vorgeschlagen für en 23.02.2020, Sonntag Estomihi

31Jesus versammelte die Zwölf um sich und sagte zu ihnen: Wir gehen jetzt nach Jerusalem hinauf; dort wird sich alles erfüllen, was bei den Propheten über den Menschensohn steht: 32Er wird den Heiden ausgeliefert, wird verspottet, misshandelt und angespuckt werden, 33und man wird ihn geißeln und töten. Aber am dritten Tag wird er auferstehen. 34Doch die Zwölf verstanden das alles nicht; der Sinn der Worte war ihnen verschlossen und sie begriffen nicht, was er sagte.
35Als Jesus in die Nähe von Jericho kam, saß ein Blinder an der Straße und bettelte. 36Er hörte, dass viele Menschen vorbeigingen, und fragte: Was hat das zu bedeuten? 37Man sagte ihm: Jesus von Nazaret geht vorüber. 38Da rief er: Jesus, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! 39Die Leute, die vorausgingen, wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! 40Jesus blieb stehen und ließ ihn zu sich herführen. Als der Mann vor ihm stand, fragte ihn Jesus: 41Was soll ich dir tun? Er antwortete: Herr, ich möchte wieder sehen können. 42Da sagte Jesus zu ihm: Du wirst wieder sehen. Dein Glaube hat dir geholfen. 43Im gleichen Augenblick konnte er wieder sehen. Da pries er Gott und folgte Jesus. Und alle Leute, die das gesehen hatten, lobten Gott.

Jüdische Gruppen zur Zeit Jesu

In den ersten vier Versen spricht Jesus im Vertrauen mit seinen Jüngern. Was aber sind Jünger? Kennen Sie das Wort außer im neutestamentlichen Kontext? Und was stellen Sie sich darunter vor? Im Jüdischen Neuen Testament (Hänssler-Verlag) benutzt David Stern das hebräische Wort „Talmidim“ = Schüler. Im jüdischen Denken ist das ebenfalls eine ehrenvolle Nennung, denn Schüler suchten sich ihren Lehrer, ihren Rabbi, aus und hegten durchaus den Anspruch, mit dem Gelernten einmal über ihren Lehrer hinauswachsen zu können. Zudem ist Lernen im Judentum die Mitte des religiösen Lebens. Die Tora wird nicht nur gelesen, sie wird gelernt, sobald zwei oder drei Juden zusammenkommen. Lernen ist ein Vorrecht und wer lernt, ein Geachteter.
Diesen Schülern offenbart Jesus, wie er die Zeichen der Zeit einschätzt. Die römische Herrschaft ist grausam, die Judenheit zerrissen in den Vorstellungen, wie mit den Besatzern umzugehen ist. Soll man sich zurückziehen wie die Essener und auf das Ende durch den Messias warten? Soll man wie die Pharisäer durch das Verstehen, Auslegen und Befolgen der Tora bei Gott erwirken, dass ER den Messias schickt oder soll man wie die Zeloten gewaltsam kämpfen und dadurch dem Reich Gottes zum Sieg verhelfen? Die Sadduzäer hatten ihren Weg im Paktieren mit den Herrschenden gefunden und waren darum verachtet.
Die Zeichen dieser Zeit konnten für Jesus nur bedeuten, dass sich Geschichte in seinem eigenen Leben wiederholte, nämlich das Leiden des Propheten Hesekiel, den Gott mit „Menschensohn“ anredete oder des Propheten Jesaja und des jüdischen Volkes wie dieser in den Gottesknechtsliedern darlegte. Er wusste jedoch wie Abraham, dass Gott ihn nicht verlassen und ihn nicht dem Tod überlassen, sondern ihn auferwecken würde. Auf diese harte Prüfung wollte Jesus seine Talmidim vorbereiten, aber sie verstanden ihren Lehrer nicht.

Sorge für die Benachteiligten

Als sollte die folgende Begegnung ein Gleichnis für die verständnislosen, „blinden“ Schüler sein, ruft ein Blinder, der am Wegesrand sitzt, nach Jesus. Viele Menschen begleiten den Rabbi, nicht nur die Zwölf, und die möchten bitte nicht gestört werden von einem abgewrackten, blinden Bettler. Mit so etwas muss sich ein Gelehrter in ihren Augen nicht abgeben. Aber da kennen sie ihren Rabbi schlecht, denn der nimmt die Tora ernst; er lebt sie vor und verleiht ihr Gewicht, denn die Tora fordert die Nächstenliebe, die Hilfe für den Benachteiligten. Gott selbst verspricht die Fürsorge und Liebe für die Seinen, an denen sich Jesus orientiert: Jes.40, 11ER weidet seine Herde wie ein Hirte, sammelt sie mit seinem Arm; die Lämmer trägt er an seinem Busen, die Mutterschafe leitet er sanft. 
Lk.5,31 … Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken;
Der Blinde hört, dass Jesus von Nazareth vorübergehe. Er muss von ihm gehört haben, von seiner Abstammung aus dem Haus David. Darum ruft er ihn: (V38+40) Jesus, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!
Jesus nennt sich nicht selbst so, aber der Blinde ist erlösungshungrig und erwartet darum von diesem Wanderrabbi vielleicht sogar, dass er der verheißene, der messianische Sohn Davids ist, der diesem gewalttätigen Besatzungsreich und seinem eigenen Elend ein Ende bereitet, der auch die gleichgültigen Zeitgenossen zur Raison bringt.
Das tut Jesus, indem er seine Begleiter auffordert, den Blinden zu ihm zu führen. Sie müssen mit ihm innehalten, sich zu dem Verachteten begeben und warten, wie Jesus mit ihm umgehen wird.

Heilender Glaube

V41 „Was soll ich dir tun?“, fragt Jesus. Ist das nicht offensichtlich? Warum fragt er? Zum einen, weil man einen Juden immer daran erkennt, dass er eine Frage stellt (Yuval Lapide). Zum anderen zwingt er keine Hilfe auf, tut nicht, was aus seiner Sicht zu tun wäre, sondern fragt den Blinden selbst. Erst als der den Wunsch, sehen zu können, ausspricht, sagt Jesus ihm: V42 Du wirst wieder sehen. „Du sollst“ gab es in der Sprache Jesu nicht, wie ich es zur Parascha Jitro erklärt habe, weshalb Jesus nur im Futur gesprochen haben kann.
Und interessanterweise sagte Jesus nicht, dass er ihn heile, sondern dass der Glaube des Blinden die Heilung bewirkte. Glaube, Emuna אמונה, von dem sich das Wort Amen אמן ableitet, bedeutet: Selbstverankerung in Gott, sich fest machen in Gott und darum nicht zweifeln müssen. Indem der Blinde seinen Wunsch nach Heilung aussprach, bekannte er, dass er diese in seinem Leben noch immer erwartete und für möglich hielt. Es bedurfte lediglich eines anderen, ihn sehenden, weisen Menschen, der ihn in diesem Glauben bestätigte.
Und so folgt logischer Weise, dass der Geheilte sowie die Jesus begleitende Menge den ewigen Gott preisen und loben. Niemand lobt Jesus, sondern den, auf den Jesus verweist, auf den eigentlichen Wundertäter. Jesus bekannte doch selbst in Joh.5,19: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich aus tun, er sehe denn den Vater etwas tun; denn was jener tut, das tut ebenso auch der Sohn.
Und in Joh.8, 38 Ich rede, was ich beim Vater gesehen habe;
Gott allein zu ehren, den Schöpfer und „Neuschöpfer“, was die Wurzel des hebräischen Wortes für „gesund“ bildet, ist Jesu Anliegen in all seinem Leben und Lehren.

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