Sei deines Bruders Hüter!
Predigttext vorgeschlagen für den 27. Jan. 2023
1 Der Mensch erkannte Chawa sein Weib, sie wurde schwanger, und sie gebar den Kajin. Da sprach sie: Kaniti – Erworben habe ich mit IHM einen Mann. 2 Sie fuhr fort zu gebären, seinen Bruder, den Habel. Habel wurde ein Schafhirt, Kajin wurde ein Diener des Ackers. 3 Nach Verlauf der Tage wars, Kajin brachte von der Frucht des Ackers IHM eine Spende, 4 und auch Habel brachte von den Erstlingen seiner Schafe, von ihrem Fett. ER achtete auf Habel und seine Spende, 5 auf Kajin und seine Spende achtete er nicht. Das entflammte Kajin sehr, und sein Antlitz fiel. 6 ER sprach zu Kajin: Warum entflammt es dich? Warum ist dein Antlitz gefallen? 7 Ist‘s nicht so: meinst du Gutes, trags hoch, meinst du nicht Gutes aber: vorm Einlaß Sünde, ein Lagerer, nach dir seine Begier – du aber walte ihm ob. 8 Kajin sprach zu Habel, seinem Bruder. Aber dann wars, als sie auf dem Felde waren: Kajin stand auf wider Habel seinen Bruder und tötete ihn. 9 ER sprach zu Kajin: Wo ist Habel dein Bruder? Er sprach: Ich weiß nicht. Bin ich meines Bruders Hüter? 10 ER aber sprach: Was hast du getan! die Stimme des Geblüts deines Bruders schreit zu mir aus dem Acker.
Gen. 4,1-10 Martin Buber/ Franz Rosenzweig: Die Schrift
Der erste Zivilisationsbruch in der Menschheitsgeschichte, der erste Brudermord gleich nach der Schöpfung und nach dem Ungehorsam Adams und Chawas. Noch bevor es Religionszugehörigkeit gibt, kommt es zum Neid unter dem ersten Brüderpaar. Kajin bewirtschaftete den Acker und Habel widmete sich der Viehzucht. Beide Berufe sind unverzichtbar in einer Gesellschaft.
Lobenswert ist es, dass beide Landwirte daran denken, Gott von ihrem Reichtum ein Dankopfer zu bringen. Nachdem Adam von Gott gehört hatte, wie beschwerlich die Feldarbeit außerhalb des Paradieses sein würde, war eine gute Ernte nicht selbstverständlich.
Doch Gott macht einen Unterschied zwischen beiden Gaben: ER nimmt Habels Opfer an und Kajins Opfer nicht. Da entflammt der Neid des einen auf den anderen! „Warum er und nicht ich?“ Kajin schaut verärgert zu Boden, ist in seinen Gedanken und seinem nutzlosen Grübeln gefangen und sieht den Bruder nicht mehr. Hat nicht Gott diesen Ärger zu verantworten? Warum schaut ER Kajins Opfer nicht an? Ist das nicht lieblos?
Was könnte Kajin tun? Wozu will Gott ihn mit Seiner liebevollen, aber ernsten und pädagogischen Warnung auffordern?
Gott möchte, dass er seinen Blick aufrichtet, sich öffnet, nach oben schaut und Gott fragt: „Warum bevorzugst du Habel?“ Die Antwort würde lauten: „ICH bevorzuge nicht ihn, sondern sein Opfer.“
„Was gefällt dir denn nicht an meinem Opfer?“
„Kajin, mal ganz ehrlich: Hast du dein Opfer wirklich mit Freude, mit Hingabe und Dankbarkeit zu MIR gebracht? Oder fühltest du dich nur verpflichtet und dachtest, MICH so günstig stimmen zu können? Wie sorgfältig hast du dein Opfer ausgesucht?“
Kajin würde nachdenken und Gott in allem Recht geben. Dann würde er vorschlagen: „Darf ich es noch einmal versuchen? Ich will dir mit dem Besten meiner Ernte aufrichtig danken und DICH für meine Nachlässigkeit und meinen unbegründeten Ärger um Vergebung bitten.“
Doch die Chance verspielte Kajin mit seiner unversöhnlichen Haltung. Mit seinem gesenkten Blick ist er gar nicht bereit nachzudenken. Er will nicht reden, nichts korrigieren. Der Bruder ist in seinen Augen schuld, er ist das Übel, und das Übel muss beseitigt werden.
Kommt uns die Geschichte bekannt vor? Juden lebten seit 321 u.Z. auf dem späteren deutschen Boden, Jahrhunderte vor der Christianisierung Europas und lange, bevor es die deutsche Sprache und Schrift oder ein deutsches Land überhaupt gab. Juden siedelten hier nach der Vertreibung durch die Römer aus ihrer angestammten Heimat und brachten ihre Tora, ihre Schrift und Gelehrsamkeit mit. In ihren Synagogen lasen und studierten sie das Wort Gottes und schrieben ihre Auslegungen dazu auf, während in Germanien geschriebene Schrift noch unbekannt war. Damit lebten und vertieften Juden ihre Beziehung zu dem ewigen Gott; bei IHM wussten sie sich beheimatet.
Mit ihrer Gelehrsamkeit waren sie auch beruflich erfolgreich, weshalb sie den Neid ihrer Mitmenschen auf sich zogen. Die Frage der Nichtjuden war nicht: Wie können wir von ihnen lernen und unsererseits erfolgreich werden? Ihre Haltung war: „Die Juden sind das Übel. Und das Übel muss weg.“ Sie mussten weg durch Vertreibung. Und als man den zusätzlichen Grund kreierte, sie seien Gottesmörder, mussten sie weg durch Zwangstaufe oder Ermordung!
„Warum bist du so wütend, und warum senkt sich dein Angesicht? Ist es nicht so: Wenn du Gutes tust, so darfst du dein Haupt erheben? Wenn du aber nicht Gutes tust, so lauert die Sünde vor der Tür, und ihr Verlangen ist auf dich gerichtet; du aber sollst über sie herrschen!“
Warum waren Christen so wütend, so neidisch und merkten nicht, dass die Sünde vor ihrer Tür lauerte? Warum konnten Christen sich als Werkzeug Gottes verstehen, wenn sie die Brüder und Schwestern Jehoschuas ermordeten? Kannten sie nicht die 10 Gebote?!
Von den Christus- und Gottesmördern hatten sie sich im Laufe der Zeit und trotz aller Unterdrückung zu ernstzunehmenden Konkurrenten in der Druckkunst, in Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung entwickelt. Sogar in der Schule war es ein nicht seltenes Phänomen, dass jüdische Schüler, die am Schabbat nicht in die Schule kamen, dennoch erfolgreich waren. „Der Jude ist anders, er muss weg, denn er stört unsere Ruhe und Ordnung!“, war die Antwort.
„Die Sünde lauert vor deiner Tür! Nicht der Jude ist das Problem, sondern deine Weigerung, den Blick zu heben und in ihm deinen Bruder zu sehen! Den Bruder, der auf dich zukommt und mit dir teilen möchte. Er lässt dich teilhaben an seinem Wissen, er bereichert deine Kultur, er steht neben dir im Kampf gegen das Böse!“
Aber zuletzt gewann die Propaganda: „Die Juden sind unser Unglück! Wir Deutschen, die Herrenrasse, werden die Welt von diesem Unglück befreien!“
Doch die „Herrenrasse“ hatte die Rechnung ohne den Wirt, ohne den Hausherrn – Gott – gemacht. Sie brachte in 6 Kriegsjahren neben 6 Mio. Juden in den Vernichtungslagern auch 60 Mio. Menschen durch Krieg, Hunger, Krankheit und Vertreibung den Tod. Die Welt schaute weg, wie ein neuer amerikanischer Film „The U.S. and the Holocaust“ (https://www.juedische-allgemeine.de/politik/wir-muessen-handeln-2/) belegt, überließ die Juden ihrem Schicksal und überzog die Welt mit Gewalt und Tod!
„Wo ist Abel, dein Bruder? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von dem Erdboden!“
Das Blut SEINER geliebten Kinder schrie zu Gott – und Gott hörte den Schrei! Gott richtet alle, die SEINEN Augapfel antasten!
„Bin ich meines Bruders Hüter?“ – Diese Frage, die Frage im Nachkriegsdeutschland und bis heute, die Frage, die ausdrückt „Was geht mich das an?“ steht auf einem Plakat in Yad Vaschem in Jerusalem.
JA! Du bist deines Bruders Hüter! Du bist für sein Wohlergehen verantwortlich so wie er für das Deine. Brüder sind eng verwandt, haben dieselben Eltern. Jeder Mensch ist Bruder und Schwester seines Nächsten, denn die Menschheit hat einen Vater: Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, schuf die Menschen in ihrer Vielheit und Unterschiedlichkeit. Gott wollte keine einheitliche Welt, sondern Buntheit und Vielfalt, Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe und Physiognomie. Und trotz dieser Unterschiedlichkeit kann jeder und jede im Gegenüber den Bruder, die Schwester erkennen. Gott als unser Vater gibt uns die Verantwortung füreinander. Genau deshalb dürfen wir nicht wegschauen, wenn dem Nächsten Unrecht geschieht oder ihm ein Leid zugefügt wird, wenn er der Hilfe bedarf.
In Deutschland und den europäischen Ländern gab es wenige, die dieser Verantwortung gerecht wurden. Die meisten in Kirche und Gesellschaft sagten: „Wir wussten von nichts.“ Und damit fragen sie wie Kajin: „Bin ich etwa meines Bruders Hüter? Wir haben doch selbst gelitten. Wir haben auch Angehörige verloren.“ Dass sie dabei Ursache und Wirkung übersehen, verstehen sie nicht. Dabei können wir Gott nicht genug danken, dass es uns heute in Deutschland so gut geht, dass ER Deutschland nicht der Vernichtung preisgab – ähnlich wie Kajin -, sondern uns die Gelegenheit zur Umkehr und zu guten Taten gab. Wäre der Morgentau-Plan umgesetzt worden, gäbe es Deutschland nicht mehr.
Auch, dass Juden nach Deutschland, ins Land der Täter, zurückkehrten, und es wieder reiches, jüdisches Leben in Deutschland gibt, ist ein Wunder Gottes. Selbst in Israel herrscht eine Achtung und Anerkennung Deutschlands, wie es vor 60 Jahren noch undenkbar war.
Doch in Deutschland müssen wir wachsam sein vor wachsendem Antisemitismus, vor Unwissenheit und Geschichtsvergessenheit. Wer die Vergangenheit vergisst, anstatt aus ihr zu lernen, wird einen hohen Preis zahlen. Wer vergisst, bewirkt, dass sich Geschichte wiederholt. Deutschland hat Verantwortung für die älteren Geschwister, weshalb es für Bildung – auch unter Zuwanderern – sorgen muss. Wer in Deutschland lebt, muss sich mit dieser unvorstellbar grausamen Geschichte identifizieren und darf seinerseits keinen Antisemitismus in unser Land einschleppen. So wie es Corona-Maßnahmen gab und entsprechende Kontrollen, so muss es Antisemitismus-Maßnahmen geben, die denen die Einreise verweigern, die uns mit diesem „Virus“ neu infizieren wollen.
Wir haben eine Verantwortung, der wir uns nicht entledigen können. Die nachgeborenen Generationen haben Recht, dass sie am millionenfachen Judenmord keine Schuld tragen, aber auch sie müssen sich die Frage von Gott stellen lassen: „Wo ist Abel, dein Bruder?“ Es ist das schwere Erbe der Väter, das Kinder, Enkel und Urenkel zu tragen haben. Dieses Erbe können wir nicht ausschlagen. „Ich weiß es nicht“, wird als Antwort nicht akzeptiert. Denn Gott weiß immer, wo SEIN erstgeborener Sohn Israel ist, und ER wird ihn hüten wie Seinen Augapfel.
Bleiben wir mit Gott und mit dem Bruder, der Schwester im Gespräch, denn nur so lassen sich Unklarheiten klären und Fremdheit überwinden. Erkennen wir, dass Gottes Liebe unbegrenzt ist und für jedes Kind ausreicht. Machen wir den Bruder, den wir uns als Feind einbildeten, wieder zum Bruder und Freund.
„Nicht der ist ein Held, der seine Feinde bekämpft, sondern der den Feind zum Freund macht“, so zitierte Rabbi Jonathan Sacks s‘‘l aus seinem Buch „Not in God’s name“, und er fordert uns auf, die Texte der Bibel einer erneuten Lektüre zu unterziehen, damit Juden, Christen und Muslime sich nicht länger als Feinde bekämpfen, sondern sich als Brüder und Schwestern erkennen. Pinchas Lapide nannte es „Entfeindungsliebe“.
Jedem, der Englisch versteht, empfehle ich sehr den Vortrag von Rabbi Sacks.