Reflexionen einer heimkehrenden Jesuanerin[1] – Debora Lapide

Seit nunmehr 13 Jahren darf ich mich durch die Gnade Gottes, die mich von meiner „Blindheit“ heilte, intensiv mit den jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens sowie auch direkt mit dem Judentum beschäftigen und nach jüdischen Lebensregeln leben. Und das, obwohl ich vor 30 Jahren von einem Pfarrer davor „gewarnt“ wurde, ein Buch über das Neue Testament von Pinchas Lapide zu lesen. Zu Beginn meines Aufsatzes möchte ich für die Menschen danken, die mich auf meinem jetzigen Weg unterstützt haben, mich mit Interesse begleiteten, mir in Freundschaft verbunden blieben. 

Als gläubige und zwischen Freikirche und Landeskirche oszillierende Protestantin zog es mich schon früh zu Israel und zum Judentum, doch fehlten mir Informationen aus erster Hand, bis ich 33-jährig durch Gottes Führung zu einer praktizierenden jüdischen Familie wegweisende Erfahrungen in Israel machte. Trotzdem war ich weiterhin überzeugt, dass Juden den Messias Jesus brauchten. Dabei entging es mir bei späteren Besuchen in Synagogengottesdiensten nicht, dass die Gegenwart des Geistes Gottes deutlich wahrnehmbar war. Was fehlt den Juden denn dann wirklich?

Seit meiner Begegnung mit dem gelebten Judentum,  den Büchern meines Schwiegervaters[2] und anderen, auch christlichen, judentumsverwurzelten und aufklärenden Schriften[3] tritt mir der Hochmut, das Versagen und die Schuld der christlichen Kirchen immer deutlicher vor Augen und macht mich nicht nur traurig, sondern wütend und erfüllt mich mit Scham über die Jahrtausende lange Verblendung und die fatale Bereitschaft vieler Kirchenanhänger, die Historie nicht anzuschauen und die kirchliche Lehre nicht zu hinterfragen.

Bevor ich mit meinen Reflexionen und persönlichen Erfahrungen weiter ins Detail gehe, möchte ich darauf hinweisen, dass mir viele gute Verlautbarung einzelner evangelischer Landeskirchen sowie protestantischer wie katholischer Theologen zum Thema der christlichen Schuld an den Juden bekannt sind sowie wertvolle Aktivitäten einzelner, die sich darum bemühen, das Lernen von Juden in ihren Gemeinden und Wirkungsfeldern zu praktizieren und somit aktiv ihre Gemeindeglieder am reichen Wissen der jüdischen Wurzel teilhaben zu lassen. Als einen dieser wertvollen Aktivitäten möchte ich „Gespräch zwischen Christen und Juden“ der Landeskirche in Württemberg nennen, geleitet von unserem geschätzten Freund Dr. Michael Volkmann, der mir auch zu diesem Text ein hilfreicher Berater war. (http://www.agwege.de/)

Trotzdem ist es mir ein Bedürfnis, diesen kritischen Text zu schreiben, weil meine Erfahrung bis heute zeigt, welch großes Unverständnis noch immer an der kirchlichen Basis, bei manchen Menschen mit einem zugegebenermaßen bewundernswertem Glauben und in unseren Schulen – selbst bei aktuell ganz jungen Schüler/innen, also bei ihren Lehrer/innen – herrscht. Ich werde noch Beispiele nennen.

Während eines Winterurlaubs in Israel las ich eine kleine Broschüre über die Ersatztheologie[4]. Auf nur 72 Seiten ist eindrücklich und verständlich erklärt, was bekannte Theologen ausführlich erforscht haben. Wie grausam und überheblich trennten sich die frühen Kirchenväter von ihren jüdischen Wurzeln, vom Glauben und von der Identität ihres jüdischen Erlösers. Sie degradierten ihre jüdischen Brüder und Schwestern zu niederen, gewalttätigen, von Gott verfluchten Kreaturen. Sie zogen die heiligen jüdischen Schriften, Feste und Gebete in den Schmutz und erlebten sich als Gottes gehorsame Vollstrecker an den in ihren Augen von Gott verlassenen und verstoßenen Juden.

Im Konzil von Nicäa unter Kaiser Konstantin entschied man sich für die Trinitätslehre, um die nicht von der Gottheit Jesu überzeugten, und damit einer jüdischen Sicht näher stehenden Arianer  mundtot machen zu können. Man entschied sich für den Sonntag als wöchentlichen Ruhetag anstelle des Schabbats und legte für das Osterfest eine Berechnung zugrunde, die möglichst nicht mit dem jüdischen Pessachfest kollidieren sollte. Alle diese Entscheidungen dienten der bewussten Abkehr von der Mutterreligion Judentum. Schnell brannten Scheiterhaufen für Ketzer und Juden. Schnell gab es Juden ausgrenzende und entrechtende Gesetze. Juden, die eher gezwungen als freiwillig zum Christentum konvertierten, mussten allen jüdischen Ritualen, Festen und Gebeten radikal absagen. Aus dem so genannten Alten Testament wies man alle Flüche den Juden zu, die Segnungen rissen die Christen an sich. Sie sahen sich als das neue, erwählte Gottesvolk an der Stelle Israels.

Wie beschämend, dass wir Christen an solchen, aus menschlicher Hybris entstandenen, gotteslästerlichen Entscheidungen, die bis zur Judenvernichtung sogar  in Deutschland, dem Land der Dichter und Denker, führten, festhalten wie an heiligen Kühen.

Die Nazis verstanden sich auf dieser kirchengeschichtlichen Grundlage zu Recht als Erfüller kirchlicher und göttlicher Anliegen, weshalb Hitler selbst wie ein Messias empfangen und verehrt wurde. Alle Formen der nationalsozialistischen Judenpogrome, von der Missachtung über die Entrechtung bis zum Massenmord kommen bereits in der langen Kirchengeschichte vor. Sie begannen nicht erst bei Luther und endeten nicht bei ihm. Judenfeindschaft findet sich in den heutigen Gesellschaften noch immer, und wenn sie sich in der Aberkennung des Rechtes der Juden auf das Land Israel zeigt, das Gott seinem Volk für immer versprochen hat – unabhängig von den Vorstellungen der Größe des heutigen Staates Israel. Diese Aberkennung beruht auf der Überzeugung, Gott habe sein Volk verstoßen und enterbt.

Im Stuttgarter Schuldbekenntnis nach der Katastrophe von Auschwitz formulierten die Verfasser:
„Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.[5]

Das gilt bis heute, denn wo ist dieses Erkennen ins Bewusstsein der Basis vorgedrungen? Bis heute durchschauen viele Christen diese Zusammenhänge nicht, halten an den durch menschliche Fehlentscheidungen entstandenen Traditionen fest, als hätte Gott sie uns persönlich offenbart wie einst die Tora den Juden am Berg Sinai.  Dabei vermischte sich durch die Abkehr von der Wurzel viel Heidentum mit der ursprünglich jüdischen Lehre, die dann zur christlichen wurde. Lieber kreieren wir fantastische und aufwendige Erklärungen für christliche Dogmen und Überzeugungen, die weder verstehbar noch erklärbar sind und sehen uns dann als die wahren Gläubigen und Erleuchteten. Die Auseinandersetzung mit den jüdischen Wurzeln des Neuen Testaments macht nicht wenigen Menschen Angst, da sie spüren, dass Umdenken und Veränderung anstehen, dass Umkehr, Schuldbekenntnis und Dank gegenüber Juden unumgänglich sind.

Seit 2000 Jahren tragen wir Christen die Binde vor den Augen, leiden unter dem berühmten Auge, in dem der Balken steckt. Aber diesen Zustand projizierten wir ebenso lange auf die von Gott erwählte und geliebte Wurzel Israel, vertreten durch die zerstreute Judenheit in der ganzen Welt, die Segen, Heil und Entwicklung in die von ihnen bewohnten Orte brachte. Sie suchte der Stadt Bestes, in die Gott sie gestellt hatte, wie es ihnen der Prophet Jeremia bereits im 7. vorchristlichen Jahrhundert auftrug (Jer.29, 7), nur um dafür gedemütigt, geschlagen und ermordet zu werden. Christen handelten über die Jahrhunderte so wie die Weingärtner  im Gleichnis des Matthäus, Kap. 21,33ff: Sie schlugen und töteten die Knechte des Weinbergbesitzers, nämlich Menschen mit göttlicher Einsicht, und töteten zuletzt sogar dessen Sohn, Gottes Sohn Israel! Mit trügerischen Lippen gehen sie und brüsten sich trotzdem der vorbildlichen Liebe.

Und zu diesen Verblendeten gehöre ich – auf dem Papier – bis heute. In der Freude, Gott und Glauben als 17-Jährige gefunden zu haben, hinterfragte ich die gehörte Lehre nicht kritisch, ließ ich mich verblenden und glaubte in christlich-schizophrener Weise, der Glaube der Juden sei defizitär und sie bedürften der Erlösung durch Jesus Christus. Teile der Ersatztheologie hatte auch ich gehört und verinnerlicht, auch wenn den Juden nicht mehr so scharf die Segnungen abgesprochen wurden wie im Ursprung dieser Ersatztheologie. Aber wir Christen sahen uns durch Jesus nun als die wahren Empfänger aller Segnungen und die Juden kannten Gott leider nicht als Vater. Da erforderte es doch meine Liebe zum Nächsten, für die Erlösung dieser armen Juden zu beten.

Dabei hätte ich schon damals lesen können, dass Gott sein Volk Israel, das Volk der Juden, längst erlöst hat und ihnen die ewige Erlösung zusagte, ohne sie an die Bedingung der Ankunft des Messias zu knüpfen. (vgl. unter vielen anderen Stellen Jes. 43,1; 44,23; 45,17) Ich hätte lesen und verstehen können, dass Jesus die Tora nicht abschafft und nicht ersetzt sehen will (Mt. 5,17, denn Gesetz muss Tora oder Weisung heißen), dass er vielmehr die alttestamentliche Erfüllung der Sozialethik von uns späteren Christen ebenso erwartet wie von den Juden, was nicht zuletzt das Gleichnis von den Böcken und Schafen zeigt (Mt 25,33ff). In ihm geht es um Mizwot, um die jüdischen Gebote der Menschlichkeit. Ich hätte verstehen können, dass Jesus Gott nur Vater nennen konnte, weil Juden ihn als solchen kannten und benannten. Nicht zuletzt hebt Paulus die Treue Gottes zu den Juden in Röm. 9-11 eindeutig – und für die jungen Gemeinden sogar warnend – hervor!

Rö.9, 4…die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen,
Rö.11,2 Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor erwählt hat.
Oder wie Martin Buber es eindrücklich im Angesicht des Doms zu Worms formulierte: „Ich habe da gestanden und habe alles selber erfahren, mir ist all der Tod widerfahren: all die Asche, all die Zerspelltheit, all der lautlose Jammer ist mein; aber der Bund ist mir nicht aufgekündigt worden. Ich liege am Boden, hingestürzt wie diese Steine. Aber gekündigt ist mir nicht. Der Dom ist, wie er ist. Der Friedhof ist, wie er ist. Aber gekündigt ist uns nicht worden.[6]

Warum lernte ich nicht bei meinen christlichen Lehrern, was Karl Barth eindrücklich formulierte: „Gast im Hause Israels ist die ganze heidenchristliche Gemeinde aller Zeiten und aller Länder. Aufgenommen in seine Erwählung und Berufung, lebt sie in der Gemeinschaft mit seinem König. Wie können sie da Israel missionieren wollen? Der durch so viele Kalamitäten seiner Geschichte hindurch – man muss schon sagen: wunderbar – bewahrte Jude … ist als solcher bis auf diese Tag das natürlich-geschichtliche Monument der Liebe und Treue Gottes; in konkreter Gestalt der Inbegriff des frei erwählten und begnadeten Menschen – als lebendiger Kommentar zum Alten Testament der einzige dafür schlagende außerbiblische Gottes-Beweis. Was hätten wir ihn zu lehren, was wir nicht viel mehr bei ihm zu lernen hätten?[7]

Es erfüllt mich mit Scham, dieser verblendeten Form des christlichen Glaubens und seinen entsprechenden Institutionen anzugehören und zu lange blind geglaubt statt nachgedacht und hinterfragt zu haben, wie es die Stuttgarter Pfarrer ebenso leidvoll erkannten. Ein solches Mitläufertum hätte mich unter andern Umständen unversehens zu einer Täterin werden lassen können. Vielleicht wurde ich das sogar durch unbedachte Äußerungen, durch mein Lehren und Bewerten anderer. Ich schäme mich für meine intolerante Haltung  in Unwissenheit, die Besserwissen vortäuschte.

Es erfüllt mich mit Dankbarkeit, dass Gott ein Gefühl für etwas Fehlendes und die Sehnsucht nach der Quelle, dem Ursprung, in mich gelegt hat. Und dass ER mir die Gnade erwies, mir diese Quelle zu eröffnen genau durch den Mann, vor dessen Literatur ich 30 Jahre zuvor gewarnt worden war. Gott hat Humor, indem er diese Ironie des Schicksals fügte und menschliches Denken ad absurdum führte.

Es erfüllt mich mit Demut, dass Juden schon seit vielen Jahren wieder bereit sind, in Deutschland zu leben, dass Israelis Deutschland besuchen, hier studieren und uns und die Welt mit ihrem Knowhow und ihren einzigartigen Forschungsergebnissen beschenken,  obwohl dieses kleine Land immer wieder an den Pranger gestellt und verunglimpft wird. Und es erfüllt mich mit Demut, dass Juden willens sind, mich und andere zu lehren, ihren Schatz mit uns zu teilen und uns so unserer Verblendung zu entreißen. Noch mehr aber, dass sie bereit sind, mich und andere nach Wahrheit hungernde Nichtjuden einmal in ihren ursprünglichen Bund und ihre reiche Glaubenstradition aufzunehmen. Mein einst unklares, religiöses Sehnen findet so durch göttliches und menschliches Vergeben zum Ziel. Darum ist es mein größter Wunsch geworden, Gottes Sprachrohr für diesen Weckruf sein zu dürfen.

Aber nicht nur dieses theologische Buch ließ mich aufmerken. Ohne große Erwartung an den Inhalt las ich „Frühstück mit Proust“[8]. Und dabei stieß ich auf Sätze, die zu dem oben Ausgedrückten ein passendes Zeitkolorit unserer Eltern und Großeltern geben, die unsere Nachkriegsgeneration prägten.

Es geht um eine Großmutter, geboren Anfang des 20. Jh. in der Arbeiterschicht, die als 80-Jährige ihrer 30jährigen Enkelin erklärt, warum sie ihre Leidenschaft für Literatur ihr Leben lang versteckte. Für ein Mädchen aus dieser Schicht, das gerade einmal die Grundschule besucht hatte, galt Lesen als unschicklich. „Lesen war damals ein Synonym für Faulheit. Die Wohlhabenden lasen, sie wussten nichts mit ihren Händen anzufangen.“ (S.33)

Wichtig ist, was ihre Enkelin zu begreifen beginnt, die über die Welt ihrer Großmutter nachdenkt:  „Es war die Welt der am schwersten zu bekämpfenden Zwänge, jener, die man in sich selbst ausmerzen musste: die fatalistische Ergebenheit in die Dummheit und das Elend, das man verdient zu haben glaubte.“ (S.34)

Diese Ergebenheit in vermeintlich verdientes Elend und Unbildung, die einem festen Glauben an den gütigen Gott und Seine guten Gaben widerspricht, lebten Christen in allen Lebensbereichen. Sie ließen sich größtenteils dumm halten und fernhalten von ihren Fähigkeiten und Begabungen, während jüdische Jungen und Mädchen lesen lernten. Sie verachteten Bildung in falscher Demut, die den Juden Lebensgrundlage war und ist. Vielmehr brüsteten sie sich mit dem handwerklichen Fleiß, der aber nicht durch intellektuelle Arbeit erweitert werden durfte. Dadurch blieben sie in Aberglauben, Vorurteilen und Glaube an Verleumdungen stecken. Einsichten sogar in einfachste Hygiene blieben ihnen lange verborgen, wodurch sie in Zeiten von Epidemien nicht geschützt waren. Den Juden aber, die durch ihre Reinheitsgebote weniger erkrankten, wurde Magie unterstellt oder gar feindliches Handeln. Götz Aly analysiert solche Differenzen zwischen Juden und Christen in seinem Buch „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“[9] und kommt u.a. zu dem Schluss, dass es viel Neid auf Juden gab, man sich aber selber nicht dem Aufwand der Bildung zuwenden wollte, zum Teil eben aus falsch verstandener Demut.

Wir Christen haben uns abgewendet von unserer jüdischen Wurzel und sie obendrein verachtet und versucht auszumerzen, damit sie uns nicht unseren eigenen Mangel vor Augen führen kann. Wir tasteten Gottes Augapfel unaufhörlich an, was Gott nicht ungestraft lassen wird.  (Sach.2,12) Wer aber so handelt und seine Wurzel ächtet, glaubt der Lüge und wird zweifelsohne jeglicher Manipulation erliegen und der weltlichen statt der göttlichen Macht unterworfen, so wie sich die frühe Kirche unter Kaiser Konstantin unterwerfen ließ. Und so, wie die Mehrheit der Deutschen sich von der Ideologie des Dritten Reichs verführen oder zu Mitläufern machen ließ.

Diese jahrhundertealte Decke vor den Augen von uns Christen sehe ich als Konsequenz für die Missachtung der jüdischen Mutterreligion, der geringsten Brüder und Schwestern Jesu. Daraus musste ebenso konsequent das Leid durch Unterdrückung durch kirchliche Institutionen  und Diktaturen folgen. Das jüdische Volk musste die Auswirkungen dieser göttlichen Konsequenz für die Schuld der Christen auf sich nehmen, das Opfer bieten, das endlich nach dem grausamsten Tiefpunkt der Verblendung in der Schoah ein erstes Entsetzen und eine vorsichtige Wende herbeiführte.

Wenn Gott den Christen in Seiner Barmherzigkeit nach 2000jähriger „Vergegnung“, wie Martin Buber sagt, die Möglichkeit zu Erkenntnis und Umkehr bietet und die einstigen Opfer sich als unsere Lehrer zur Verfügung stellen – wiederum gerade die, die ausgerottet werden sollten -, können wir Christen nur dankbar  und demütig diese Chance ergreifen, wie es vor der Zeitenwende schon der Prophet aussprach: Sach 8:23 „So spricht der HERR Zebaoth: Zu der Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Heiden einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir hören, daß Gott mit euch ist.“

Es ist mir schmerzlich bewusst, dass Generationen von Menschen vor uns oft keine Wahl zu freien Entscheidungen hatten. Viele waren Opfer der kirchlichen und weltlichen Machthaber. Trotzdem müssen wir konstatieren, dass es in allen Zeiten Menschen gab, die nachdachten oder sich stärker der Führung und Weisheit Gottes anvertrauten, um Wege der Lieblosigkeit und Gewalt in Ehrfurcht vor ihrem Schöpfer zu meiden. Als einen von ihnen möchte ich Johannes Reuchlin nennen, einen Zeitgenossen Martin Luthers, dessen Judenfreundlichkeit im Gegensatz zu dem Antisemitismus des gefeierten Reformators bekannt ist. Er war bekannter Hebraist und wandte sich gegen die Verbrennung jüdischer Bücher. In seinem Werk über die Kunst der Kabbalistik heißt es beispielsweise: „Gute Götter, ein Jude, von Juden geboren, ernährt, erzogen und unterwiesen, ein Volk, das überall von den Völkern als barbarisch, abergläubisch, gemein, verworfen und dem Glanz aller guten Wissenschaften abgeneigt angesehen wird – glaube mir, ich hätte ihn in meiner Sehnsucht diesem Mann gerne die ganze lange Nacht ins Antlitz gesehen und seinen Worten gelauscht, wenn nicht dieser unglückselige Sabbatabend dazwischen gekommen wäre.“[10]

Spätestens heute aber, im 21.Jh., haben wir alle Entscheidungsfreiheiten  und alle Möglichkeiten, Informationsquellen zu nutzen und zu lernen, zu diskutieren und zu kommunizieren. Besonders nach den Erfahrungen der Schoah sind wir nicht mehr blinde Opfer von christlichen und weltlichen Autoritäten, sondern in hohem Maße Verantwortliche. Es ist an der Zeit, die Angst vor dem Umdenken aufzugeben und neugierig zu sein auf die Fülle, die wir finden, wenn unser Christentum wieder durch seine jüdische Wurzel genährt wird. Es ist an der Zeit, dem Vorbild Jesu gemäß zu leben und zu handeln und allen Menschen, den Ebenbildern Gottes, Gutes zu tun und unsere Liebe zu schenken.

Wenn die Christenheit sich nicht besinnt, sich nicht abwendet von ihrem Hochmut und die jüdische Wurzel nicht endlich achtet und ehrt, wenn sie nicht an leidenden Menschen, unabhängig von Kultur oder Religion, gut machen will, worin sie 2000 Jahre lang versagt hat, wird Gott sie als wilden Ölzweig nicht verschonen, sondern gänzlich ausreißen. (Röm.11, 21) Nur das jüdische Volk hat die Zusage, dass es Bestand hat, und es existiert ca. 2000 Jahre länger als die Christen. Die lange Zeit der Verfluchung der Juden braucht ein intensives Bemühen der Liebe und des Segens für das Volk Gottes, ohne Hintergedanken – vor allem mit einer entschiedenen Absage an jegliche Form von Missionierungstätigkeit – und mit ehrlicher Lernbereitschaft.

Deutschland ist vor große Herausforderungen gestellt. Aber haben wir keine Angst vor den Fremden, sondern fürchten wir uns vor unserem erneuten Versagen. Nicht der Notleidende und Andersgläubige ist unser Feind, sondern unsere Angst und unser mangelndes Gottvertrauen.

Ich hoffe inständig, dass in unseren Kirchen sehr schnell und immer intensiver darüber nachgedacht wird, warum die weltweit kleinste Religionsgemeinschaft und der so kleine Staat Israel den Hass der Welt auf sich zieht, obwohl die Welt bereits durch die Bibel von den Juden beschenkt wurde, obwohl die Welt durch die Bildung und das Wissen von Juden in Medizin und technischer Entwicklung einen riesigen Fortschritt erleben durfte.

Ich hoffe inständig, dass Christen sich selbst überprüfen, wie sehr sie im Verborgenen noch infiziert sind von Vorurteilen gegen Juden, die angeblich die Weltmacht an sich reißen wollen und im Besitz des Geldes sind. Und ebenso ist es dringend notwendig festzustellen, dass die Bibelstellen mit judenfeindlichen Aussagen kein offenbartes Gotteswort sind, denn Jesus wurde nicht nur als Jude geboren, er starb auch als Jude und predigte sein Judentum. Das Neue Testament in seiner Entstehung  muss auch durch die Endredigierungen zur Zeit der Trennung von Kirche und Synagoge kritisch gesehen und nicht blind zitiert werden. Jesus und die Protagonisten des Neuen Testaments überwanden ihr Judentum nie!

Ich hoffe, dass uns heutigen, demokratischen Menschen auffällt, wie sehr wir immer noch und immer wieder auf Propaganda hereinfallen, insbesondere wenn sie gegen Israel gerichtet ist.

Fragen wir uns doch einmal selbstkritisch, wie viel Heil das Christentum wirklich in die Welt gebracht hat, wenn gerade durch diese Religion so viel Krieg, Verfolgung und Blutvergießen in die Welt kam. Sollte uns das nicht in eine tiefe, zuerst demütige und lernwillige Haltung bringen, bevor wir weiter verkünden, dass der christliche Jesus der Retter der Welt ist? Das haben wir Christen über 2000 Jahre nicht glaubwürdig genug bezeugt. Rolf Rendtorff ging sogar soweit, einen seiner berühmten Aufsätze mit der Frage zu betiteln: „Ist in Auschwitz das Christentum gestorben?“[11]

Gott vergebe uns unsere Blindheit, unseren blinden Gehorsam menschlichen Dogmen gegenüber und helfe uns zur Umkehr. Ein Christentum verstanden auf der Grundlage des Judentums wird an Kraft und Authentizität gewinnen.

Wissend, dass es im 2. Vatikanischen Konzil und in manchen Einzelsynoden Evangelischer Kirchen Bemühungen um das Bekenntnis von Schuld und die Heilung der Beziehung zum Judentum gibt, ist es mir jedoch ein Anliegen, dass dieses Denken durch Predigt und Lehre intensiver an die Basis der Kirchenbesucher sowie Schülerinnen und Schüler weitergegeben wird. Es darf nicht sein, dass mir aktuell Schüler mitteilen, sie hätten jetzt, innerhalb des letzten Jahres, den Unterschied zwischen AT und NT wie folgt gelernt: „Im AT ist Gott böse und im NT ist er lieb.“ Oder dass sie immer noch die Mär „vom Saulus zum Paulus“ lernen, obwohl in Apg. 13,9 „Saulus aber, der auch Paulus heißt,…“ zu lesen ist. Die Namensvergabe unter Diasporajuden mit einem weltlichen und einem hebräischen Namen ist bis heute gleich geblieben.

Dankbar, dass ich mit meinem Anliegen nicht alleine stehe, möchte ich das Zitat des großen Papstes Johannes XXIII. einfügen, ein Gebet, das er kurz vor seinem Tod verfasste:

„Wir erkennen heute, daß viele Jahrhunderte der Blindheit unsere Augen verhüllt haben, so daß wir die Schönheit Deines auserwählten Volkes nicht mehr sehen und in seinem Gesicht nicht mehr die Züge unseres erstgeborenen Bruders wiedererkennen. Wir erkennen, daß ein Kainsmal auf unserer Stirn steht. Im Laufe der Jahrhunderte hat unser Bruder Abel in dem Blute gelegen, das wir vergossen, und er hat Tränen geweint, die wir verursacht haben, weil wir Deine Liebe vergaßen. Vergib uns den Fluch, den wir zu unrecht an den Namen der Juden hefteten. Vergib uns, daß wir Dich in ihrem Fleische zum zweitenmal ans Kreuz schlugen. Denn wir wußten nicht, was wir taten.“ [12]

Ich wünsche mir, dass zu einer solchen Klarheit auch anlässlich der Feierlichkeiten des Lutherjahres gefunden wird, damit das spirituelle Gift, das dem Protestantismus durch die Hetzschriften des späten Luther zugrunde liegt, geheilt werden kann.

Wenn wir abschließend von der Binde reden, die Paulus in 2. Kor.3, 14-16 über der Tora sah, so können wir fragen, warum „die Juden die Decke vor den Augen tragen“.  Einer unserer Freunde sagte einmal, sie trügen darum die Decke, um das Unrecht und die Unmenschlichkeit der Christen, der leiblichen Geschwister des Juden Jesus, nicht mit ansehen zu müssen. So sei das – ähnlich dem über viele Jahrhunderte missverstandenen Kainszeichen – ist es kein Zeichen der Strafe, sondern des göttlichen Schutzes. Erst wenn Christen aufhören, den jüdischen Rabbi Jesus gegen seine geliebten jüdischen Geschwister zu missbrauchen, wird Gott ihnen diesen Schutzschleier nehmen, weil er dann nicht mehr Not-wendend sein wird und alle Menschen Gottes strahlende Liebe erkennen können. In diesem Sinne spricht Mutter Basilea Schlink schon vor 60 Jahren in ergreifendem Werk[13] davon, dass Christen sich schämen müssen ob ihrer eigenen Binde vor den Augen, mit der sie die jesuanische, bedingungslose  Nächstenliebe missverstanden und die Schönheit Jesu verstellten, vielmehr durch unterlassene Liebe Juden die Binde vor die Augen legten, sodass Worte Jesu nur verletzten, aber nicht überzeugten.

Weinheim, im Mai 2016


[1] Mein Schwiegervater prägte den Begriff und benutzte ihn in seiner Literatur für die Anhänger Jesu, die noch keine Christen waren. Auch heutigen Christen wünschte er, Jesuaner zu werden, um Jesus durch den Abbau geschichtlichen Überbaus wieder näher zu kommen. Z.B. „Auferstehung: Ein jüdisches Glaubenserlebnis“, LIT-Verlag, 2010, S.81
[2] U.a. Lapide, Pinchas, Auferstehung. Ein jüdisches Glaubenserlebnis, Stuttgart/München 19834
                
Lapide, Pinchas, Die Bergpredigt. Utopie oder Programm?, Mainz 19833
[3] Bivin, D./ Blizzard jr., R, Was hat Jesus wirklich gesagt? Leuchter Edition 20063
Vierteljährliche Fachzeitschrift der Jüdisch-Christlichen Forschung und Versöhnung – JCFV, Schoresch, Schweiz,  Schmid-Grether, Susanne, Gleich einem tiefen Brunnen voll Wasser …, JCF-Schoresch 20032
[4] White, Derek C., Die Ersatztheologie,  Christliche Freunde Israels
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Stuttgarter_Schuldbekenntnis
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Heiliger_Sand    oder:
http://www.zeitspuren.info/j%C3%BCdische-friedh%C3%B6fe/die-gro%C3%9Fenstadtfriedh%C3%B6fe/j%C3%BCdischer-friedhof-worms/
[7] Die kirchliche Dogmatik – Band 4,Ausgabe 3,Teil 2 – Seite 1005, Karl Barth · 1945 in: Pinchas Lapide, Ein Prophet für San Nicandro, M. Grünewald-Verlag 1986, S. 216
[8] Deghelt, Frederique, Frühstück mit Proust, 1. Auflage
[9] Aly, Götz, Warum die Deutschen? Warum die Juden?, Frankfurt/M. 2011
[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Reuchlin#Herkunft
[11] Vortrag gehalten auf einer Tagung in Stuttgart im Mai 1995, an der Elie Wiesel beteiligt war.
© 1996 Prof. Dr. Rolf Rendtorff. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verfassers. http://www.jcrelations.net/de/?item=893
[12] (https://de.wikipedia.org/wiki/Kirchen_und_Judentum_nach_1945#cite_ref-5)
[13] Schlink, Basilea; Israel, mein Volk, Verlag Ev. Marienschwesternschaft, Darmstadt-Eberstadt, 1958, S.43-44