Jom Kippur 2019 – Ein Tag zwischen Rischon LeZion  und Halle

Den gestrigen Jom Kippur-Tag 5780 haben wir in Rishon LeZion verbracht und hier von dem versuchten Anschlag auf die Synagoge in Halle gehört. Wir sind sehr schockiert und traurig. Den Worten unserer Politiker kann ich keinen Glauben schenken, denn sie wiederholen sich nach jeder Tat, ohne dass sich etwas maßgeblich ändert.
Yuval und ich sprachen gestern über Jom Kippur und das Ringen um Vergebung. Ausgerechnet an diesem hochheiligen Feiertag fand dieser perfide Anschlag in Halle statt, was für mich den abgrundtiefen Hass und die Verachtung des Täters dokumentiert. Die Erinnerung an den Jom-Kippur-Krieg 1973, der die Menschen hier in Israel tief traumatisierte, wird geweckt.

Dass ein Mensch solche Pläne schmiedet, hat für mich damit zu tun, dass die Mehrheit der Christen durch die tradierte Kirchenlehre nicht versteht, warum Juden einen Tag lang unter Kasteiung um die Vergebung Gottes ringen, sodass es noch immer das Bild vom zurückgeblieben Juden in der besonders christlich geprägten Gesellschaft gibt. Oder das Bild vom Weltjudentum. Auch dieses Vorurteil geht weit zurück auf den Neid der Nichtjuden auf ein von Gott erwähltes Volk. Dazu der Neid, dass dieses Volk erfolgreich ist, seit mehr als 5000 Jahren existiert, während so viele Völker in der Historie versanken. Doch bis heute ist es populär und weithin „unverdächtig“ geblieben, weiterhin die jüdische Religion mitleidvoll mit der christlichen zu vergleichen.
„Warum macht ihr Juden es euch so schwer? Warum nehmt ihr nicht Jesus an? Er hat doch alles für uns getan. Dann braucht ihr keinen Jom Kippur mehr.“
Aber meinte Jesus das wirklich so, dass ein Christ nichts mehr tun muss? Sagte nicht auch Jesus: „Tut Buße! denn das Reich der Himmel ist genaht.“ (Mt 3:2; Mt. 4,17)?

Sagte er nicht ebenso: Mt.7,21 „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr! wird in das Reich der Himmel kommen, sondern wer den Willen meines Vaters in den Himmeln tut.  22Viele werden an jenem Tage zu mir sagen: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen als Propheten geredet und in deinem Namen Dämonen ausgetrieben und in deinem Namen viele Machttaten vollbracht? 23Und dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch nie gekannt; «weichet von mir, die ihr begeht, was wider das Gesetz (die Tora) ist».“
Kommt ein Christ ohne Umkehr, ohne Buße aus, wie die Tora sie fordert? Nimmt Jesus ihm die Einsicht und die Verantwortung zur Umkehr ab?

Mein Eindruck ist, dass Christen Jesus hier nicht ernst genug nehmen. Mit dem Vergleich der ehernen Schlange, den Jesus im Johannesevangelium liefert, knüpft er an den Wunsch Gottes an, uns von unserem engen, nur auf uns fokussierten Blick zu befreien. Er möchte uns befreien zum Blick auf ihn, den Erlöser, den Retter, den liebenden und vergebenden Vater. Er möchte uns zeigen, dass wir seine Liebe nicht durch Taten oder Opfer erkaufen müssen, aber er will unser eigenes Tun. Und wenn es nur der Blick nach oben ist, weg von der eigenen Nabelschau.

Joh.3,14Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöhte, so muss der Sohn des Menschen erhöht werden, 
15damit jeder, der glaubt, in ihm ewiges Leben habe.

 Da Christen die Stelle der Erhöhung Jesu ausschließlich als Verweis auf seine alleinige Erlösungstat verstanden wissen wollen, verweise ich darauf, wie Jesu Predigten in seiner Zeit beim jüdischen Volk mit Sicherheit jüdisch verstanden wurden. Das ewige Leben bedeutet im hebräischen und rabbinischen Denken zurzeit Jesu „Olam haBa“ = die kommende, die zukünftige Welt. Ein Verständnis davon gibt uns ein Zitat aus den Pirke Avot, den Sprüchen der Väter, Kap.4, 21:
„Rabbi Jakob sagte: Diese Welt ist gleichsam der Vorhof der künftigen Welt. Bereite dich im Vorhof darauf vor, daß du in den Speisesaal eintreten kannst!“

Oder Kap.6, 7 „Groß ist die Tora (= Weisung).
Sie gibt seinem Befolger Leben in dieser und der künftigen Welt. Es heißt ja (Spr 4, 22): „Sie sind Leben für die, die sie finden, und bringen ihrem ganzen Leibe Heilung.“
Ferner heißt es (Spr 3, 8): „Heilung ist für deinen Leib und für deine Glieder Erquickung.“
Ferner heißt es (Spr 3, 18): „Sie ist ein Lebensbaum für alle, die sie ergreifen, und selig sind, die sie erfassen.“
Ferner (Spr 1, 19): „Sie ist deinem Haupt eine kostbare Zier und deinem Hals ein Schmuck.“
Ferner (Spr 4, 9): „Sie verleiht deinem Haupt einen herrlichen Kranz und ziert dich mit strahlender Krone.“
Ferner (Spr 3, 16): „Langes Leben ist in ihrer Rechten und in ihrer Linken Reichtum und Ehre.“ Endlich (Spr 3, 2): „Viele Lebenstage und Jahre fügt sie dir hinzu.““

Diese Welt soll den Menschen auf die Welt, in der er mit Gott zusammentreffen wird, vorbereiten. Dazu dient das weise Wort Gottes als Leitfaden, als Wegeweiser.

Die an ihn glauben, sollen dieses Leben bekommen. An wen sollen sie glauben? An Gott? An Jesus? Wenn Jesus Mose zitiert, bekommen wir auch hier die Antwort:

Ex.14,31 „Als Israel sah, wie gewaltig sich die Hand des Herrn an den Ägyptern erwiesen hatte, da fürchtete das Volk den Herrn, und sie glaubten an den Herrn und an seinen Knecht Mose.“ An den Gesandten Gottes glauben ist also auch hier ein geläufiger Ausdruck, ohne dass Gott selbst damit hintan gestellt würde. Selbst der Glaube an Mose oder an Jesus ersetzt nicht den Glauben an Gott, der allein seine Gesandten befähigt.

Wie ähnlich die Predigt Jesu den Worten des Tanach ist, möge eine andere Stelle exemplarisch darlegen:

Jer.30, 10: Darum fürchte du dich nicht, mein Knecht Jakob, spricht der HERR, und entsetze dich nicht Israel. Denn siehe, ich will dir helfen aus fernen Landen und deinen Samen aus dem Lande des Gefängnisses, dass Jakob soll wiederkommen, in Frieden leben und Genüge haben, und niemand soll ihn schrecken.
Joh.10, 10: „Ich bin gekommen, dass sie das Leben und volle Genüge haben sollen.“

Jesu Auftrag ist es, nur das in die Welt und zu Gottes Volk zu bringen, was Gott bereits versprochen hat, dass ER selbst es schenkt. Aber ER braucht menschliche Hände und Füße, menschliche Stimme in dieser materiellen Welt.

Auch ein Christ muss immer wieder aktiv umkehren. In der katholischen Kirche gibt es dazu die Beichte, in der evangelischen Kirche den jährlichen Buß- und Bettag. Es wird also sehr wohl verstanden, dass Umkehr praktiziert werden muss. Das kann nicht nur durch Worte geschehen, sondern muss gleichzeitig durch Taten sichtbar werden.
Jesus sagte in Mt.5,23 „Wenn du nun deine Opfergabe zum Altar bringst und dort eingedenk wirst, dass dein Bruder etwas wider dich hat, 24 so lass deine Gabe dort vor dem Altar und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und bring deine Gabe dar!“
Gemäß dieser Tradition Jesu gehört genauso zu Jom Kippur dazu, sich vor dem Festtag mit seinen Mitmenschen zu versöhnen. Die zehn Tage nach Rosch haSchana sollen ermöglichen, eine Lebensbilanz zu ziehen, in sich zu gehen und so mit sich selbst ins Gericht zu gehen.

Auch im Neuen Testament lesen wir bei Paulus in 1.Kor.11, 31: „Wenn wir jedoch mit uns selbst ins Gericht gingen, würden wir nicht gerichtet.“ Das heißt doch: Ziehe Bilanz und ordne dein Leben; tue Buße. Diese Aufgabe nimmt Jesus keinem Christen ab, denn die Verantwortung für das eigene Leben und das eigene Handeln bleibt sehr wohl bestehen.
Der Jude Jesus sagte in Mt.5, 17 „Meinet nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz (Tora) oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. 18Denn wahrlich, ich sage euch: Bis der Himmel und die Erde vergehen, wird nicht ein einziges Jota oder Strichlein vom Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist. 19Wer nun eins dieser kleinsten Gebote auflöst und die Menschen so lehrt, wird der Kleinste heißen im Reich der Himmel. Wer sie aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Reich der Himmel.“

Er erklärte, er sei gekommen, die Tora aufzurichten und nicht, um sie abzuschaffen. Das Wort „aufzurichten“ wird mit „erfüllen“ falsch übersetzt und somit falsch interpretiert. Da Jesus sein Leben lang Juden blieb, schaffte er nirgends die Tora, die Opfer oder Jom Kippur ab.

Nach der Zerstörung des Tempels besann sich das rabbinische Judentum darauf, seinen Glauben ohne Opfer leben zu können. In der hebräischen Bibel gibt es viele Hinweise darauf, dass Gott die Beschneidung unserer Herzen möchte, dass er auf Opfer verzichtet, die ohne die richtige Herzenshaltung praktiziert werden. Auch in der babylonischen Gefangenschaft fehlte dem Volk Gottes das zentrale Heiligtum in Jerusalem. Es gab also durchaus die Erfahrung, den Glauben auch ohne dieses praktizieren zu können. Somit wurden auch im Judentum Opfer bereits damals obsolet und durch Gebete ersetzt. Mit diesen Gebeten kommt der Jude Gott, seinem Vater, bis heute nahe.

Ps 51:18 „Denn Schlachtopfer begehrst du nicht, / und gäbe ich Brandopfer, es gefiele dir nicht.“ / Ps. 40,7; 50,13; Jes. 1,11Jer. 6,20Amos 5,22Mi. 6,7
Ps 51:19 „Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerbrochener Geist, / ein zerschlagenes Herz wirst du, o Gott, nicht verachten.“ Ps. 34,19Jes. 57,15; 66,2.

Diese Nähe zu Gott wollte der Jude Jesus für seine leiblichen Brüder und Schwestern bei allen Diskussionen um die Verschriftlichung der Mischna neu fokussieren. Er als Pharisäer wollte in den Diskussionen mit seinen Pharisäerkollegen hervorheben, dass Gott sein Volk liebt und sucht und sich nichts anderes wünscht, als wiederum von seinem Volk gesucht zu werden. Bei Jesus gibt es durchaus eine Strenge in der Einhaltung von Geboten, die in der Bergpredigt oder Berglehre vorzufinden ist, aber genauso eine Erleichterung für verschiedene Gebote. Pinchas Lapide erklärte in seinen Büchern und Vorträgen, dass sich in Jesu Lehre die Schulen Schamai‘s  und Hillel’s vereinen, wobei ersterer für mehr Strenge, der Zweite für Erleichterung in der Gebotseinhaltung steht. Im Judentum gibt es bis heute viele Facetten, was nicht selten zu Spannungen führt wie zwischen den christlichen Denominationen.

Was will ich mit diesen Ausführungen erklären? Mir ist wichtig, dass z.B. ein Tag wie Jom Kippur etwas ist, wovon Christen lernen können. Ihre Erlösung enthebt sie nicht ihrer Verantwortung, immer wieder umzukehren und Buße zu tun. Buße ist auch da nötig, wo Christen hochmütig auf die angeblich unerlösten Juden herabschauen und meinen, sie hätten durch Jesu Tod Vergebung und Erlösung sicher in der Tasche. Dabei besteht aber darin der Riss zwischen Christen und Juden, dass sie durch diesen Hochmut, der ihnen natürlich nicht bewusst ist, der Glaubenspraxis der Juden Verachtung entgegen bringen. Das geschieht im Unbewussten, kann aber auf beiden Seiten viel Heilung bringen, wenn man als Christ diesen Schmerz zulässt.

Wer immer sich Gott nähert, hat es in der Tat in der Tasche, von Gott gehört und geliebt zu werden. Ohne die Verbreitung des Evangeliums von Jesus, das hinausging in alle Welt, wäre den ursprünglich heidnischen Europäern dieser Zugang zu dem einen und liebenden Gott verwehrt geblieben. Insofern brachte Jesus die Heiden auf den Weg zum Vater. Und wer damals das Leben Jesu, seine Verbundenheit mit Gott, seine Liebe zu den Menschen und seine guten Taten zum Vorbild nahm, konnte ebenfalls in der Nachahmung dieses großen Mannes Gott finden. Das ist Erlösung, wenn wir den Zugang zu einem Gott haben, der unserem Leben Sinn gibt, uns Wegweisungen für dieses Abenteuer an die Hand gibt und uns Verfehlungen auf diesem Weg vergibt, uns erneuert und Mut zum Neuanfang schenkt. Das tut der Gott der Juden. Das tut er für uns Juden an jedem Jom Kippur und an jedem Tag, an dem wir umkehren wollen. Nichts hat hier das Christentum dem Judentum voraus.

Der Anschlag in Halle wurde an einem Jom Kippur verübt, dem höchsten jüdischen Feiertag. ABER Gott hat ihn vereitelt. Nichtjuden wurden verletzt und getötet. Das ist tragisch, doch ist für mich das Geschehen an Jom Kippur in Halle wie ein Warnruf bei der aktuellen Indifferenz in Politik, Kirche und Gesellschaft: Was gegen Juden gerichtet ist, kann sich plötzlich auch gegen Nichtjuden richten.

Politiker rufen auf zur Solidarität mit den Juden, aber was wird an Taten folgen? Wie kann es zu einem Umdenken bezüglich antisemitischen Denkens in Deutschland kommen? Was müssen Politiker tun – und was müssen Kirchen tun?

Von Politikern erwarte ich mehr Konsequenz im Umgang mit antisemitischen Straftaten. Sie werden zu oft verharmlost, nicht benannt oder zu gering bestraft. Ich erwarte ebenso ein klares und tatkräftiges Bekenntnis zu Israel, indem bei den Abstimmungen im UN-Sicherheitsrat deutlich für Israel gestimmt wird und es nicht immer wieder einseitig an den Pranger gestellt wird. Und auf deutschen Straßen dürfen keine Demonstrationen stattfinden, die zur Vernichtung Israels aufrufen. Zudem muss Hass und Hetze gegen Juden und Israel im Internet geahndet und hart bestraft werden. Es gibt Meinungsäußerungen, die mit Meinungsfreiheit nichts zu tun haben, solche, mit denen auch unsere Demonstrationsfreiheit nicht missbraucht werden darf. Oder ist die Sicherheit Israels und die der Juden doch nicht wirklich Staatsräson Deutschlands? Handelt es sich 74 Jahre nach der Schoah nur um ein Feigenblatt?

Die Kirchen aller Konfessionen haben die wichtige Aufgabe und Verantwortung, in die Gesellschaft hineinzuwirken, indem sie konsequent ihren jüdischen Wurzeln nachgehen, sie lehren und aufmerksam sind auch gegenüber verstecktem Antisemitismus.

Christlicher Glaube, der den jüdischen Glauben für defizitär hält, ist antisemitisch. Die Kirchen haben sich offiziell von der Judenmission verabschiedet, doch gibt es noch genug Denominationen, die sich dieser Entscheidung verweigern. Dort fehlt die Einsicht, dass sie ihren gesamten christlichen Glauben nur dem Judentum verdanken, und dass dieser angeblich christliche Glaube im Grunde genommen urjüdisch ist. Was hätte Jesus anderes lehren können, als die Einhaltung der jüdischen Schrift! Wann immer das Neue Testament von der Schrift spricht, ist selbstverständlich nur der Tanach gemeint.

2.Tim.3, 16 „Jede von Gottes Geist eingegebene Schrift ist auch nütze zur Lehre, zur Überführung (des Sünders), zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, 17damit der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werke völlig ausgerüstet.“ Selbstverständlich meint das den Tanach, da es etwas anderes für Paulus nicht gab. Die Briefschreiber kannten weder Evangelien noch Neues Testament.

Ich kann die Angst, die einige ehrliche Christen sogar aussprechen, sehr gut verstehen, denn ich habe diese Veränderung als ehemalige Christin an mir selbst erlebt, jedoch schenkt eine Beschäftigung mit den jüdischen Wurzeln und dem Judentum einen großen Reichtum auch für gläubige Christen. Niemand wird durch dieses Lernen zum Juden, es sei denn, dass er durch diesen erweiterten Blick erkennt, dass sein Glaube schon immer jüdisch war. Trotzdem bleibt er Christ. Und als Christ wird er natürlich seinen Glauben lieben, aber er kann es in Liebe und Respekt gegenüber den jüdischen Brüdern und Schwestern.

Diese Umkehr und Buße im Christentum hin zur Quelle und weg von den Vorurteilen gegenüber der jüdischen Mutterreligion kann allein einem weiteren Ansteigen des Antisemitismus vorbeugen. Diese Umkehr wird eine neue Haltung, auch eine neue Gebetshaltung, hervorbringen und unsere Gesellschaft positiv beeinflussen. Ebenso bin ich davon überzeugt, dass eine Rückkehr zu den jüdischen Wurzeln dem eingepfropften „Christen-Baum“ neues Leben einflößen wird. Manche Ungereimtheit und manche Unglaubwürdigkeit wird ausgeräumt werden können.

In diesem Jom Kippur haben wir in der Synagoge den Text von Jesaja 57,14 – 58,14 gelesen, in dem Gott seinem Volk verspricht, es von seinen Sünden zu heilen. Dieses Bild der Heilung bewegt mich sehr, denn es zeigt, warum die Vergebung der Sünden einen so großen Stellenwert hat. Unsere Sünde verletzt Gott, denn er hat uns perfekt geschaffen und uns eine perfekte Welt geschenkt. Wir demonstrieren jedoch, dass Gott sich wohl geirrt haben muss mit dieser seiner ‚Krone der Schöpfung‘. Wir ehren ihn nicht mit unserem Fehlverhalten. Zum anderen verletzen wir unsere Mitmenschen, denen wir vielleicht sogar den Weg zu Gott, unserem Vater, erschweren. Und nicht zuletzt verletzen wir uns selbst. Sünde trennt uns von uns selbst, von unseren Mitmenschen, von Gott. Diese Isolation fügt uns Schaden zu.

Wenn Gott uns also die Möglichkeit schenkt, regelmäßig unser Leben zu bilanzieren, es neu zu ordnen und umzukehren, dann erfahren wir Heilung. Ohne diese Möglichkeit der Bilanzierung und der eigenen kritischen Innenschau werden wir nicht die Einsicht bekommen, die zu dieser Umkehr, zu einer Neuausrichtung nötig ist. Gott sieht dabei auf unser Herz, nicht auf die Äußerlichkeiten. Er möchte, dass wir mit uns selbst in diesen Schalom kommen, in diese Ganzheit mit uns selbst, mit unseren Mitmenschen, mit Gott.

Würde Jesus diesen Weg der inneren Einkehr für unnötig erklären, nähme er den Gläubigen eine große Möglichkeit zu Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis.

Ich wünsche mir und allen Christen, dass sie die Spiritualität dieses Jom Kippur in ihre Bußtage oder Bußzeiten integrieren.

Ich zitiere im Anschluss meine zweite Email an MDB Hermann Groehe, mit dem ich nach der ersten Mail ein ausführliches Telefonat führte. Er ist mit Israel sehr vertraut und bereist es häufig, was ich ihm zugutehalten möchte.

Sehr geehrter Herr Groehe,

seit unserem ausführlichen Telefonat liegt es mir auf dem Herzen, mich nochmals bei Ihnen zu bedanken für die Zeit, die Sie sich genommen haben. Solche Gespräche mit einem Menschen, der zur Regierungspartei gehört und dort Einfluss nehmen kann, führt man nicht alle Tage. Und ich möchte aufrichtig Ihnen gegenüber sowie gegenüber Frau Merkel meine tiefe Wertschätzung und Hochachtung ausdrücken, eine so komplexe Aufgabe wie die Führung unserer Bundesrepublik zu leisten. Im Allgemeinen schätzen mein Mann und ich an Frau Merkel, dass sie nicht einfach in die Kameras plappert, sondern eher zurückhaltend und besonnen reagiert. Das ist vielleicht nicht populär, aber in vielen Situationen mit Sicherheit weiser als unbedachtes Reden.

Nun schreibe ich Ihnen nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle, von dem wir am Ende von Jom Kippur in Rishon LeZion erfuhren. Sicher kennen Sie die Reaktionen in den Medien und leider muss ich mich den Stimmen anschließen, die sagen: Den Beileidsbekundungen unserer Politiker glaube ich nicht mehr. Zu viel geschieht in unserem Land, das so zwiespältig, so unklar ist, dass zunehmende Feindlichkeiten nicht wirklich überraschen. Ich leite Ihnen nur einen Artikel weiter, der meine Ansichten auch auf die Ursachen und meine Gefühle sehr gut zusammenfasst, es gäbe Dutzende:

https://www.tichyseinblick.de/tichys-einblick/deutsche-juden-und-israel/

Wenn es in einer häuslichen Gemeinschaft keine klaren Regeln und Konsequenzen gibt, dann ist kein Zusammenleben möglich. Das gilt erst Recht für einen Staat. Es muss möglich sein, zwischen Meinungsfreiheit und Hetze zu unterscheiden und darum bestimmte Demonstrationen nicht zu erlauben. Aufrufe zur Vernichtung Israels haben auf deutschen Straßen keinen Platz!!!! Und da die Veranstalter und ihre Hintermänner sowie der Anlass beispielsweise eines Nakbar-Tages bekannt sind, kann sich hier niemand herausreden, dass die Gewaltaufrufe und Flaggenverbrennungen nicht vorhersehbar und damit verbietbar waren!!!! Wem auch immer die Flagge gehört, es geht um die dahinterstehende Absicht, den Hass auf Israel zu schüren und die Vernichtung Israels zu propagieren. Ist das nicht auch unserer Kanzlerin und den Gesetzgebern einleuchtend, dass diese Freiheit im eklatanten Widerspruch zur Sicherheit Israels als Staatsräson steht? All diese Widersprüche und die Doppelmoral sind im obigen Artikel sehr gut dargestellt. Dazu muss ich nichts hinzufügen.

Ich möchte jedoch noch etwas zum Völkerrecht sagen und dem angeblichen Verstoß Israels gegen dieses. Ich habe mich im Internet belesen und auch an anderer Stelle (leider habe ich den Artikel nicht mehr) erfahren, dass dieser Vorwurf des Völkerrechtsverstoßes das Westjordanland betreffend gar nicht so eindeutig ist, wie Sie es darlegten. Das liegt daran, dass dieses Völkerrecht so bindend gar nicht ist, was uns Herr Putin eindrücklich vorgeführt hat, der hier wohl deutlicher als Israel das Völkerrecht gebrochen hat. Zum anderen war dieses Gebiet vorher von Jordanien besetzt. Aber ein wichtiger Punkt ist, dass von Anbeginn der Teilungserklärung die Palästinenser diese Teilung ablehnten, weil sie unter keinen Umständen mit Juden zusammenleben wollten. Aus ihrem Koran heraus hassen sie die Juden. Hören Sie dazu Ahmed Mansour! Es gibt also keinen rechtlich proklamierten Staat, dem Israel etwas wegnehmen konnte. Israel ist nirgends wie die Deutschen oder Herr Putin einmarschiert und hat gesagt: Das ist jetzt meins. Nein! Israel wurde in diese Kriege hineingezwungen und hat im Verteidigungskrieg diese Gebiete erobert und verteidigt. Und solange es keine Anerkennung des Staates Israels vonseiten der PA gibt, solange kann nicht von einem Völkerrechtsbruch die Rede sein. Warum fassen deutsche und europäische Politiker die „Politiker“ der PA oder die Hamas, die immerhin offiziell Terrororganisation ist, mit Samthandschuhen an, anstatt eindeutige Anerkennung und Friedensbereitschaft von diesen Seiten zu fordern, bevor über irgendetwas anderes verhandelt werden kann? Warum wird nur Israel die Pistole auf die Brust gesetzt?!

Die Politik Deutschlands gegenüber Israel ist doppelzüngig. Und wenn Politik das sein muss, wie Sie mir erklärten, dass unter der Hand so viel läuft, wovon die Öffentlichkeit nichts weiß, dann ist Politik in meinen Augen leider nur ein schmutziges Geschäft.

Sie merken, dass wir, mein Mann und ich, sehr verletzt sind. Sie kennen vielleicht die Familie Lapide durch Bücher oder Fernsehen. Sie hat viel für die Versöhnung in Deutschland nach der Schoah geleistet, und mein Mann setzt diese Aufgabe mit Herzblut fort. Ich möchte zum Schluss noch etwas erklären, was aus meinem tiefsten Glaubensherzen kommt, denn die Bibel hat sich für mich als wahr erwiesen, auch wenn wir sie, wie Pinchas Lapide sagte, nicht wörtlich, sondern beim Wort nehmen sollen. Aber eines hat sich während der mehr als 5000jährigen Geschichte des jüdischen Volkes als wahr erwiesen: Die Völker gingen, die Juden bleiben!

Selbst das große Britische Empire wurde zu einem Witzstaat, nachdem es doppelzüngig versuchte, Anfang des 20.Jh.s zwischen Arabern und Juden zu jonglieren. Und Halle ist für mich ein Warnruf: Es sollte 80 Juden treffen, aber es starben Nichtjuden. Ich glaube zutiefst, dass Gott uns warnt: Wenn ihr nicht aus der Geschichte gelernt habt, wenn ihr nicht stärker Gott vertraut als einer Doppelmoral in der Politik, die mehr auf Gewinn als auf Gerechtigkeit aus ist, wird es euch treffen. Dieses Mal trifft es nicht die Juden, sondern die, die sich nicht auf die Seite Israels und des Volkes Gottes stellen. Dieser Segen ist ein uralter, den Gott Abraham gab: Mit dir werden sich die Völker segnen, dann sind sie gesegnet. Wer dich aber gleichgültig behandelt, wird von MIR ebenso behandelt und von der Waagschale fallen. (Das Wort „verflucht“ steht dort im Hebräischen Original nicht).

Meine Wertschätzung ist mir ernst, aber meine Enttäuschung ebenso. Die Aktion „Nicht mit meiner Stimme“ von Pastor Jobst Bittner haben wir mit unterzeichnet. Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass uns das Mitgefühl von Freunden sehr gut tut. Sie lassen uns deutlich ihre Scham nach der Schoah wissen und sie wollen uns ermutigen und trösten. Sie stehen fest auf der Seite Israels und Sie können gewiss sein: Alle denken so wie mein Mann und ich und sind dankbar, dass ich an ihrer Stelle diese Mail verfasse. Und es sind nicht wenige, denn mein Mann ist durch seine Seminare und Vorträge sehr bekannt.

Auch im Namen dieser Freunde bitte ich Sie inständig, unsere Sorgen über die Haltung Deutschlands an die oberen Stellen, auch an die Kanzlerin, weiterzuleiten bzw. sie dort an unserer Stelle zu vertreten. Ich bin froh, mich mit Ihnen für Israel verbunden zu wissen.

Mit herzlichen Grüßen und Schalom (Ganzheit!) aus dem geheiligten Land (denn per se ist es nicht heilig)

Debora Lapide

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