ein durchaus positives Beispiel zur eigenen Lektüre nennen.
Dass Jehoschua am Schabbat in der Synagoge zu finden ist, darf als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Er ist ein gläubiger Jude und sucht darum die Nähe zu Gott, seinem Vater und dem Vater aller seiner Mitbrüder und Mitschwestern.
Dann aber werden im Text weder Protagonisten noch Antagonisten vorgestellt, was von jedem guten Schreiber erwartet wird, denn der Leser soll sich im Geschehen zurechtfinden. Ansonsten würde ein Lehrer von der Note 6 sprechen. Wir müssen uns fragen: Wer ist der Mensch? Wem wird aufgelauert? Wer lauert auf und will verklagen? Auf welcher Grundlage soll Anklage erhoben werden? Das sind die W-Fragen, die am Beginn eines Textes beantwortet werden müssen.
Wer ist also der Mensch mit der verdorrten Hand und wie lange leidet er? Er hat keine Identität, weder Mann noch Frau. Er wird auch nicht als Tochter oder Sohn Abrahams vorgestellt, wie in Lukas 13,16 die von ihrer Krummheit geheilte Frau bezeichnet wird. Dabei gab es damals in den Synagogen nur Juden. Warum verschweigt der Autor das resp. der Endredaktor? Wir müssen davon ausgehen, dass dieser Endredaktor, nicht einmal Markus selbst, den Text in antijudaistischer Weise „judenrein“ haben wollte, Jehoschua in die Gesamtheit der Menschheit stellen wollte und damit beide, Jehoschua und den Kranken, ihrer Identität beraubt.
Wir leben auch heute in einer Zeit, in der Menschen ihrer Identität beraubt oder wegen ihrer Identität getötet werden. Und wir müssen uns fragen, wo wir hingekommen sind, wo Menschen fremder Ethnien sich ihrer Herkunft schämen müssen, wo Juden und Israelis sich verbergen müssen, wo Frauen und Männer nicht mehr das sein dürfen, wozu Gott sie geschaffen hat. Menschen brauchen Identität: deutsche Bürger sind Deutsche, wer in Dortmund geboren ist, ist Westfale. Sprache, Mentalität, Vorlieben prägen einen solchen Menschen. Das gilt damals wie heute! Dabei kann ein Mensch einen Migrationshintergrund haben, aber nach seiner Einbürgerung ist er Teil dieses Staates.
Wem wird aufgelauert? Der handelnde Protagonist wird nur „er“ genannt. Wer ist „er“? Wir erkennen, dass Jehoschua nicht einmal durch die Nennung seines Namens Ehre und Identität gegeben wird, was jedem Menschen gebührt. Es wird wieder in antijudaistischem Stil vorgetäuscht, dass „er“ durch die anwesenden Gottesdienstbesucher verachtet worden wäre. Dabei sprechen andere Evangelien und Perikopen davon, wie Rabbi Jehoschuas Worte den Punkt trafen, den Geheilten zum Lobpreis Gottes führten und einzelne, die Jehoschua kritisierten, letztlich durch ihre eigenen Wort der Heuchelei überführt wurden, wie das Beispiel in Luk. 13,11ff belegt.
Wer lauert auf? „Sie“ scheinen viele zu sein, aber es bleibt unklar, um wen es sich handelt. Es bleibt unklar, welche Expertise diese „sie“ haben, um aufzulauern und zu verklagen. Zudem wird ein wiederum antijudaistisches Bild vom Synagogengottesdienst gezeichnet, das dessen Besucher mit Gedanken des Hasses darstellt, als den finsteren Juden, der keine andere Motivation für den Gottesdienst mitbringt, als Böswilligkeit und Intrige seinem Nächsten gegenüber.
Dabei ist der Schabbat in erster Linie ein Tag für Gott, den der Schöpfer selbst geheiligt hat, um IHM an diesem Tag mit Dank und Lobpreis zu begegnen, um diesen besonderen Tag gemeinsam mit seinen Brüdern und Schwestern zu feiern.
Wer dagegen mit Gedanken der Lieblosigkeit die Synagoge betritt, entweiht mit solchen Gedanken den Schabbat und verstößt gegen Gottes Gebot der Nächstenliebe. Diese Menschen disqualifizieren sich, in das Haus Gottes zu kommen.
Auf welcher Grundlage wollen „sie“ Anklage erheben? Wir befinden uns etwa in den 30er Jahren der Zeitrechnung, als Jehoschua lehrt. Zu dieser Zeit gab es noch kein normatives Judentum, keine Festschreibung jüdischer Vorschriften. Erst durch Jehuda ha-Nasi[1] wurde die Mischna, der erste Teil des Talmud, abgeschlossen, sodass ab dem 2./3. Jh. von einem festgelegten „Gesetzeskodex“ gesprochen werden kann. Diese Verschriftlichung wurde nach der Zerstörung des 2. Tempels und der Vertreibung der Juden notwendig, um die Identität und mündliche Tradition fortführen zu können.
Zur Zeit Jehoschuas waren Fragen wie: Darf man am Schabbat Gutes tun oder Böses tun, das Leben retten oder töten? von Bedeutung. Sie wurden auf Grundlage der Tora diskutiert, aber es gab keine Einigung, keine Festlegung als Grundlage einer Rechtsprechung. Auf Grundlage der Tora überführt Jehoschua den Synagogenvorsteher in Luk. 13,15: Du Heuchler, löst nicht jeder von euch am Schabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe und führt ihn zur Tränke?
Hier findet keine Diskussion statt, sondern es folgt Schweigen! In der Mischna bis heute ist Konsens, dass Leben und Gesundheit den Schabbat verdrängen. Jeder darf heute ein Auto oder Telefon bedienen, wenn es darum geht, Leben zu retten oder Schmerzen zu lindern, Leid zu beenden.
Plötzlich, am Ende unseres Predigttextes, kommen Pharisäer ins Spiel. Warum Pharisäer? Weil sie die am meisten antijudaistisch verstandenen Juden im Neuen Testament sind und als die Feinde Jehoschuas am besten gehasst sind. Dabei sind alle Synagogenbesucher, einschließlich Jehoschua!, Pharisäer! Niemand sonst interessiert sich für die tiefe Botschaft der Tora. Nur Pharisäer machen sich die Mühe, die Schrift zu befragen und auszulegen. Sie sind die Gelehrten ihrer Zeit und Vorgänger des heutigen rabbinischen Judentums. Auf Hebräisch heißen sie Peruschim פירושים = die Ausleger vom Verb לְפָרֵשׁ lifrosch = auslegen, erforschen.
Dass Jehoschua selber Pharisäer war, lässt sich mit dem Ehrentitel „Rabbi“ belegen. רַב raw heißt viel. Mit Rabbi ist jemand gemeint, der viel Wissen hat. Rabbi רבי ist darum mein Lehrer.
Nach Schalom Ben Chorin gab es sieben verschiedene Pharisäerschulen, die unterschiedlicher Meinung waren und auf unterschiedlichem Niveau zu Gewalt bereit. So gab es heftige Diskussionen, die Teil von Lehrgesprächen waren, nicht aber vom Gottesdienst.
Diese Pharisäer stehen auf und verlassen den Gottesdienst! Welche Respektlosigkeit! Ein solches Verhalten ist unmöglich und hat mit Sicherheit nicht stattgefunden. Der Schabbatgottesdienst ist so heilig, die Toralesung von großer und tiefer Bedeutung, da der EWIGE selbst durch sie spricht, dass niemand es wagt, diesen Vorgang durch Verlassen des Gottesdienstes abzubrechen. Jeder weiß, dass er vor dem höchsten König und Gott steht, und vor dem liebenden Vater, der die Gemeinschaft mit Seinen Kindern sucht.
Diese Pharisäer aber laufen direkt zu den Herodianern. Das passt überhaupt nicht, weil Herodianer zu den Sadduzäern gehören. Beide Gruppen sind sich spinnefeind, denn sie haben nichts gemeinsam, weder im Glauben noch in der politischen Erwartung. Die Sadduzäer kollaborieren mit der Obrigkeit, sie dienen im Tempel, aber verrichten ihren Dienst lediglich nach dem Buchstaben des Gesetzes, ohne Spiritualität. Sie wollen unter der Römerherrschaft ihr Schäfchen ins Trockene bringen.
Der Text ist so redigiert, dass er uns lediglich ein antijudaistisches Bild vom damaligen Judentum und seinen Gläubigen zeichnet. Nichts ist schlüssig oder historisch zu belegen. Im Gegenteil!
Da fällt die an sich gute Geschichte einer Heilung hinten runter. Diese Geschichte hat nicht einmal Platz für das Mitgefühl, das Jehoschua mit dem Kranken hat, nur für seinen Zorn. Zorn auf wen? Auf alle? Auf einzelne? Er scheint zornig zu sein auf all seine Mitjuden. Aber auch das passt nicht, denn sonst würde er nicht mit ihnen diskutieren, durchaus leidenschaftlich. Sonst bekäme er nicht den Ehrentitel Rabbi, der noch keine Berufsbezeichnung war.
Bei dieser Heilung tut Jehoschua nichts Ungewöhnliches. Er gibt dem Menschen Ansehen – was der Text ihm verwehrt, da nichts über ihn gesagt wird. Der Mensch darf in die Mitte treten, für jeden sichtbar, wovor er sich sicher lange geschämt hat. Er bekommt Wichtigkeit und Ansprache!
Seine talmudische Frage bleibt unbeantwortet und er ist betrübt. Warum schaut er dann voller Zorn? Warum schaut er nicht vielmehr traurig?
Nun spricht er wiederholt zu dem Menschen und fordert ihn auf, seine Hand auszustrecken. Das fordert von ihm Glauben an die Wunder, die Gott durch Seine Gesandten tut. Glaube ist Emuna אֱמוּנָה, ein sich-Festmachen an Gott.
Diesen Funken Glauben bringt der Mensch auf, und seine ehemals verdorrte Hand wird gesund wie die andere. Gesundheit בְּרִיאוּת bri’ut verweist uns im Hebräischen auf die Schöpfung בְּרִיאָה bri’a. Die Hand wurde neu geschaffen, was ein Werk des Schöpfers ist. Nicht Jehoschua heilt, sondern der EWIGE selbst, der von sich sagt:
Ex. 15,26 … denn ich bin der EWIGE, dein Arzt rofecha רופאך.
Die Zeit der Krankheit war mit Sicherheit ein Hinweis für den Menschen, dass er zu sehr mit alltäglichen Dingen befasst war, denn krank heißt חוֹלֶה cholé, was wiederum von חוֹל chol = Wochentage bzw Sand kommt. Sand läuft durch unsere Finger, wir können ihn nicht halten, wie in einer verdorrten Hand. Sand ist instabil und unzuverlässig, Profanes hat keinen dauerhaften Wert. Verlass dich lieber auf Gott, der dich jeden Augenblick deines Lebens begleitet.
Was hat Jehoschua getan? Nichts. Er hat mit dem Menschen gesprochen, weiter nichts. Sollte man ihn dafür anklagen können??? Gott hat geheilt, sodass der Mensch wieder mit erhobenen Händen vor Gott anbeten kann.
Ps. 134,2 Erhebt eure Hände in Heiligkeit und lobt den EWIGEN!
Aber auch für den Allmächtigen, Gnädigen ist kein Raum für Dank, kein Staunen, wie wir es in Luk. 13 lesen. Nicht einmal der Mensch als Geheilter zeigt sich dankbar!
Rahmen und Handlung lassen die Geschichte in einem unappetitlichen Licht zurück.
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Jehuda_ha-Nasi
https://de.wikipedia.org/wiki/Mischna
Danke herzlich für den Text und die heilsame Auslegung.