am Schabbat Schlach Num. 13,1 – 15,41, d. 26. Siwan 5782; 25. Juni 2022
Jehoschua steht ganz in der Tradition seines großen Lehrers Mosche und sandte zwei Männer aus. Von Jehoschua heißt es, dass er im Gegensatz zu Mosche kein großes Aufsehen um ihre Aussendung machte. Wir kennen nicht einmal ihre Namen. Die Späher werden heimlich ausgesandt. Das kann bedeuten, dass er die Situation von damals nicht wiederholen wollte. Die Männer sind somit nur ihm zum Bericht verpflichtet, nicht dem ganzen Volk.
In seiner Übersetzung (Targum) fügt Jonatan die Erklärung hinzu, dass das Wort חֶרֶשׁ cheresch = geheim, ruhig auch bedeuten kann: „Er sagte zu ihnen: Verkleidet euch als Taubstumme חרשים cherschim, damit sie euch ihre Angelegenheiten nicht verheimlichen. Eine andere Erklärung ist: חרש charaß … töpfern. Beladet euch mit Töpfen, damit ihr als Töpfer erscheint.“
Jehoschua gebietet neben dem Land insbesondere Jericho auszukundschaften, denn diese Stadt galt als besonders mächtig und uneinnehmbar. Sie hatte zwei Stadtmauern! Jericho יְרִיחוֹ ist eine alte, heidnische Stadt, in der wahrscheinlich eine Mondgottheit angebetet wurde. Ihr Name kommt von יָרֵחַ jare’ach, was Mond bedeutet.
Diesmal sind nur zwei Kundschafter unterwegs, Mosche sandte 12 aus. Damals kamen nur zwei von ihnen mit einer hoffnungsvollen, glaubensstarken Botschaft zurück. Vielleicht schickte Jehoschua darum nur zwei Späher aus, und das heimlich. Er sandte וַיִּשְׁלַח wa’jischlach sie ansonsten genauso wie Mosche als Kundschafter מְרַגְּלִים meragla‘im. Darin steckt das Wort רֶגֶל règel =Fuß. Kundschafter müssen also das Land „unter ihre Füße“ nehmen und gehend die Bedingungen in der Umgebung erkunden.
Mit dieser Bezeichnung haben sie eine sprachliche Verbindung zu den Wallfahrtsfesten רגלים regalim, die ebenfalls zu Fuß unternommen wurden. Ihr Ziel war der Tempel und das Zelebrieren der Feste, doch ihr Weg dahin war ein Weg in das Innere, von dem aus die Pilger ihr Opfer darbrachten.
Die Gesandten treffen in Jericho ein und kommen in das Haus der Hure Rahab. Aber kann es sein, dass die Kundschafter sich bei einer Prostituierten niederlegen?
Das Wort Hure heißt זוֹנָה soná, doch ist es ferner mit dem Wort מָזוֹן mason verwandt, welches Speise heißt. Darum lesen wir bei genanntem Jonatan: „Gastwirt, einer, der verschiedene Lebensmittel verkauft (מזונות mesonot = Speisen).“ In beiden Fällen kennt Rachaw viele und einflussreiche Leute, die bei ihr als Händler ein- und ausgehen, Speise und Übernachtung finden. Es mag sein, dass Prostitution als eine Vergünstigung, eine Art Bonus mit angeboten wurde bzw. sich Gasthaus und Bordell in einem Haus befanden. Die Spione konnten an einem solchen Ort sicher wertvolle Informationen gewinnen.
רָחָב Ráchaw = Rahab kommt von racháw = רַחַב = die Weite. Durch ihren Namen erfahren wir etwas über ihre Persönlichkeit. Sie war offen und aufgeschlossen für andere Menschen, nicht manipulierbar, kommunikativ und kontaktfreudig, und, wie der Verlauf der Geschichte zeigt, offen für Neues und für Gott.
Wer mit der Nachricht von den Kundschaftern zum König kam, wissen wir nicht. Alle Personenangaben über die Verfolger bleiben nebulös, sowie das ganze Unternehmen des Königs nebulös ist. Er hört auf irgendwelche Mitteilungen von ungeprüften Personen und agiert hektisch, panisch und unüberlegt. Was hat er zu verbergen? Vor wem hat er wirklich Angst?
Sofort geht irgendwer zu Rachaw, wo die Spione alles, was sie suchen, finden könnten, und verlangt die Auslieferung derselben. Doch die Frau ist durch das Erscheinen der vom König Gesandten in keinster Weise eingeschüchtert. Vielmehr bleibt sie nüchtern und weiß, was zu tun ist. Die mutmaßlichen Wächter Jerichos und Beauftragten des Königs bauen auf sie, denn sie muss eine vertrauenswürdige Frau gewesen sein. Und eine weise Frau, die den Männern Anweisungen gibt. Sie haben Respekt vor ihr und durchsuchen ihre Räume nicht, vielmehr tun sie, was sie ihnen rät. Eine starke und überzeugende Frau, die entschieden hat, gegenüber ihren heidnischen König nicht länger loyal zu sein, da er sich als Feind Israels und dessen Gottes entpuppt.
Sie verbarg תִּצְפְּנוֹ tizpeno die Männer. Damit wird derselbe Terminus benutzt wie bei Mosches Geburt, als seine Mutter ihn drei Monate lang verbarg (וַתִּצְפְּנֵהוּ we’tizpenhu Ex. 2,2 ….) Somit haben wir eine Verbindung zu Mosche und seiner großen Geschichte, wovon das Buch Josua die Fortsetzung ist. Nach dem Auszug steht endlich die Landnahme an, die Mosche nicht mehr erleben darf.
Die Männer des Königs jagen den vermeintlich Entkommenen nach. Sie sind an dieser Stelle anonyme Männer אֲנָשִׁים anaschim wie die Kundschafter, die Jehoschua bestimmte. Auch sie haben einen Auftrag, wenn auch einen feindlichen, nämlich die Ergreifung der Spione.
Uns wird noch einmal en Detail erzählt, wie und wo Rachaw die Kundschafter auf dem Dach versteckte. Sie nutzt die Abwesenheit der königlichen Schergen und geht zu ihnen. Jetzt bekennt sie, woher sie diesen Mut hatte, den König zu hintergehen.
Jos. 2,9 Ich weiß: ja, euch hat ER das Land gegeben, ja, von euch her stürzt Entsetzen auf uns, ja, alle Insassen des Landes wanken vor euch, 10 wir habens ja gehört: das, wie ER die Wasser des Schilfmeers trocknete vor euch her bei eurer Fahrt aus Ägypten, und wie ihr den beiden Amoriterkönigen tatet, denen jenseit des Jordans, dem Ssichon und dem Og, wie ihr sie banntet, 11 wir hörtens, unser Herz schmolz, in niemand mehr hob ein Geist sich vor euch, …
Die Kunde vom Auszug der Kinder Israel aus der Sklaverei in Ägypten und von Gottes Wunderwirken hatte sich herumgesprochen. Gott hilft Seinem Volk gegen jeden Feind, weshalb unter den Bewohnern Jerichos Panik vor dem Volk Gottes ausbrach. Wer hatte gegen dieses Volk und gegen ihren Gott eine Chance? Als Heiden konnten sie sich nicht vorstellen, was Buße und Umkehr bedeuteten. Also vertrauten sie lieber auf die starke Befestigung ihrer Stadt und versuchten, sich gegen jeden Israeliten, dessen sie habhaft werden konnten, panisch zu wehren.
Raschi erklärt die Angst in der Stadt so: „Und es blieb kein Geist mehr, selbst um bei einer Frau zu liegen. Dies war für Rahab offensichtlich, weil, wie die Rabbiner sagten: Es gab keinen Prinzen oder Herrscher, der keine Beziehungen zu Rahab, der Hure, hatte. Sie war zehn Jahre alt, als die Israeliten Ägypten verließen, und sie trieb vierzig Jahre lang Hurerei.“
Rachaw erweist sich durch diese Sätze als Prophetin, denn sie spricht einige Einzelheiten vom Schilfmeer aus, die sie nicht wissen kann, die lediglich den Ausziehenden bekannt waren. Damit sagt sie den Kundschaftern, dass ihre Mission erfolgreich sein wird.
Bei allen Reichen und Einflussreichen nimmt Rachaw diese lähmende Furcht wahr, doch sie geht überzeugt einen anderen Weg:
Jos. 2,11b ER, euer Gott, er ist Gott, im Himmel droben, auf Erden drunten!
Sie ist bereit, den Gott Israels anzuerkennen, was ihr von den Rabbinern als Konversion zum Judentum ausgelegt wird. Sie erkennt den Einen Gott an, den Schöpfer Himmels und der Erde und übergibt ihr Leben in Seine Hände, anstatt vor Angst zu vergehen. Dabei geht Rachaw das Risiko ein, als Fremde, als Heidin, als Prostituierte eine Außenseiterin zu sein. Doch sie gehört lieber einem solchen Volk und Gott an als weiterhin den Götzen Jerichos zu dienen.
Für sich brauchte sie nicht mehr um die Schonung ihres Lebens zu bitten, denn sie war nun Jüdin. Aber für ihre Verwandtschaft tat sie es. Gott hatte immerhin geboten, den Bann חֲרֵם cherem zu vollstrecken wie in
Dtn. 20,16f jedoch von den Städten dieser Völker, die ER dein Gott dir als Eigentum gibt, sollst du keinen Hauch leben lassen, nein, Bannes sollst du sie bannen: den Chetiter, den Amoriter, den Kanaaniter, den Prisiter, den Chiwwiter und den Jebussiter, wie ER dein Gott dir gebot.
Auch die Beute Jerichos würde ein Ganzbrandopfer für Gott werden! Darum bat sie:
Jos. 2,13 meinen Vater, meine Mutter, meine Brüder, meine Schwestern, alles was zu ihnen gehört lasset leben, rettet unsre Seelen vorm Tod!
Die Bitte klingt redundant, doch Malbim, ein Rabbiner aus dem 19. Jh., erklärt, dass sie nicht nur um Rettung vom körperlichen Tod bat, sondern auch vom spirituellen Tod. Ihre Familie wird aus einem Akt der Chessed, der tätigen Nächstenliebe, gerettet und vom Bann ausgenommen. Durch die Erfahrung wird der Rettung wird die Familie sicher zu einer geistigen Einsicht gelangen.
Die Späher lassen sich auf den Deal ein, sofern ihr Vorhaben nicht verraten wird. Nun ließ sie die Zwei an einem Seil aus dem Fenster hinunter. Und genau durch dieses Seil und Fenster, so Raschi, stiegen vorher die Sünder zu ihr hinauf. Darum sagte sie im Midrasch: „O Herr des Universums! Damit habe ich gesündigt. Mit diesen vergib mir.“ Ab sofort setzt sie diese Dinge zum Guten und für die Rettung Israels ein.
Sie erweist sich nochmals als Prophetin, als sie den Kundschaftern sagt, wie lange sie sich versteckt halten sollen. „In Rachaw keimte ein Ausdruck des Göttlichen Geistes, dass sie am Ende von drei Tagen zurückkehren würden“, erklärt Raschi.
Mit der Drei sagt sie deutlich, dass eine große Veränderung ansteht. Drei Monate konnte das Baby Mosche verborgen werden, eine Dreitagereise in die Wüste erbittet Mosche von Pharao, drei Tage dauerte die Finsternis in Ägypten als Plage vor der Tötung der Erstgeburt, die große Wende in der Geschichte vom Exodus. Die Drei verbindet Rachaw genauso mit Ester, die ein dreitägiges Fasten ausrief und mit Jona, der drei Tage im Bauch des Fisches ausharrte.
Die Abmachung mit Rachaw wird nochmals thematisiert, denn die Kundschafter wollen Sicherheit. Sie werden nur verantwortlich sein für das Leben der Familie, wenn Rachaw loyal ist, wenn sie ein sichtbares Erkennungszeichen anbringt und ihre Familie dort in der Wohnung versammelt. Beim Kampf um Jericho kann keine Rücksicht auf die unbekannten Stadtbewohner genommen werden. Wenn es zum Kampf kommt, müssen die Schutzwürdigen an einem Ort versammelt sein.
Damit muss sie dasselbe tun, wie Gott es für die Pessachnacht, eines der drei Wallfahrtsfeste, befahl. In einem Raum müssen sie sich einschließen, und das Zeichen am Fenster soll eine rote Schnur sein, so wie vormals das Blut an den Türpfosten (Ex. 12,7.13.22). תִּקְוַת חוּט הַשָּׁנִי tikwat chut haschani – ein Verlängerungsfaden aus Karmesin, so ist die wörtliche Übersetzung dieses Ausdrucks. Die Verlängerung bzw. die Verbindung קו kaw wurde zu einer Schnur, die eine Verbindung zum Himmel symbolisiert und damit Hoffnung תִּקְוַה tikwa gibt. So ist diese Schnur Rachaws Hoffnung auf Rettung und auf Erlösung.
Durch all diese Ereignisse können die Kundschafter schließlich Jehoschua voller Überzeugung mitteilen:
Jos. 2,24 Ja, ER hat all das Land in unsere Hand gegeben, auch wirklich: alle Insassen des Landes wanken vor uns!
Sie berichten nun, was die 10 Kundschafter 40 Jahre zuvor als Unmöglichkeit dargestellt hatten. Damals „fraß das Land seine Insassen“. (Num. 13,32) Jetzt berichten die zwei unbekannten Männer von der Möglichkeit, das Land einzunehmen, nicht zuletzt, weil Rachaw mit ihrer Weisheit ihnen die „sachdienlichen“ Hinweise gegeben hatte.
Einem Midrasch zufolge wurde Rachaw später die Frau von Jehoschua und die Ahnin großer Propheten wie Hesekiel, Jeremia, der Prophetin Chulda u.a. Das kann beispielsweise abgeleitet werden aus
Jos. 6,25 Rachab die Hure, das Haus ihres Vaters und alles, was zu ihr gehörte, ließ Jehoschua leben, sie wurde seßhaft im Innern Jissraels, bis auf diesen Tag, denn sie hat die Boten versteckt, die Jehoschua sandte, Jericho auszukundschaften.
Sie war als treue Helferin Israels in den innersten Kreis aufgestiegen und dort heimisch. Und sie war eine ungewöhnliche und bemerkenswerte Frau zu Beginn der Landnahme Israels. Außerdem stellt der Midrasch sie in eine Reihe mit den schönsten Frauen der Bibel wie Sara, Rebekka, Rachel und Ester.
Noch etwas verbindet sie mit Jehoschua ben Nun יְהוֹשֻׁעַ בִּן נוּן Jehoschua, der Sohn Nuns, dem Retter Israels להושיע lehoschi‘a = retten: Nun נוּן ist der 14. Buchstabe des hebräischen Alphabets und hat den Zahlenwert 50. Bei Rachaw errechnen die Rabbiner, dass sie im Alter von 50 Jahren zum Judentum konvertierte. 50 ist eine Zahl, die über die Materialität hinausgeht und auf die Transzendenz hinweist.
In Rachaw wird deutlich, dass alle Menschen im Bilde Gottes geschaffen sind. Jeder Mensch hat seinen eigenen, ganz speziellen Wert. Jeder kann mit seinen Fähigkeiten und seiner Berufung Gott dienen. Und jeder Mensch kann zu jedem Zeitpunkt umkehren zu Gott, sein altes Leben hinter sich lassen und von vorn beginnen. Diese Umkehr lässt alle Merkmale einer Außenseiterin vergessen!