Predigttext vorgesehen für So. d. 19.06.2022 mit Gedanken eines Seminars von Yuval Lapide

Einführung

In diesem Gleichnis, diesem מָשָׁל Maschal = Beispielrede Jehoschuas sind drei Protagonisten vertreten: Ein reicher Mann ohne Namen, der arme Lazarus, dessen hebräischer Name El-Azar heißt, was bedeutet: Gott hilft. Der reiche Mann bleibt ohne Namen, da er keinen Namen verdient hat. Zudem steht er mit seinem hartherzigen Verhalten prototypisch für andere seiner Couleur.

Das Gleichnis spielt sich größtenteils in der anderen Welt ab, womit Jehoschua seinen Zuhörern deutlich macht, dass das Leben in der anderen Welt nahtlos weitergeht. Es gibt ein Leben nach dem Leben, in dem der Mensch für das Verantwortung trägt, was er in dieser Welt getan oder unterlassen hat. Jehoschua lässt die Protagonisten reden, was in manchen Kreisen gern gemieden wird. Die Verantwortung für das gelebte Leben beginnt nicht erst im jüngsten Gericht, sondern schon bald nach unserem Übergang. Und nach diesem Gleichnis können uns Tote Botschaften übermitteln.

Es gibt selbst im Judentum Midraschim, in denen Tote den Lebenden Botschaften weitergeben, in denen erzählt wird, wie es uns geht, wenn wir in der anderen Welt ankommen. Damit beschäftigen sich auch ernsthafte und ernst zu nehmende Thanatologen wie Elisabeth Kübler-Ross oder Bernard Jakobi. Solches Hineinnehmen des Todes in unser Leben hilft uns, den Tod nicht zu tabuisieren.

Die Dynamik der hier stattfindenden Dialoge und die Schärfe, die zur Teschuwa תְּשׁוּבָה = Umkehr führen sollen, sind typisch für den Evangelisten Lukas. Die Gleichnisse des 1. Jh.s arbeiten kontrastiv, indem sie Kontraste wie arm und reich nebeneinanderstellen.

19 Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbare Leinwand und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. 20 Es war aber ein Armer namens Lazarus, der lag vor dessen Tür voller Geschwüre 21 und begehrte, sich zu sättigen von den Brosamen, die vom Tisch des Reichen fielen; und es kamen sogar Hunde und leckten seine Geschwüre. 22 Es geschah aber, dass der Arme starb und von den Engeln in Abrahams Schoß getragen wurde. Es starb aber auch der Reiche und wurde begraben. 23 Und als er im Totenreich seine Augen erhob, da er Qualen litt, sieht er den Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. 24 Und er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich über mich und sende Lazarus, dass er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und meine Zunge kühle; denn ich leide Pein in dieser Flamme! 25 Abraham aber sprach: Sohn, bedenke, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben und Lazarus gleichermaßen das Böse; nun wird er getröstet, du aber wirst gepeinigt. 26 Und zu alledem ist zwischen uns und euch eine große Kluft befestigt, sodass die, welche von hier zu euch hinübersteigen wollen, es nicht können, noch die, welche von dort zu uns herüberkommen wollen. 27 Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, dass du ihn in das Haus meines Vaters sendest — 28 denn ich habe fünf Brüder —, dass er sie warnt, damit nicht auch sie an diesen Ort der Qual kommen! 29 Abraham spricht zu ihm: Sie haben Mose und die Propheten; auf diese sollen sie hören! 30 Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn jemand von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun! 31 Er aber sprach zu ihm: Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, so würden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer aus den Toten auferstände!

Schlachter-Übersetzung 2000

Auslegung zu Lazarus

Reich und Arm sind im Leben nah beieinander, und die Aufgabe des Reichen ist es, abzugeben. Jehoschua steht auf der Seite des Armen, denn er bekommt den schönen Namen El-Azar. Ihm gilt Gottes Hilfe über den Tod hinaus.

Beide befinden sich vor der Tür des Reichen, denn wir wissen von Jehoschua, dass er nichts hatte, wo sein Haupt Ruhe finden konnte. Das Elend ist sichtbar, aber der Reiche schaut herzlos weg. Er muss doch nur vor seiner eigenen Tür kehren, was er nicht tut. Hunde streunen dort, ein Armer liegt zwischen ihnen und kann sich ihrer Nähe nicht erwehren, aber der Reiche verschließ die Augen. Sein Leben ist verfehlt! Das kann nicht spurenlos bleiben in der anderen Welt.

Einen solchen Kontrast gibt es auch in Ester 4:
1 Als nun Mordechai alles erfuhr, was geschehen war, da zerriss Mordechai seine Kleider und kleidete sich in Sack und Asche und ging in die Stadt hinein und klagte laut und bitterlich. 2  Und er kam bis vor das Tor des Königs; denn es durfte niemand zum Tor des Königs eingehen, der in Sacktuch gekleidet war.
Der König will sich nicht durch Sack und Asche an Armut oder Schuld mahnen lassen.

Ebenso erging es der Syrophönizierin. Sie möchte lediglich die Brosamen vom Tisch der Reichen wie die Hunde (Matth. 15,27). Sie erhielt, worum sie bat, weil sie mit Rabbi Jehoschua im Gespräch war und er ihr Sehnen und Bitten verstand.

Hund bedeutet in der Bibel Willenlosigkeit, denn er ist hörig. Wenn Hunde an einem Menschen fressen oder lecken, so ist dieser Mensch auf die unterste Stufe abgesunken. Dabei kann man auch annehmen, dass die Hunde mitfühlender sind als der Reiche, was sie durch das Lecken der Wunden des Armen kundtun.

Der Arme starb und wurde von den Engeln הַמַּלְאָכִים  ha’mal’achim direkt in Abrahams Schoß getragen.
Sofort nach dem Tod kommen Engel, Boten Gottes, die sich um den Armen kümmern. Die Pharisäer im 1. Jh. und das rabbinische Judentum heute glauben im Gegensatz zu den Sadduzäern an Engel.

Jehoschua zeigt hier seinen Hörern, dass Abraham lebt! Durch ihn werden alle Völker auf Erden gesegnet werden. So ist er der Vater des Segens, weshalb es stimmig ist, dass der Arme zärtlich in Abrahams Schoß gelegt wird. Schon zu Lebzeiten war Abraham mit seiner Frau bekannt für seine Fürsorge und Liebe, für seine Gastfreundschaft. Abraham macht also gemäß diesem Gleichnis mit dem weiter, was ihn schon zu Lebzeiten beschäftigte: Nächstenliebe! Es gibt eine Kontinuität von dieser Welt in die andere Welt.

Der Arme wird direkt in die Arme Abrahams getragen, während der Reiche begraben wird. Zu dem Ereignis fehlen die Worte, auch wenn das Begräbnis für die Gesellschaft vielleicht ein Spektakel war. Es spielt in der Ewigkeit keine Rolle und ist für den Armen nicht von Bedeutung.

Das Totenreich שְׁאוֺל sche’ol kennt das Judentum als Ort für die Verstorbenen, aber er bildet einen Gegensatz zur Hölle. Die Bezeichnung kommt von dem Verb „er fragte“ שָׁאַל scha‘al und ist nicht ganz einfach zu erklären. Die Rabbiner verstehen unter der kommenden Welt eine Welt, die für uns Lebende ein großes Fragezeichen ist und bleibt. Es ist keine endlos qualvolle Institution, sondern ein Ort der Konsequenz, der Reinigung. So kennt die katholische Kirche das Purgatorium. Wie eine Waschmaschine schmutzige Wäsche kocht, wäscht und schleudert, aber nicht zerstört oder vernichtet, so wird die Sche’ol verstanden als Ort, der den Menschen würdig macht für die Nähe Gottes. Je nach Lebensbilanz ist der Aufenthalt dort kürzer oder länger.

Der Reiche erkennt Abraham und nennt ihn zärtlich Vater. Hier in der Sche‘ol erkennt er, dass es ein Erbarmen bei Vater Abraham gibt, das er dem Armen verweigert hat. Denjenigen, den er alle Tage vor seiner Tür hatte, will er nun bei sich haben, denn das Blatt hat sich gewendet. Jetzt leidet der Reiche. Aber jetzt ist es zu spät! Zu Lebzeiten hätte er sich um Lazarus kümmern können, denn seine Tora sagte ihm deutlich genug, dass das Thema unseres Lebens die Nächstenliebe ist. Seine Aufgabe war es im Leben, sich um Witwen, Waisen und Leidende zu kümmern. Das hätte Lohn und Segen für ihn gebracht. Die Reue hätte zu Lebzeiten kommen müssen, nicht jetzt. Doch selbst jetzt sucht man sie vergeblich. Er möchte die Nähe des Lazarus nur, damit der seine Qualen lindert! Von seiner Seite kommt kein Wort des Mitleids für den Armen. Da ist nur Neid, wobei das vorige Leben ausgeblendet wird.

Abraham bleibt zärtlich gegenüber dem Reichen. Er nennt ihn weiterhin Kind und fordert ihn zum Nachdenken auf. Warum warst du nicht großzügig mit dem, was du in Hülle und Fülle hattest? Du hast an dem Leid dieses Armen mitgewirkt. Jetzt muss jeder das bekommen, was ihm zusteht. „Wie man sich bettet, so liegt man.“ Der Midrasch lehrt das immer wieder: Du wirst ernten, was du im Leben säst.

Jehoschua erklärt damit deutlich, dass der Reiche selber eine Trennung aufgebaut hat, die er nun zu spüren bekommt. So ist er in dieser Trennung gefangen, denn er bereut nicht einmal jetzt. Er zeigt keine Einsicht, sondern denkt immer noch egoistisch an sich.

Gott straft nicht, sondern vergilt; es wird nur abgegolten, was jeder verdient. Wie in
Lk.6,31 Und wie ihr wollt, dass euch die Leute behandeln sollen, so behandelt auch ihr sie gleicherweise!
Gott richtet das Recht des Armen wieder auf תִּתְנַקֵּם titnakem, wenn der Reiche nun dieselbe Erfahrung macht, die er dem armen Lazarus zufügte. Bei solchen Worten müsste sich der Reiche schämen. Aber nichts kommt aus seinem Mund. Er hat noch nichts gelernt, ist nicht bereit zu Reue und Einsicht.

Fünf ist die Zahl des Begreifens. Was der Reiche nicht versteht, ist, dass es um ihn geht und nicht um seine Brüder. Die haben noch ihr Leben und haben vielleicht schon mehr verstanden als er. Der Reiche bleibt überheblich in seinem Dirigismus, mit dem er Abraham anordnet, Lazarus solle die Brüder warnen. Dabei haben die Lebenden die Tora, die fünf wichtigsten Bücher, und die Propheten! Darin steht alles, was der Mensch für sein Leben braucht.

Jehoschua verdeutlicht damit, dass auch für ihn die Tora das wichtigste Buch ist. Sie wird nicht abgeschafft, nicht überwunden. Sie ist ein Baum des Lebens und in ihr ist das Leben erhalten.
Mt.5,18 Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergangen sind, wird nicht ein Buchstabe noch ein einziges Strichlein vom Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist.

Der Reiche bleibt der Besserwisser wie ehedem, sogar Abraham gegenüber. Er spricht von der Umkehr der Brüder, von deren Bewahrung bei einem außergewöhnlichen Spektakel. Bringen Wunder und Sensation zur Einsicht und Umkehr? Reue, Umkehr – die hat der Reiche bis jetzt nicht praktiziert. Dabei hatte er alles, besonders die Gelegenheit zur guten Tat direkt vor der Tür!

Im Jenseits kann man auch bereuen, wie es einige Midraschim zeigen. Ebenso ist in diesem Gleichnis erkennbar, dass Abraham dem Reichen durch das Gespräch die Möglichkeit der Einsicht und Umkehr geben will. Aber er bleibt uneinsichtig und zeigt nicht einmal Respekt vor dem großen Vater Abraham! Selbst ihm macht er Vorschriften. Dabei könnte er sich doch jetzt mit der Tora beschäftigen, denn es gibt einen Midrasch, in dem ein Reicher dem Armen in der anderen Welt zu Diensten ist.

Wer in sich ein Problem mit Ungehorsam hat, wird sogar vom lieben Gott persönlich nicht überzeugt werden. Er wird Zurechtweisung und Warnung nicht verstehen. Jeder muss erst sein eigenes Problem bearbeiten. Mosche und die Propheten sind Gottes lebendiges Wort. Mit ihnen kann jeder zu Lebzeiten sein Problem bearbeiten. Wer sich ihren Mahnungen widersetzt, muss seine Probleme in sich selber gelöst, selbst wenn der Prozess schmerzhaft ist.


[1] Schlachter-Übersetzung 2000

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