Die Zeit der Bibel               

Die biblische Zeit bildet die Entstehung des Monotheismus ab. In dieser Zeit lebten viele Völker als Nomaden, so auch die Patriarchen und später ihre Nachkommen, die aus der Sklaverei in Ägypten gerettet werden. Aus dem Glauben Abrahams entwickelte sich das Judentum. Ein Einzelner, der Gott erfuhr, gab seine Erfahrungen konsequent an seine Nachkommen weiter. Das ist bis heute eine feste Maxime, die Worte Gottes und Seine Treue an die kommende Generation weiterzugeben.

Dtn. 11,19 lehret sie eure Söhne, davon redend, wann du in deinem Haus sitzest und wann du auf den Weg gehst, wann du dich legst und wann du dich erhebst,
Ps. 78,3 Was wir hörten, daß wirs erkennen, und uns unsre Väter erzählten, 4 nicht hehlen wirs ihren Söhnen in einem späten Geschlecht, SEINE Preisungen erzählend, seine Siegesmacht und seine Wunder, die er getan hat.

In der biblischen Zeit entsteht das Volkes Israel aus den zahlreichen Nachkommen der Erzväter Abraham, Jizchak und Jaakow. Sie formierten sich unter dem Druck Ägyptens und später in der Wüste zu einem Volk. Die Erwählung des Volkes aus den Heidenvölkern geht auf den ersten Patriarchen Abraham zurück, der entsprechende Verheißungen und Segnungen bekam. Dabei geht es bei Erwählung nicht, wie Pinchas Lapide es ausdrückte, um Selbstruhm oder um eine Erhebung der Juden zu „Günstlingen Gottes“. „… es geht dabei nicht um eine Gabe, sondern um eine Aufgabe; nicht um einen Vertrag, sondern um einen Auftrag; nicht um Würde, sondern um eine Bürde.“[1]

Lebten die Erzväter noch ihren persönlichen Glauben im Gehen durch das ihnen versprochene Land, durch Weitergabe ihres Glaubens an ihr Umfeld, so mussten die Kinder Israel eigene Leitlinien und Gesetze in der Wüste am Berg Sinai bekommen, da aus ihnen ein großes Volk geworden war, das eine Grundstruktur brauchte. Außerdem besaß Israel in der Wüste schon ein Zentralheiligtum, das die Verbindung mit Gott stärkte: das Stiftszelt. Gott wollte somit in der Nähe Seiner Kinder leben, unter ihnen wohnen. Die Vielen benötigen einen Ort der Sammlung, wo sich jeder Einzelne seines Glaubens versichern kann.

Jehoschua יְהוֹשֻׁעַ er wird retten – Josua verhalf dem Volk durch die Landnahme zur Sesshaftigkeit. Die Richter und Könige waren schließlich um die Einswerdung der 12 Stämme bemüht. Doch letztlich konnte erst David diesen Prozess durch die Eroberung der Jebusiterstadt Jeruschalajim als Hauptstadt aller Stämme vollenden. Dabei war es von Vorteil, dass diese Stadt zu keinem Stammesgebiet gehörte, denn so wurde mit der Wahl der Hauptstadt kein Stamm bevorzugt.

Hier in Jeruschalajim sollte das einst bewegliche Heiligtum zum standortgebundenen Heiligtum der Israeliten werden, das ihnen eine spirituelle Heimat und Ort für ihre Opfer und Wallfahrtsfeste bot. König Schlomo שְׁלֹמֹה Salomo = Mann des Friedens baute den ersten Tempel anstelle seines Vaters David, der für die Sicherheit des Volkes viele Kriege führte. Ein Volk mit einem unsichtbaren Gott war für das heidnische Umfeld eine Provokation. David hatte daher zu viel Blut vergossen, um Gottes Wohnung bauen zu dürfen, doch er bereitete die Arbeit durch den Kauf einiger Baumaterialien vor. Seinem Sohn Schlomo gelang es, das Land 40 Jahre im Frieden zu regieren und das Haus Gottes fertigzustellen, doch war Gott unzufrieden mit seiner Prunksucht und seinen heidnischen Frauen, die zum Ungehorsam gegen Gott verführten.

Viele Jahre konnte das Volk seine Feste zelebrieren und die in der Tora gebotenen Opfer darbringen. Dabei degenerierte der Glaube und endete im Synkretismus. Die Opfer wurden nur noch rein technisch dargebracht ohne die innere Haltung der Buße und Reue, der Teschuwa תְּשׁוּבָה teschuwa = Umkehr und Antwort.

So kam es zur Zerstörung des Salomonischen Tempels und zur Babylonischen Gefangenschaft, die die Katastrophe schlechthin waren, die das Volk zutiefst traumatisierten und verstörten. Nochmals musste das Judentum sich verändern, da das Zentralheiligtum und das versprochene Land nicht mehr verfügbar waren. Gott konnte das Land und den Tempel jederzeit nehmen, wie ER es in der Tora als Konsequenz angekündigt hatte. Sollte der Glaube an den EINEN weiterhin existieren und praktiziert werden, musste er zukünftig unabhängig von Äußerlichkeiten sein. Das Wort Gottes, die Tora, musste das „portative Vaterland“ (H. Heine) werden, das den Juden überall Sicherheit und Heimat gab.

Esra und Nehemia durften ca. 458 v.d.Z. den Tempel wieder aufbauen. Von Esra lesen wir, dass er ein „Schriftgelehrter“ war:
Esr. 7,6 dieser Esra zog von Babel herauf. Er war ein Schriftkundiger, beflissen der Weisung Mosches, die ER, der Gott Jissraels, gegeben hatte.. Und da SEINE, seines Gottes, Hand über ihm war, gab der König ihm all sein Begehr.
Er kannte sich in der Tora aus, sodass König Artaxerxes ihm auftrug:
Esr. 7,25 Du aber, Esra, nach der Weisheit deines Gottes, die dir zuhanden ist, setze Urteilsprecher und Richter ein, die sollen all das Volk im Jenseit des Stromes richten, alle, die das Gesetz deines Gottes kennen, und wers nicht kennt, dem macht es kund!

Bei Nehemia lesen wir alsdann:
Neh. 8,2 Esra, der Priester, brachte die Weisung vor die Gemeinschaft, so Männer wie Frauen, und alljeden, der im Zuhören erfaßt, am ersten Tag auf die siebente Neuung. … 4 Esra, der Schriftkundige, stand auf einer Holzkanzel, die man dafür errichtet hatte, … 5 Esra öffnete das Buch vor den Augen alles Volks, denn er war über alles Volk erhoben, und als er es öffnete, stand alles Volk auf. … 8 Man las aus dem Buch, aus der Weisung Gottes, verdeutlichend (מְפֹרָשׁ meforasch) und fürs Begreifen darlegend, und sie erfaßten die Lesung (מִּקְרָא mikra).
Mit den Erkenntnissen aus der Tora feierte das Volk erstmals nach langer Exilszeit wieder Sukkot (Laubhüttenfest) gemäß dem Wort Gottes. Und ihr Lernen setzt sich fort:
Neh. 8,18  Er las aus dem Buche der Weisung Gottes Tag um Tag, von dem ersten Tag an bis zum letzten Tag, und sie machten sieben Tage das Fest und am achten Tage die Einbehaltung nach dem Rechtsbrauch.

Hier finden sich erste Ansätze des späteren Synagogengottesdienstes. Die Lesung der Tora und die dazugehörige Auslegung fanden sukzessive an dezentralen Orten statt.  Die Entstehung des pharisäischen Judentums (Peruschim פירושים = die Ausleger; Parschan פַּרְשָׁן = der Kommentator, Ausleger von לְפָרֵשׁ lifrosch = auslegen, absondern) finden wir dort, wo die Tora erklärt wird. Die Pharisäer nannten ihre Weisen Rabbi רבי = mein Lehrer. Diese rangen etwa 250 Jahre später darum, in der Mischna festzuhalten, wie der Wille Gottes zu verstehen und zu praktizieren sei. Dazu legten sie die Schriftworte aus und sonderten sich dadurch immer mehr von den Sadduzäern ab, die mittlerweile nur die Gesetze der Tora akzeptierten und jede Auslegung ablehnten.

Esra und Nehemia reformierten das Judentum. Sie achteten darauf, dass die Tora und der Schabbat sowie die jüdischen Feiertage wieder eingehalten wurden. Musste einstmals jeder König seine Torarolle schreiben lassen, damit er die Gebote Gottes kannte, sollte die Tora nun an mehreren Orten durch den wöchentlichen Lesezyklus allen Juden zugänglich sein.
Dtn. 17,18 Es sei: sowie er sich auf den Thron seines Königtums niederließ, schreibe er sich den Doppel dieser Weisung auf ein Buch aus dem unter der Aufsicht der Priester, der lewitischen, 19 das sei nun bei ihm, er lese darin alle Tage seines Lebens, damit er lerne, IHN seinen Gott zu fürchten, zu wahren alle Reden dieser Weisung und diese Gesetze, sie zu tun, …

Talmudische Zeit (ca. 200 v.d.Z. – ca. 500 n.d.Z.)

Schon bald nach dem Wirken Esras und Nehemias verstanden die Juden, dass auch ihre bis dahin mündlich tradierte Lehre der schriftlichen Form bedurfte, um zukünftigen Generationen zugänglich zu sein.

So entstand die Mischna als eine Erklärung zur Tora, verfasst von den Tanaim טנאים / Tanaiten = aramäisch: Tanna = Lehrer; von aramäisch tanna von hebräisch schana, wiederholen, lehren, lernen[2] zwischen 200 v.d.Z. – 200 n.d.Z. Diese nachbiblische Zeit umfasst die Zeit Rabbi Jehoschuas (Jesu) von Nazareth sowie die Zerstörung des zweiten Tempels und die Vertreibung der Juden aus Jerusalem. Das Römische Exil dauert noch an, solange Juden außerhalb Israels leben. Ein derart langes Exil schreit nach Veränderung.

Die Fortsetzung der Mischna ist die Gemara (aram. גמרא, gamar, lernen, studieren). Sie enthält Erklärung zur Mischna. Ihre Verfasser waren die Amöräer (aram.אמוראים  Amora’im, die Sprechenden oder die über etwas Berichtenden) in der Zeit von 200 n.d.Z. – 500 n.d.Z.

Diese Zeit beweist, dass Juden ein Volk des Buches, des Wortes Gottes und des unaufhörlichen Studiums sind. Sie studieren die Tora und die heiligen Schriften, wie es im Tanach geboten ist:
Jos.1,8 Nicht weiche dieses Buch der Weisung aus deinem Mund, murmle darin tages und nachts, damit dus wahrest, zu tun nach allem, was darin geschrieben ist, – alsdann machst du deine Wege gelingen, dann ergreifst dus.
Psalm 1,1 Erfülltsein des Mannes, der nicht ging im Rat der Frevler, den Weg der Sünder nicht beschritt, am Sitz der Dreisten nicht saß, sondern Lust hat an SEINER Weisung, über seiner Weisung murmelt tages und nachts!

Mit der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer und die Diaspora ab 135 n.d.Z. begann für Juden eine lange Zeit des Exils ohne Tempel. Sie griffen zurück auf die Zeit nach der Babylonischen Gefangenschaft  und waren fortan auf ein Judentum angewiesen, das ohne Zentralheiligtum existieren kann, das in der Fremde bestehen kann. So erlebt in dieser Zeit das pharisäische Judentum seinen Höhepunkt und geht in das rabbinische Judentum über, welches heute noch Bestand hat. Es hält sich an die Regel:
Dtn. 17,9 komm zu den Priestern, den lewitischen, und zu dem Richter, der es in jenen Tagen sein wird, suche an, sie sollen dir den Sachentscheid des Rechtes melden.
Die Rabbiner und Talmudväter schlossen aus diesem Satz, dass es in Zeiten der Diaspora die Weisen in der jeweiligen Zeit sind, die befragt werden müssen.

„Dieser Auftrag zur stetigen Interpretation  „um des Lebens willen“ in sich stetig verändernden Umständen hat die Tora bis heute vor theologischer „Arterienverkalkung“ bewahrt.“[3]

Mit dem Fasttag 9. Aw wird der Zerstörung der beiden Tempel sowie der Zerschlagung des Bar Kochba-Aufstands mit Trauerritualen gedacht. Diese Ereignisse drangen tief ins kollektive Bewusstsein des Volkes Israel ein.

Die religiösen Gruppen des Judentums verschwanden. Man brauchte keine Priester mehr, also verschwand die Gruppe der Sadduzäer; ebenso die der Zeloten, denn der Kampf um Zion war verloren. Was blieb, war die Gruppe der Pharisäer.
„Die Lehrgespräche dieser Pharisäer – im Neuen Testament als „Streitgespräche“ verrufen – fanden in sieben Schulen statt, die sich in ihrer Methodik unterschieden und gelegentlich scharfe Debatten miteinander führten. Rabbi Jesus hatte natürlich – wie so manche Leuchte der Pharisäer – sein eigenes Sondergut, womit er jedoch keineswegs die Grenzen des Judentums überschritten hat.“[4]

Das Judentum überlebte alle Veränderungen durch die Tora, die ihnen Halt gab. Dabei veränderte sich auch der Umgang mit der Tora. Gab sie den Priestern lange Zeit Anweisungen für ihre Aufgaben im Tempel, so bemühten sich die Pharisäer darum, die Botschaft hinter dem Wort für das ganze Volk zu ergründen. Ihnen genügte es nicht, das Wort Gottes wörtlich zu nehmen. Sie suchten den Geist im Wort und dessen Bedeutung für den Alltag, besonders nach der Zerstörung des Zweiten Tempels.

Der Umgang mit der Tora

Die Tora entstand durch Offenbarung und durch Persönlichkeiten wie Propheten, die sie beachteten und weiter entwickelten. So wurde dieses heilige Buch für das Judentum zum sicheren Fundament. „Sie ist das Ruhende in dem Wechsel der Erscheinungen.“[5]

Die Tora ist die Weisung Gottes, NICHT Sein Gesetz! So, wie das Judentum eine RELIGION AUF DEM WEG ist, so entwickelte sich auf diesem Weg auch der Begriff der Tora, und zwar in folgender Reihenfolge:

  • Ex.20-24 Bundesbuch und die 10 Worte
  • Fünf Bücher Mose
  • zusätzlich die Propheten (Newiim)
  • Tanach = Tora + Newiim + Chetuwim (Schriften) > Erstes Testament
  • dazu kommend die Mischna
  • später die Gemara

Letztlich der Midrasch (Erforschung, Beleuchtung). Er gehört zur parabelhaften Literatur, zur narrativen Theologie und entwickelte sich im 2.- 8. Jh. n.d.Z. Die Aggada אַגָּדַה = Erzählung befindet sich im Talmud und existiert als eigene Literatur zur Homiletik = Predigt, z.B. in „Die Sagen der Juden“, gesammelt von Micha Bin Gurion.

„Seit der Sinai-Offenbarung heißt es die Tora, zu Deutsch Die Weisung oder Die Lehre. Sie enthält in den Fünf Büchern Mose rein quantitativ mehr Verheißungen, narrativer Theologie, Heilsgeschichte und Ethos als eigentliche Gesetze, die angeblich zum „unfruchtbaren Legalismus“ oder zum „trockenen Formalismus“ führen müssen. … Im Grunde genommen ist die Tora vor allem und hauptsächlich „Evangelium“ – allerdings im ursprünglichen Sinne des Wortes: Die Frohbotschaft von der Liebe Gottes und der Freiheit der Adamskinder. Freiheit jedoch ohne Satzungen führt zur Anarchie …“[6]  

Außerdem gibt es im Tanach Das Hohelied der Liebe Salomos, die Psalmen und Hiob, etc. Man findet im gesamten Buch Genesis nur 3 Gesetze:

  • Gebot der Fortpflanzung im Schöpfungsbericht: Gen 128 Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan
  • Gebot der Beschneidung bei Abraham: Gen 1710 Das aber ist mein Bund, den ihr halten sollt zwischen mir und euch und deinem Geschlecht nach dir: Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden; 11 eure Vorhaut sollt ihr beschneiden. Das soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch. 12 Jedes Knäblein, wenn’s acht Tage alt ist, sollt ihr beschneiden bei euren Nachkommen.
  • das Verbot, die Spannader zu essen: Gen 3232 …; und [Jakob] hinkte an seiner Hüfte. 33 Daher essen die Israeliten nicht das Muskelstück auf dem Gelenk der Hüfte bis auf den heutigen Tag, weil er auf den Muskel am Gelenk der Hüfte Jakobs geschlagen hatte.

Der Inhalt der Tora umfasst eine erzählerische Zeitspanne von etwa 3760 v.d.Z. bis 450 v.d.Z. und erzählt von der Entstehung der Welt und der Menschheit, von der Entstehung des jüdischen Volkes und seiner Geschichte. Da ihr eine lange orale Tradition vorausgeht, heißt sie auch Miqra מִּקְרָא = das Gerufene, Gesprochene,  wie Quran = Koran. In ihr wurden nur Texte gesammelt, die im hebräischen Original vorliegen. Mit der hebräischen Sprache schuf Gott laut jüdischer Tradition die Welt, weshalb jedes Wort und jeder Buchstabe von Bedeutung sind. Selbst die Form der Buchstaben kann an bestimmten Stellen eine Bedeutung für die Auslegung haben. Die Buchstaben entwickelten sich als Quadratschrift aus dem phönizischen Alphabet und damit aus Bildern.[7]  

Der Talmud sowie Teile der Bücher Hesekiel und Daniel liegen auf Aramäisch vor, was die Umgangssprache (lingua franca) im Exil war, dagegen hat Hebräisch den Stellenwert der Lingua sacra (heilige Sprache).

Weitere Verschriftlichungen wurden zurzeit Esras und Nehemias im Zuge der Urbanisierung und der Kommerzialisierung nötig. Die Gefahr bestand, dass das Wort nicht mehr im Munde geführt wurde.  
Dtn.30,14 Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.

Im Zuge der Einführung der frühsynagogale Gottesdienst nach der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil wurden für einen formalisierten Gottesdienst Torarollen benötigt. Verschriftlichung jedoch schafft Distanz im Gegensatz zu Erzählen „by heart“. Nach der Tora, die nach dem Zeugnis der Bibel bereits schriftlich vorlag, wurden weitere Teile des Tanach und der einzelnen Teile des Talmuds aufgeschrieben.

Der Talmud steht überwiegend für eine legalistische, logische Theologie, während der Midrasch die literarische Gattung erzählend-narrativer Theologie (Parabeln, Fabeln, …) darstellt. Aus ihnen schöpfte Jesus seine aussagekräftigen Gleichnisse. Es sind gesammelte Draschot (Drasch דְּרָשׁ= Auslegung durch einen Doresch  דּוֹרֵשׁ = Ausleger). Mischle מִשְׁלֵי heißt nicht nur Das Buch der Sprüche Salomos, welches Buber „Das Buch der Gleichsprüche“ nannte, sondern alle im Tanach verteilten Weisheits- oder Gleichnissprüche.

Der Dekalog oder die 10 Worte

Die 10 Worte עֲשֶׂרֶת הַדְּבָרִים aßeret ha’dewarim bilden einen zentralen Text der Tora. Sie wurden auf Geheiß Gottes aufgeschrieben, in Stein gemeißelt, nachdem Gott sie bei der ersten Variante selber aufgeschrieben hatte und bilden die Grundlage für den Bund Gottes mit Israel.

Diese 10 Worte befinden sich mit Abweichungen in Ex.20 und in Dtn. 5,6. Nach jüdischer Zählung ist bereits Ex.20,2 Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe das 1. Gebot! Es ist die Prämisse des Judentums, dass es einen Gott gib, der mit Seinen Menschen Geschichte schreibt und dessen Plan Seine Menschen auf Erden umsetzen. Die Grundidee des Dekalogs ist es, das Reich Gottes auf Erden zu bauen, von dem Jesus immer wieder sprach. Nur eine gelebte Ethik schafft „den Himmel auf Erden“, also eine Gesellschaft nach Gottes Willen.
Ex. 19,6 Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein.
Weil wir von Gott geschaffen wurden, hat ER das Recht, uns Weisungen zu geben, mit denen gesellschaftliches Leben und das Leben mit dem transzendenten Gott möglich sind. Ohne diesen Gottesbezug im 1. Gebot würde es sich bei den Worten um reinen Legalismus handeln.

Pestalozzi sagte dazu in passender Weise: „In den Abgründen des Unrechts findest du immer die größte Sorgfalt für den Schein des Rechts.“[8]  Oder anders ausgedrückt: „Die Systeme, die am unmenschlichsten sind, umgeben sich mit einer Fülle von Gesetzen, so geschehen in der Nazi-Diktatur, die millionenfachen Mord legalisierte.“[9]

  1. 2 Ich bin dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.
  2. 3 Du wirst keine anderen Götter haben neben mir. …
  3. 7 Du wirst den Namen des Ewigen, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Ewige wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.
  4. 8 Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. 9 Sechs Tage wirst du arbeiten und alle deine Werke tun.…
  5. 12 Du wirst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der Ewige, dein Gott, geben wird.
  6. 13 Du wirst nicht töten.
  7. 14 Du wirst nicht ehebrechen.
  8. 15 Du wirst nicht stehlen.
  9. 16 Du wirst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. 
  10. 17 Du wirst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.

Auf die zwei Gebotstafeln, die Mosche (Mose) vom Sinai zum Volk brachte, teilen sich die Gebote wie folgt auf: 1-5 als theozentrisch, also auf Gott ausgerichtete Worte; 6-10 als anthropozentrisch, also den Menschen betreffende Worte. Die 10 Gebote regeln die grundlegende Humanität des Juden, zu der die Beziehung mit Gott gehört. Diese zeigt sich jedoch grundlegend im Verhalten zum Mitmenschen.

Durch den Gebrauch des „du wirst“ statt „du sollst“ kommt einmal mehr die Liebe Gottes zu Seinen Kindern zum Vorschein. Gott ist mittels dieser Lesart nicht länger der strenge Rachegott, sondern der Gott, der sich auf die Seite des befreiten Volkes stellt und ihm das rechte Handeln zutraut, ans Herz legt, wie es später der Prophet ausdrückt:
Jer. 31,33 Denn dies ist der Bund, den ich mit dem Haus Jissrael schließe nach diesen Tagen, ist SEIN Erlauten: ich gebe meine Weisung in ihr Inneres, auf ihr Herz will ich sie schreiben, so werde ich ihnen zum Gott, und sie, sie werden mir zum Volk.

Das Bundesbuch – das zuerst als Tora Bezeichnete – in Exodus 21,1 – 23,33 wurde in Stein gemeißelt und enthält wirkliche Vorschriften, Gesetze = Mischpatim מִשְׁפָּטים von שפט – sch-f-t (schafat) = richten. Der Richter שׁוֹפֵט Schofet bringt durch sein Urteil eine Angelegenheit in die richtige, vorgegebene Richtung.

Die 70 Gesichter der Tora

Wie sich das Judentum und der Umgang mit der Tora entwickelten, so veränderte sich auch ihr Verständnis. Durch die Konsonantensprache ist die Bibel generell schwer zu lesen und zu verstehen, aber das Buch Hiob ist sprachlich wie inhaltlich das schwierigste. Dabei spielen Unklarheiten über die Aussprache (Vokalisation) verschiedener Wörter eine wesentliche Rolle. Durch sie kommt es zu unterschiedlichen Auslegungen eines Textes. Über Stellen, an denen die Rabbiner am „Ende ihres Hebräisch“ sind, gibt es Konsensentscheidungen zur Auslegung. Doch halten die Rabbiner eine Auslegungsvielfalt für sinnvoll, weil es eine Erweiterung der Deutung gibt, wodurch die Tora die sprichwörtlichen 70 Gesichter zeigt. Die Tora ist ein „frag-würdiges Buch“, wie mein Mann Yuval zu sagen pflegt, denn es will immer wieder und in jeder Generation neu befragt werden.

Ein Beispiel zu den in Stein gemeißelten Geboten ist sehr eindrücklich:
חרות kann ausgesprochen werden als „charut“ = eingemeißelt oder „cherut“ = Freiheit. Das führt zu der Auslegung: „Das eingemeißelte Wort Gottes führt uns zur Freiheit.“ Beide Lesarten bilden in rabbinischer Sicht keinen Widerspruch, sondern ergänzen und verstärken sich gegenseitig. Dieses Verständnis ist ein grundlegend anderes als das Lutherische, wo es heißt: „Das Wort, sie sollen lassen stahn und keinen G’dank dazu haben.“
Juden machen sich viele Gedanken und ertragen die Vielfalt gerne.

Dazu gibt es eine Geschichte im Babylonischen Talmud:
„Rav Abba sagte im Namen Schmuels: Drei Jahre stritten die Schule Schamajs und die Schule Hillels. Eine sagte: Die Halacha sei nach ihr zu entscheiden, und eine sagte, die Halacha sei nach ihr zu entscheiden. Da ertönte eine Hallstimme und sprach: Diese und jene Worte sind Worte des lebendigen Gottes, jedoch ist die Halacha nach den Worten Hillels zu entscheiden. Wenn aber die Worte der einen und die Worte der anderen Worte des lebendigen Gottes sind, weshalb war es der Schule Hillels beschieden, daß die Halacha nach ihr entschieden wurde? Weil sie verträglich und bescheiden war und sowohl ihre eigene Ansicht als auch die Schule Schamajs studierte. Noch mehr, sie setzte sogar die Worte der Schule Schamajs vor ihre eigenen.“

Traktat Eruvin 13b

In der Tora hat Gott nach jüdischem Verständnis bewusst knappe Aussagen gemacht, damit der Jude in seiner jeweiligen Generation die Schrift neu reflektiert. Das geschieht im Talmud, der darum unabdingbare Auslegung zur Tora ist.

539 v.d.Z ermöglichte das Edikt des Perserkönigs Kyros den Juden Freiheit und Anerkennung. Er erfährt als gesalbter König in der Bibel die Ehre, ebenfalls als Gesalbter, Messias Gottes tituliert zu werden.
Jes. 45,1 So hat ER gesprochen zu Cyrus, zu seinem Gesalbten לִמְשִׁיחוֹ limschicho: …

So war es möglich, dass in Babylonien selbst Akademien entstanden, in denen schließlich in langer mündlicher Tradition der Babylonische Talmud, die mündliche Tora, entstand. In Israel entstand lediglich die Mischna, weil nach 200 n.d.Z die Juden wegen der römischen Brutalität abwanderten. Die Gelehrsamkeit verlagerte sich gänzlich nach Babylonien.

Die Autorität neben der Tora ist die mündliche Überlieferung in Form des Talmuds. In dieser Schrift geht es darum, „das Schriftwort seelisch zu durchdringen,…“, so erklärte es Leo Baeck.[10] Der Talmud soll die Tora anwendbar machen, ins praktische Leben übertragen. Damit schafft er ein Gleichgewicht zwischen dem tradierten Wort Gottes und der Gegenwart, die ihren Weg mit Gott finden muss.

Als  narrative Form der  Auslegungen dient der Midrasch מִדְרָשׁ = Auslegung, Forschen, Ausschmückung, Hinterfragung in Form von Parabeln, Fabeln. Nach dieser Tradition erzählte Jehoschua (Jesus) seine Gleichnisse oder deutet er die Begegnung  mit Kindern – „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“. Dagegen ist die Berglehre eher talmudisch streng. Der Talmud – auch wenn in ihm einige Midraschim eingestreut sind – spiegelt die äußere Realität mit seinen Spielregeln wider. Der Midrasch ist die innere Realität; sie schafft ein inneres Erleben von Gott im Herzen. Beide Aspekte müssen aber klar definiert und getrennt sein.

Das Richtige ist immer relativ, wenn wir Leo Baeck, Martin Buber und Pinchas Lapide richtig verstehen. In unterschiedlichen Zeiten werden neue Einsichten wichtig und aktuell. In jeder Epoche gibt Gott Seinen Kindern Seinen Geist neu, weil sich die Zeiten, Umstände und Möglichkeiten ändern. Der Geist wirkt in der Gemeinschaft, mindestens wenn zwei zusammen diskutieren, die sich Pro und Contra bieten. Was die vorigen Lehrer erarbeitet haben, wird mitgenommen, aber der Schüler darf über seinen Lehrer hinausgehen. Damit wird der Lehrer nie verschmäht, sondern geehrt. Demut heißt, abhängig zu sein von Gottes Weisung. Buber deutete den Umgang mit der Schrift mit den Worten: „Die Wahrheit ist immer im Dazwischen.“ „Die Wahrheit entsteht im Dialog.“ Zur Diskussion gehört der Mut, dieses frag-würdige Buch zu hinterfragen durch Frage und Gegenfrage.

Vierfacher Schriftsinn: PaRDeS (nach Rabbi Bachja ben Ascher 1291 in Saragossa)

„Vor langer Zeit erkannten unsere Lehrer, dass die Tora wie ein wunderschöner Obstgarten ist. Aus der Entfernung sieht man nur ein Stück Land mit Bäumen. Wenn man näher kommt, sieht man, dass jeder Baum Blätter, Blüten und Früchte trägt. Wenn man noch näher kommt, stellt man fest, dass jede Frucht mit einer Haut bedeckt ist. Und, wenn man nicht locker lässt und die Haut abstreift, ist ein köstlicher Geschmack unser Lohn. Jetzt erkennst du, dass etwas, was zunächst nur ein Stück Land voll mit Bäumen zu sein schien, tatsächlich Schicht für Schicht köstliche Dinge birgt.
Das hebräische Wort für Obstgarten ist pardes. Man schreibt es mit den hebräischen Buchstaben pe, resch, dalet und samech. Jeder dieser Buchstaben steht für eine Schicht der Tora.“ (Lawrence Kuschner)

Mischna und Talmud

Laut jüdischem Verständnis ist das Wort Gottes etwas den Menschen Aufgegebenes, Bruchstückhaftes, das weitergedacht und fortgeschrieben werden muss. Der Talmud ist dieses Weiterdenken der Tora und ein Ordnen der Gebote. Dieses Forschen in der Schrift ist ein Gebot, das direkt aus ihr hervorgeht. Es trug maßgeblich zur Entwicklung des jüdischen Glaubens bei; es hält die Religion lebendig, denn es geht immer wieder um ein Werden, weniger um ein Sein. Das deutet schon der Name יהוה JHWH  an. Der Name bedeutet jiheje – der Ewige wird sein und ist futurisch geprägt. Dadurch weist Gottes Name, mit dem ER sich den Kindern Israel bekannt machte, auf Entwicklung, nicht auf Stillstand hin. „Die Aufgabe steht fest, nicht aber die Lösung. Die alte Offenbarung wird immer zu Neuem; die Religion erfährt ihre stetige Renaissance.“[11]

Die Gesetze des Talmuds und der Mischna sind nach Themen und nicht nach ihrem biblischen Kontext geordnet. Somit diskutiert die Mischna einzelne Themen gründlicher als der Midrasch. Die thematische Organisation der Mischna wurde später zum Rahmen des Talmuds als Ganzes.

Der Talmud, bestehend aus Mischna und Gemara, ist von seiner Struktur her „dialogisch“. Während die Mischna eine Sammlung von Gebräuchen und Einrichtungen ist, diskutiert die Gemara ausführlicher darüber und bringt auch Gegenmeinungen vor, die einerseits stehen bleiben, aber gleichfalls wieder diskutiert werden. Im Talmud kommen somit viele verschiedene Sprecher zu Wort und nicht nur gelegentlich schweift die Diskussion ab in kleinere oder größere Diskurse über neue Stichwörter. So werden nicht nur religiöse Gesetze (הֲלָכָה Halacha – das zu Gehende) besprochen, sondern auch Geschichten, Auslegungen, Sinnsprüche oder Gleichnisse erzählt (Aggada).

„Daß die Halacha, d.h. die Tora-Auslegung seit Mose – der selbst ein Tora-Ausleger war -, immer dynamisch und flexibel war, lässt sich leicht erweisen. … [Es] gab immer wieder Rabbinen, die ihre Lehre auf eine Quintessenz von einem, zwei oder drei sog. „vornehmsten Geboten“ komprimierten, ohne dabei auf irgendeines der anderen Gebote zu verzichten.“[12]

Ein Beispiel für die Aggada:

Ein Nichtjude kam zu Schammaj und sprach: „Bekehre mich, indem du mich die ganze Tora lehrst, solange ich auf einem Bein stehen kann.“ Da stieß Schammaj ihn fort mit einem Maßstecken, wie sie die Zimmerleute gebrauchen.
Da ging der Heide von Schammaj weg und kam zu Hillel und fragte auch ihn, ob er ihn die ganze Tora lehren wollte, solange er auf einem Bein stehen könne. Da bekehrte ihn Hillel auf seine Worte hin und sprach: „Ich will dich die ganze Tora lehren, solange du auf einem Bein stehen kannst.“ Und sprach zu dem Heiden: „Halte dich an den Schriftvers: ‚Du sollst deinem Nächsten nichts Ärgeres tun, als du dir gern getan haben willst.‘ Das ist der Urgrund der ganzen Tora. Der Rest ist Auslegung. Geh hin und lerne weiter.“ So lehrte Hillel ihn die ganze Tora, während er auf einem Bein stand
.[13]  

Traktat Schabbat 31a

[1] Pinchas Lapide, Jesus – ein gekreuzigter Pharisäer?, Gütersloh 1990, S. 15
[2]  Adin Steinsaltz: Talmud für jedermann, Verlag Morascha, 2. Aufl., Basel, 1998, S. 38
[3] Pinchas Lapide, Jesus – ein gekreuzigter Pharisäer?, Gütersloh 1990, S.19
[4] Ebd.
[5] Baeck, Leo, Das Wesen des Judentums, GTB 2006, Band 1, S.53
[6] Pinchas Lapide, Jesus – ein gekreuzigter Pharisäer?, Gütersloh 1990, S. 13
[7] http://de.wikipedia.org/wiki/Hebr%C3%A4isches_Alphabet
http://de.wikipedia.org/wiki/Protosemitisches_Alphabet
http://de.wikipedia.org/wiki/Ph%C3%B6nizische_Schrift
[8] Kinderlehre der Wohnstube
[9] Deutscher Koordinierungsrat = DKR der GCJZ: „Der Zukunft ein Gedächtnis geben.“ Gedächtniskultur im Judentum
[10] Baeck, Leo, Das Wesen des Judentums, GTB 2006, Band 1, S.54
[11] Baeck, Leo, Das Wesen des Judentums, GTB 2006, Band 1, S.60
[12] Pinchas Lapide, Jesus – ein gekreuzigter Pharisäer?, Gütersloh 1990, S.14
[13] Zitiert aus dem bei dtv erschienenen Buch „Das Ma’assebuch“, das zahlreiche Geschichten aus dem Talmud nacherzählt.

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