Haftara zur Toralesung Wajikra

Die Erläuterungen zu diesem Text sollen einen weiteren Einblick eröffnen in die Bedeutung von Opfern in der Hebräischen Bibel und in das Thema Sündenvergebung und Erlösung. Es gibt damit zusätzliche Verständnishilfen für den heutigen Wochenspruch aus Mt. 20,28

Was bedeutet das Opfer für Gott?

Weil Gott über Jesaja Seinem Volk deutlich mitteilt, was Er von den Opfern hält, wurde dieses Kapitel als Haftara = Prophetenlesung zum Wochenabschnitt (Parascha) Wajikra gewählt.
Gott macht deutlich, dass Sein Volk Ihm weder Opfertiere noch Getreideopfer noch Weihrauch bringen muss, auch kein Silber oder andere Kräuter. Das alles braucht Gott nicht, weil das Herz seines Volkes sich nicht mit dem Opfer hingibt.
Dagegen sündigt das Volk so sehr, dass es Gott mit seinen Fehltritten Mühe macht. Ein sehr menschliches Bild von Gott, der sich abmüht mit dem Fehlverhalten Seiner Kinder. Sie belasten Ihn selbst. Kein Opfer kann diese Sünden reinigen. Das kann nur Gott selbst tun.
Jes. 43,25 BRU   Ich selber, ich selber bins, der deine Auflehnungen wegwischt, um meinetwillen, deiner Sünden gedenke ich nicht mehr.
Gott stellt sich als einzigen Akteur deutlich in den Mittelpunkt: אָנֹכִי אָנֹכִי הוּא – anochi, anochi hu – Ich, Ich bins, der …
Gott, der sich mit Seinen Kindern abmühte, ist bereit, der Sünden Seines Volkes nicht mehr zu gedenken. Die Sünden verschwinden nicht aus der Biografie eines jeden einzelnen oder eines Kollektivs, aber Gott hält sie nicht ständig vor.
Schon in Jes. 43,3 sagte Gott: Denn ICH bin dein Gott, der Heilige Jissraels ist dein Befreier. Als Deckung für dich gebe ich Ägypten, Äthiopien und Sseba statt deiner. (BRU)
Was andere Übersetzer mit „Lösegeld“ wiedergeben, übersetzt Buber korrekt mit „Deckung“ כָפְרְךָ – kofrecha, das aus der gleichen Sprachwurzel stammt wie לְכַפֵּר – lekaper und Jom Kippur – כיפור bedecken, Bedeckung.
Länder, die sich Gott widersetzten, gab ER hin, damit Sein Volk frei sei.
Jes.44,22 Wie Nebel wische ich weg deine Auflehnungen, wie Gewölk deine Versündigungen, – kehre um zu mir, denn ich habe dich ausgelöst. (BRU)
Für das von Buber mit „auslösen“ übersetzte Wort steht im hebräischen Original das Wort גְאַלְתִּיךָ – ge’alticha. Dazu gehört das Hauptwort גאולה – ge’ula = Erlösung.
Wer sich in dem Zusammenhang ein wenig mit der Feinheit und Spiritualität der hebräischen Sprache befassen möchte, den möchte ich auf den kleinen Unterschied zwischen den Wörtern גּוֹלָה und גאולה aufmerksam machen. Das erste Wort heißt: Gola = Verbannung, Exil; das zweite Ge’ula = Erlösung. Der fehlende Buchstabe im ersten Wort ist das א (aleph). Mit diesem Buchstaben fängt der Gottesname Elohim אֱלֹהִים an. Daraus folgern die Weisen, dass die Gola nur durch Gott beendet werden kann und in die Erlösung führt.
Auch wenn es in unserem Jesajatext offensichtlich erst einmal um die Bedeckung und Auslösung aus den Sünden geht, ist die Botschaft doch dieselbe: Nur Gott kann uns freisprechen von unseren Sünden! Seine Gesandten und Propheten dürfen das an Seiner Statt zusprechen, aber diese Auslösung, Erlösung geschieht nur durch Gott. Sie geschieht durch kein einziges Opfer, sondern allein aus der Liebe Gottes zu Seinen Kindern.

Zu wem spricht Gott?

Jes 43:1 Jetzt aber, so hat ER gesprochen, dein Schöpfer, Jaakob, dein Bildner, Jissrael, fürchte dich nimmer, denn ich habe dich ausgelöst, ich habe dich mit Namen berufen, du bist mein.
Gott redet zu Seinem Volk, das nach Jakob bzw. nach dessen neuem Namen Israel gerufen wird. Gott spricht als Schöpfer zu Seinem Volk. Ohne den Schöpfer des Himmels und der Erde und ohne den Schöpfer Israels gäbe es dieses Volk nicht.
Jes. 43,4 Dessen wegen, daß du teuer bist in meinen Augen, ehrenwichtig bist und ich selber dich liebe, gebe ich Menschen statt deiner, Nationen statt deiner Seele:
Kein Volk ist Gott so wichtig wie dieses, das Er geschaffen hat. Warum das so ist, bleibt allein Seine Entscheidung. Friedrich Heer schrieb ein Buch mit dem Titel: „Gottes erste Liebe“. Darin macht er sich stark dafür, dass andere Völker aufhören mit ihrem Neid Israel gegenüber, nur weil Gott es zuerst geliebt hat. Überall gibt es eine erste und eine zweite Liebe, ganz praktisch, wenn eine Beziehung zwischen zwei Menschen zerbricht. Der erste Partner wird immer, auch nach einer Trennung, eine besondere Bedeutung im Leben des anderen behalten.
Und dieses Volk, dem Gott Seine Weisung, Seine Tora schenkte, ist selbstverständlich schon dadurch ein einzigartiges Volk. Gott schuf es, damit dieses Volk Gott und Seinen Ihm gebührenden Lobpreis verkündet. Und es steht da als Zeuge für Gott, der ohne Unterlass zu Seinem Volk redet, sich offenbart und Seinen Bund nicht vergisst.
Mit Seinem Erlösungshandeln verherrlicht Gott sich schließlich selbst an Seinem Volk.
Jes.43,21 ZUR das Volk, das ich mir gebildet habe. Meinen Ruhm werden sie verkünden.
Jes.44,8  Erschrecket nicht und fürchtet euch nicht! Habe ich’s euch nicht längst schon gemeldet und kundgetan? Und ihr seid meine Zeugen! Ist ein Gott außer mir? ist ein Fels? Ich weiß keinen.
Jes.44,23 Frohlocket, ihr Himmel, denn der Herr hat’s getan! Jauchzet, ihr Tiefen der Erde! Brechet in Jubel aus, ihr Berge, du Wald mit all deinen Bäumen! Denn der Ewige hat Jakob losgekauft, und an Israel verherrlicht er sich.

Der Knecht Gottes

Als Schöpfer und Erlöser dieses Volkes gehört Israel IHM allein.
Jes.43,15 ICH, euer Heiliger, Jissraels Schöpfer, euer König.
Als was Gott Israel geschaffen hat, sagen uns einige Sätze aus Jesaja 44:
V1 Jetzt aber höre, Jaakob, mein Knecht, Jissrael, den ich erwählte,
V2  – so hat ER gesprochen, der dich gemacht hat, der dich gebildet hat vom Mutterleib auf, dir hilft, – fürchte dich nimmer, mein Knecht Jaakob, Jeschurun, den ich erwählte!
V21 Bedenke dies, Jaakob, Jissrael, denn du bist mein Knecht, zum Knecht habe ich dich gebildet, du bist mein, Jissrael, du wirst mir niemals vergessen werden.

Israel ist der Knecht Gottes! Knecht Gottes war ebenso Mose, was ein Ehrentitel ist, denn wer Knecht des Höchsten ist, der ist in Wahrheit frei! Diese Verse müssen Leser des Propheten Jesaja auch bedenken, wenn sie die sog. Gottesknechtslieder lesen: Gottes Knecht ist Israel!
V26 der die Rede seines Knechtes errichtet, den Ratschluß seiner Boten vollbringt, bins, der nun von Jerusalem spricht: Es wird besiedelt! und von den Städten Jehudas: Sie werden aufgebaut, seine Ödungen richte ich auf!

Was Gottes Knecht redet, hier der Prophet als einer des Volkes Israel, das setzte Gott in die Tat um.
Jes.44,24 So hat ER gesprochen, dein Löser, dein Bildner vom Mutterleib auf: ICH selber, der alles macht, den Himmel spannt, ich einzig, die Erde breitet, wer mit mir?,
Durch diese starken Bilder drückt sich die Beziehung Gottes zu Seinem Bündnispartner vom Sinai, Seinem Knecht Israel, aus.

Welche Sünde muss Gott vergeben?

Jesaja 44,9-20 muss man mal in Ruhe lesen. Voller Ironie zeigt Gott durch den Propheten Seinem Volk auf, wie ihm jedwede Einsicht und gar der kleinste Funken Verstand fehlt, wenn es Götzenbilder anfertigt.
Der Schmied nimmt sein Eisen, bearbeitet es über der Hitze des Feuers. Er legt seine ganze Kraft hinein, dieses Götzenbild zu schmieden und hungert sogar dafür, um ja sein Werk nicht zu unterbrechen. Wofür tut er das? Wem dient es? Niemandem, denn es hat weder Ohren zum Hören noch Augen zum Sehen und keine Arme zum Helfen.
Ps.115,4 Ihre Götzen sind Silber und Gold, ein Machwerk von Menschenhänden. 5 Sie haben einen Mund und können nicht reden, haben Augen und können nicht sehen; 6 sie haben Ohren und hören nicht, haben eine Nase und riechen nicht;  7 sie haben Hände und können nicht greifen, haben Füße und können nicht gehen, geben auch keinen Laut mit ihrer Kehle. 8 Ihnen werden gleich sein, die sie machen, alle, die auf sie vertrauen.  
Dann spricht der Prophet im Namen Gottes vom Zimmermann, der im Wald einen Baum fällt, einen Baum, den GOTT hat wachsen lassen. Aus diesem macht er Brennholz zum Heizen und zum Kochen, aus dem restlichen Stück schnitzt er einen Götzen. Das ist doch pervers! Aus Gottes Natur etwas entwenden, das zum einen zu Asche verbrennt, zu nichts, und das auf der anderen Seite angebetet werden soll! Damit macht sich Gottes Volk den heidnischen Völkern gleich, von denen sich sein Knecht doch unterscheiden soll.
Jes.44,18 Sie erkennen es nicht und sehen’s nicht ein; denn ihre Augen sind verklebt, dass sie nicht sehen, und ihr Herz ist verstockt, dass sie nicht klug werden.
Gott selbst verstockt die unwilligen Herzen für eine Weile, bis sie sich öffnen und bereit sind zur Korrektur, denn Gott führt den Menschen auf dem Weg, den er wählt. Ein bekanntes Beispiel ist Pharao, der trotz der Plagen zuerst selbst sein Herz verhärtete, bis schließlich Gott es ihm verhärtete.
Für uns ist das ein ebenso aktuelles Thema, denn in unserer Zeit gibt es viele Götzen, die wir neben Gott stellen. Das können Machtpositionen sein oder der Mammon, dem der einzelne sowie ganze Völker hinterher laufen. Die Schutzausrüstungen für Krankenhäuser und deren Infektionsstationen werden kaum noch in Deutschland hergestellt, einfach weil es billiger ist. Also ist die Nachlieferung dieser lebenswichtigen Güter in Krisenzeiten wie der Corona-Pandemie äußerst schwierig. Billig im Gegensatz zu nachhaltig, billig unter Inkaufnahme langer Lieferwege belastet unsere Umwelt und unser Klima. Dieses Konsumdenken im Gegensatz zum Qualitätsdenken ist ein Götze unserer Zeit. Wie viel Kraft muss da hinein investiert werden! Wie viel Arbeitslast aus dem Grund der Einsparung führt zu Burnout und hohen Kosten für die Krankenkassen. Unser moderner Götzendienst hat uns in einen Teufelskreis gebracht, von dem wir spürten, dass wir ihm irgendwie entkommen müssen. Aber das kann ja niemand gebieten und Stillstand kann niemand wollen.
Und nun hält Gott mit diesem Virus die Welt an und zwingt sie zum Stillstand. Gott tut das, damit Er uns in Seiner Liebe aufrüttelt und loskauft aus unserem Teufelskreis.

Ein Blick in das NT

Im Wochenspruch geht es, wie im vorliegenden Jesaja-Text, um den Begriff des Auslösens.
Mt.20,28 Denn der Sohn des Menschen kam nicht, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen – und um sein Leben als Lösegeld für viele zu geben. (JNT)
Die Rückübersetzung in die Sprache der Evangelisten gibt das wie folgt wieder (Franz Delitzsch, 1877): לָתֵת אֶת-נַפְשׁוֹ כֹּפֶר – latet et nafscho kofer = zu geben seine Seele zur Deckung
Der Vers ist eine Antwort auf die Bitte der Mutter der Zebedäus-Söhne, die für ihre Buben den besten Platz neben Jesus in seinem Reich erbittet. Dabei sieht sie mit Sicherheit nicht ein Reich in der anderen Welt vor sich, denn der jüdische Glaube ist in erster Linie sehr handfest und an Veränderungen im Diesseits orientiert. Sie erwartet so wie die Schüler Jesu, dass er als Gesandter Gottes, als Messias, das Friedensreich bringt und das römische Reich zerstört. Sie hat keine Ahnung, was sie da erbittet, denn sie weiß nicht, was ihr Rabbi alles wird auf sich nehmen müssen. Sie tappt in die Falle eines modernen Götzendienstes: Ansehen und Macht.
Jesus widerspricht ihr und zeigt ihr und ihren Söhnen, dass sie selber ebenfalls durch viele Tiefen werden gehen müssen, denn sie müssen den Leidenskelch trinken, den Jesus wird trinken müssen, aber es wird eben nicht um die Erneuerung eines irdisches Reiches gehen. Und es wird eben noch nicht um das messianische Friedensreich gehen, das der Prophet Jesaja in Aussicht gestellt hat.
Jesus macht deutlich, dass es nicht um Macht und Herrschaft gehen wird, die zu Gewalt und Machtmissbrauch führen kann. Wer Gott dienen will, muss sich klein machen, muss Diener, Knecht sein. Nur der Knecht Gottes ist wirklich frei! Und nur er wirkt mit am Reich Gottes, an der Erneuerung in dieser Welt, auch wenn die endgültige Erlösung noch auf sich warten lässt. Übt euch im gegenseitigen Dienen, fordert Jesus, so wie er es sein Leben lang tat. Er war einfach für die Menschen da, stand ihnen bei und sprach ihnen Gottes Vergebung zu.
Er spricht in diesem Satz nicht von „ich“, sondern vom בֶּן-אָדָם – Ben Adam, vom Menschensohn. Diesen Titel hören wir im Propheten Hesekiel insgesamt 93 mal, häufiger als im gesamten NT. Auch Hesekiel wird mit „Menschensohn“ angesprochen. Gott sieht in diesem Menschensohn die Verbindung zum ersten Menschen, zum ersten Adam, der von Gott abfiel und darum aus dem Paradies „fiel“. So „fielen“ die Menschen zur Zeit der Propheten und zur Zeit Jesu von Gott ab, und zwar Juden und Nichtjuden. Adam war noch kein Jude und steht so für die gesamte Menschheit. Diese sowie Israel sollen zurückfinden zu Gott. Und dafür wird der Menschensohn sein Leben und Wirken und seinen Tod geben, damit zuerst Gottes Knecht Israel losgekauft wird von seinem Irrweg, den das Volk Israel in seiner Zeit durch griechische Einflüsse auf das Judentum ging.
Wie Gott fremde Völker für sein Volk als Bedeckung der Sünden gab, so wir nun der Menschensohn sich für das Volk geben. Wenn der sein Leben gibt, muss das nicht der Tod sein, da im Leben auch die Verbindung mit Gott zählt. Da Jesus aber seine Auferweckung ankündigte, wir er diesen implizieren. Doch auch dabei bleibt zu beachten, dass Gott durch die Hingabe Jesu die Sünde bedecken kann bei vielen, nicht bei allen, aber sie bleiben ein Bestandteil der Biografie und des Lernens im Leben. Sie verschwinden aus der Sichtbarkeit und stehen nicht mehr zwischen Gott und Mensch, aber sie sind nicht wie durch magisches Handeln einfach weg. Darum ist Gottes Vergebungsbereitschaft, für die er kein Opfer braucht, niemals ein Freibrief für unachtsames Leben. Wir tragen die Verantwortung für unser Tun!

Für das NT benutze ich das Jüdische Neue Testament, David Stern, Hänssler-Verlag

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