vorgeschlagen für Sonntag, d. 19.09.2021
Einige Ausführungen sind einem Hauskreisabend mit Yuval entnommen.

Klagelieder 3,22 SEINE Hulden, daß sie nicht dahin sind, daß sein Erbarmen nicht endet.« 23 Neu ists an jedem Morgen, groß ist deine Treue, 24 »Mein Anteil ist ER«, spricht meine Seele, »um des willen harre ich sein.« 25 Gut ist ER zu denen, die ihn erhoffen, zu der Seele, die ihn sucht. 26 Gut ists, wenn still einer harrt auf SEINE Befreiung.
31 Denn mein Herr verwirft nicht für immer, 32 denn betrübt er, erbarmt er sich nach der Größe seiner Huld,

Martin Buber, Franz Rosenzweig, Die Schrift

Der Predigttext platzt mitten in Jeremias Klagelieder hinein zu einem Zeitpunkt, da er sich hart wieder zum Glauben und Vertrauen an Gott durchgerungen hat. Vorher aber beschreibt er die Katastrophe, welche die Babylonier 587v.d.Z. Israel zufügten, als sie Jerusalem einnahmen, die Menschen drangsalierten und töteten, die Stadt mitsamt dem heiligen Tempel in Rauch aufgehen ließen.

Im Hebräischen heißt das Buch אֵיכָה Eicha – was Martin Buber mit „Wehe“ übersetzt, ist eigentlich der schmerzliche Ausruf „Wie – אֵיךְ oder literarisch אֵיכָה““ – „Wie weilt die Stadt einsam!“, was übergeht in einen Entsetzensschrei „Wehe!“. Es ist das erste Wort von Kapitel 1 und stellt einen Bezug her zu Jeremias Warnungen. Jeremia warnte vor der Katastrophe und hielt seinem Volk seinen Ungehorsam vor. Er prangerte die Lieblosigkeit Israels an und den Dienst an falschen Göttern. Aber das Volk verstand die Weherufe nicht, verstand nicht, dass es sich auf dem bösen Weg befand. Es war eingelullt in seinen Alltag und in sein scheinbares Wohlergehen. Israels Problem war, dass es immer ein Volk sein wollte wie alle anderen Völker! Seine Überheblichkeit und Unbelehrbarkeit ließ die Menschen in den moralischen Verfall laufen! Dabei stand alles Wesentliche in der Tora! Gott hatte dem Volk geboten: Haltet die Tora für immer und wählt das Leben! Doch in falscher Sicherheit lernten sie nicht mehr aus Gottes Wort und wussten darum Vieles nicht oder nicht mehr, hielten es für überholt. Sie nahmen somit ihre Verantwortung nicht wahr – wie wir heutigen Menschen in der Corona-Pandemie. Auch wir kennen Gottes Wort nicht mehr und halten es für unzeitgemäß. Nun tragen die Israeliten – und auch wir – die Konsequenzen.

Was Jeremia im Buch der Klagelieder beschreibt, ist so grauenvoll wie die Nazi-Herrschaft und die Schoah. Eine jüdische Autorin aus Israel schrieb eine kurze Erzählung: „Großvaters Tischa beAw“, denn anlässlich dieses jüdischen Trauertages wird das Buch Eicha gelesen. Es ist schmerzvoll und vielsagend, dass der Protagonist für jede Grausamkeit der Nazis ein Zitat aus den fünf Kapiteln der Klagelieder fand. Mit diesen Zitaten auf den Lippen starb Großvaters Freund schließlich unter den Schlägen eines Nazi-Aufsehers. Gottes Wort passt in die Zeit!

Warum ist mir diese schmerzvolle Erinnerung an den Zusammenhang so wichtig? Dem Leser der wenigen Verse oder dem Hörer der Predigt muss klar sein, dass diese schönen Worte nicht einfach so daher gesagt sind. Vers 23 lässt sich so schön und leicht singen „Sein Erbarmen ist täglich neu!“, aber die Verse sind kein leichter Gesang, sie mussten errungen werden.

Jeremia war ein Priester aus Anatot, wohin seine Priesterdynastie wegen Ungehorsams verbannt wurde. Er kennt den Tempel und die Aufgaben der Priester nur zu gut. Wie der Priester Hesekiel aus Anatot wurde auch er zum Propheten berufen, was ansonsten nicht vorkommt; immerhin sollten Propheten unabhängig sein.

In seinen Klageliedern versucht Jeremia, die zurückliegende Katastrophe zu verarbeiten und einen Weg zu finden, wie Juden mit solchen Katastrophen theologisch umgehen könnten und wurde darum zum Vorbild aller leidgeprüften Menschen. Das waren zuerst Juden, die immer wieder Verfolgung erlitten. Jeremia versucht, das Unbeschreibliche zu beschreiben, Worte für die Tragödie zu finden, wie es auch Eli Wiesel in „Die Nacht“ tat.
Abraham Joshua Heschel kam nach dem Nazi-Terror zu folgender Überzeugung: „Der Glaube an Gott nach Auschwitz ist schwierig, aber der Glaube an den Menschen ist komplett gestorben.“

Der Glaube war für ihn wie für Jeremia „alternativlos“! Beide waren tiefgläubig und verwurzelt in Gott. Darum pendeln die Klagelieder zwischen Schmerz und Hoffnung, zwischen Finsternis und Licht, zwischen tiefster Verzweiflung und tiefstem Gottvertrauen. Jeremia ist verzweifelt, aber er zweifelt nicht an Gott. Seine Klagen wurden wie Episteln in verschiedene Gemeinden als Trost verschickt, so wie es nach der Schoah große Rabbiner taten. Es bewegt sie alle eine Frage: Wie kann man nach diesen grauenvoll schmerzhaften Erfahrungen mit Gott weiterleben, weiter an IHN glauben? Viele verloren ihren Glauben, obwohl die Schoah Menschenwerk war und Menschen die Freiheit der Wahl haben. Die Schoah war, wie mein Schwiegervater Pinchas Lapide sagte, nicht die Frage der Theodizee, die Frage „Wo war Gott?“, sondern die Frage der Antropodizee: „Wo war der Mensch?“

Jeremia ringt hier mit Gott! Er breitet unstrukturiert sein Leid, seinen Schmerz, die ganze Perspektivlosigkeit vor Gott aus. Im Leiden ist alles erlaubt: die Selbst- und die Gottesanklage. Jeremia will der Tragödie einen letzten Sinn abtrotzen, denn er weiß: Ich bin von Gott geliebt. Deshalb ist Jeremia gewiss, dass Gott sein Volk nicht aufgeben wird. Er ist nicht bereit, aufzugeben und in Nihilismus oder Fatalismus oder totale Sinnlosigkeit zu verfallen. Darin gleicht ihm Viktor Frankl, der in allem einen Sinn finden muss. Darauf gründet seine Logotherapie, die in Auschwitz ihre letzte Ergänzung durch eine grauenvolle Erfahrung erhielt. „Trotzdem ja zum Leben sagen“ ist Frankls Aufarbeitung seiner Katastrophe.

Das Pendeln zwischen bitterem Schmerz und Gottes Erbarmen, Güte und Milde  gibt einerseits dem Schmerz und der Bitterkeit Raum. Jeremias Maxime ist, dass Gott Sein Volk durch die Feinde züchtigte. Er spricht als Anwalt des Volkes und zeigt den Verzweifelten, wie er beharrlich in der Ich-Du Beziehung (M. Buber) mit Gott bleibt. Er ist ein Mann des Kampfes, der den vergebenden und liebenden Gott sucht.

Kapitel 3 spiegelt die Glaubenskraft Jeremias wieder, denn er glaubt wider jeden Glauben daran, dass Gott mit den Juden niemals Schluss macht. Trotz allem Ungehorsam wird Gott die Beziehung zu Israel nicht aufgeben. Jeremia weiß, dass Gott immer wieder Erbarmen mit seinem Volk hatte. Seit Abraham, über Mose und David erneuerte Gott Seinen Bund und Seine Beziehung zu Seinem geliebten Volk.

Klgl. 3,41 tragen wir unser Herz auf den Händen dem Gottherrn im Himmel zu!

Das will heißen: Wir treten demütig vor Gott und bekennen unsere Missetaten, all unsere Gedanken unseres Herzens. Wir bekennen unser Verschulden, das verantwortlich ist für diese Katastrophe. Jeremia identifiziert sich mit seinem Volk, darum setzt er sich mit den Sündern in ein Boot. Er sucht eine neue Theologie der Wiederannahme. Dabei haben die rasenden Vorwürfe gegen Gott ihren Raum im Suchen und Ringen nach Antworten. Jeremia springt für sein Volk in die Bresche und sucht die neue und tragfähige Beziehung zu Gott. Es ist Umkehr, תשובהTeschuwa nötig und möglich. „Die Tatsache, dass Gott uns den Tempel nahm, hat seine Ursache in unserem Götzendienst, unserer Lieblosigkeit, unserem Ungehorsam. Jetzt aber müssen wir uns nicht zerfleischen, sondern Teschuwa tun. Die Tora ist nicht abgeschafft! Sie ist ein Wort des Lebens, das zur Rückkehr führt.“

Die Verse des Predigttextes zeigen, dass der Glaube an den verzeihenden Gott und an die Barmherzigkeit Gottes ungebrochen ist. Der Mensch in der Not sprudelt ungefiltert heraus, was gerade in seinem Herzen ist, aber die Oberhand muss das Vertrauen in Gottes Vergebung und Barmherzigkeit behalten.  Es geht darum, zu verstehen, dass nicht Gott eine grausame Seite hat, sondern dass Menschen in ihrem Leid IHN so wahrnehmen. All das darf in der Klage vor Gott ausgesprochen werden, damit der Mensch befreit wird von seinem inneren Unfrieden nach der kollektiven Tragödie.

Nach der Nacht geht die Sonne neu auf. Und Gottes Liebe, Gottes Erbarmen, Gottes Treue ebenso. ER verwirft nicht für immer; ER hat keine Lust an der Betrübnis und Demütigung Seiner Kinder. Nach jeder Betrübnis erbarmt ER sich wieder. Das steht unumstößlich fest.

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