vorgeschlagen für Sonntag Exaudi, d. 24.Mai 2020

31 Wohlan, Tage kommen, ist SEIN Erlauten, da schließe ich mit Haus Jissrael und mit Haus Jehuda einen neuen Bund. 32 Nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe am Tag, als an der Hand ich sie faßte, sie aus dem Land Ägypten zu führen: daß sie selber diesen meinen Bund trennen konnten, – und war ichs doch, der sich ihrer bemeistert hatte, SEIN Erlauten. 33 Denn dies ist der Bund, den ich mit dem Haus Jissrael schließe nach diesen Tagen, ist SEIN Erlauten: ich gebe meine Weisung in ihr Innres, auf ihr Herz will ich sie schreiben, so werde ich ihnen zum Gott, und sie, sie werden mir zum Volk. 34 Und nicht brauchen sie mehr zu belehren jedermann seinen Genossen, jedermann seinen Bruder, sprechend: Erkennet IHN! Denn sie alle werden mich kennen, von ihren Kleinen bis zu ihren Großen, ist SEIN Erlauten. Denn ihren Fehl will ich ihnen verzeihen, ihrer Sünde nicht mehr gedenken.

Predigttext in der Übersetzung von Martin Buber

Der Prophet Jeremia

Wieder einmal lesen wir einen sehr kurzen Predigttext, dessen Auslegung nur im Kontext erfolgen kann. Wir lesen vom „neuen Bund“, was gerne auf das Neue Testament und auf Jesus appliziert wird. In der heutigen Zeit sollten wir jedoch genau hinschauen, ob das wirklich damit gemeint ist. Zumindest sagte mein Schwiegervater Pinchas Lapide, als es darum ging, dass es im Neuen Testament nicht Neues gebe: „Selbst der Name „Neues Testament“ stammt aus dem Alten.“ Und damit meinte er diese Stelle im Propheten Jeremia.
Jeremia, hebr. Jirmejahu > jarim Ja vom Verbלהרים leharim bedeutet: Gott wird erhöhen. Auch eine zweite Bedeutung seines Namens mit veränderter Vokalisierung ist möglich: jirmé Ja = Gott wird schießen. Mit diesem Verb „schießen“ ist nicht nur ein militärisches Vorgehen gemeint, sondern auch das Hinabschießen von Regen und Hagel, oder das Hinabschießen des Segens Gottes. Außerdem benutzen die Propheten treffende Worte wie Pfeile, die nicht töten, aber zur Umkehr rufen sollen.
Jeremia ist bekannt als der leidende Prophet. Er warnte vor dem Exil und musste es doch miterleben. Er litt an dem ungehorsamen Volk, das nicht mehr auf die Stimme Gottes hörte, sondern sich gleichzeitig mit anderen Göttern abgab, also Synkretismus betrieb. Und Jeremia wusste sogar, dass er mit seinen Worten beim Volk nicht durchdringen würde. Trotzdem predigte er mit vollem Einsatz, auch an Emotionalität. In Kap. 29 gibt er den Exilierten Anweisungen, wie sie sich im fremden Land verhalten sollen, denn nun geht es darum, nach vorne zu schauen. Gott hat endgültig gehandelt, so schnell gibt es kein Zurück. Die Konsequenz muss ausgehalten werden. Jedoch gilt es in dieser neuen Situation, sinnvoll und Licht bringend zu leben; dem fremden Land durch die eigene Anwesenheit Segen zu bringen. Diesen Segen erfuhren die „Gastländer“ der Juden auch nach der römischen Vertreibung. Man möge sich nur die Geschichte deutscher Städte anschauen, in denen Juden nicht nur Synagogen bauten, sondern Krankenhäuser, öffentliche Bäder zur Einführung von Hygiene, Universitäten und Krankenhäuser. Die Liste der Nobelpreisträger zeigt, wie viel Fortschritt die Welt Juden zu verdanken hat, obwohl sie in ihren Ländern das Gegenteil von Dank erhielten.
Außerdem darf Jeremia Perspektiven verkünden, die es für die Zeit der Rückkehr schon jetzt gibt. Schon jetzt darf die Hoffnung auf ein „Danach“ die Exilanten stärken.

Wie lange liebt Gott sein Volk?

Das 31. Kapitel ist eine einzige Liebeszusage Gottes allein an Sein erwähltes Volk. In keiner Predigt darf in unseren Tagen vergessen werden, wer der Angesprochene im Wort Gottes ist: Israel! Es musste ins Exil, weil es Gott untreu war, aber Gottes Treue und Liebe holen es auch wieder heim. Das findet reichen Ausdruck in zahlreichen Formulierungen.
31,1: … und sie werden mein Volk sein.
Am Ende des Exils wird Israel wieder sichtbar Gottes Volk auf seinem eigenen Boden sein.
31,2  So spricht der Ewige: Ein Volk, das dem Schwert entflohen ist, hat Gnade gefunden in der Wüste. Ich will gehen, um Israel zur Ruhe zu bringen! Von ferne her ist mir der Ewige erschienen: Mit ewiger Liebe habe ich dich [Israel] geliebt; darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Gnade.
Israel ist und bleibt von Gott geliebt! Das ändert sich auch nicht, wenn Gott Sein Kind die Konsequenzen seines Handelns spüren lässt. Immerhin zeigen solche Konsequenzen, dass Gott nicht lügt. Was ER sagte, trifft ein! Am Ende des Kapitels macht Gott Seine Liebe zu Israel eindrucksvoll und unverrückbar deutlich:
31,35 So hat ER gesprochen, der die Sonne zum Licht gibt bei Tag, nach Satzungen, Mond und Sterne zum Lichte bei Nacht, der das Meer emporwinkt, daß seine Wellen toben, sein Name ER der Umscharte: 36 Wenn diese Ordnungen vor meinem Angesicht beseitigt werden können, spricht der HERR, dann soll auch der Same Israels aufhören, allezeit ein Volk vor meinem Angesicht zu sein!
Frage: Wann hört Gott auf, Israel zu lieben? Wann endet Sein Bund mit Israel? Wenn die Naturgesetze außer Kraft gesetzt werden können! Wann wird das sein? Nie!
Wer also Gott liebt und Sein Wort ernst nimmt, kommt an dieser Wahrheit nicht vorbei: Israel bleibt Gottes Liebe bzw. wie Friedrich Heer sein Buch betitelte: „Gottes erste Liebe“. Hier ist nicht der Ort, all die Bibelzitate aufzulisten, die die Völker warnen, falls sie diese Liebe Gottes antasten. Aber wir können immer wieder festhalten: Wer Israel segnet, wird gesegnet.
Gen.12,2 NHTS   „… Und ich will dich zu einem großen Volk machen und will dich segnen und deinen Namen groß machen, und du sollst ein Segen sein. 3 Und ich will segnen, die dich segnen, und wer dir flucht, den will ich verdammen, und mit dir sollen sich segnen alle Geschlechter der Erde.»
Diese Liebe neidlos zu akzeptieren, ist Aufgabe der Völker, insbesondere der Christen, die mit den Juden die Schriften des Tanach als sogenanntes Altes Testament teilen. Wenn Gott eine erste Liebe hat, so heißt das nicht, dass ER die anderen Völker, die ER ja ebenfalls erschuf, weniger liebt. Aber dieses Volk erklärte sich als erstes bereit, ganz in den Monotheismus zu gehen.
Ex.24,7 Mosche nahm die Urkunde des Bundes, er las in die Ohren des Volks. Sie sprachen: Alles, was ER geredet hat, wir tuns, wir hörens! 
Das Volk Israel am Berg Sinai erklärt sich nach der Verlautbarung des Bundesbuches sofort bereit, nach Gottes Willen zu handeln, noch bevor es „gehört“ hat. Damit ist gemeint, es handelt, noch bevor es Gottes Wort tiefer durchdacht und verstanden hat. Zuerst kommt das Handeln! Danach bleiben Gelegenheiten genug, die Tora zu studieren und zu verstehen und zu diskutieren.
Eine erste Liebe, ein erstes Kind, hat immer eine besondere Bedeutung. Eine erstmalige Erfahrung prägt immer auf besondere Weise ein Leben. Das werden insbesondere Mütter bestätigen können, für die das erstgeborene Kind das Ereignis ihres Lebens sein und bleiben wird. Darum können sie die folgenden Kinder genauso lieben, aber mit dem ersten bleibt es etwas Besonderes. Israel seinerseits war lange das einzige Volk, das die Erfahrung machen musste, wie es sich mit dem EINEN Gott inmitten heidnischer Völkern leben lässt. Das ist die besondere Erfahrung des Erstgeborenen.
Mit der Akzeptanz dieser Tatsache wird es leichter sein, solche Schriftstellen wie die hiesige auszulegen.

Wie sehr liebt Gott Sein Volk?

In den folgenden Versen verspricht Gott Seinem im Exil befindlichen Volk, dass ER es wieder erbauen wird, seine Weinberge wieder pflanzen und fruchtbar machen wird. Es wird wieder Tanz und Jubel in der heiligen Stadt geben. Gott verspricht, Sein Volk bei der Rückkehr zu begleiten.
31,8 … unter ihnen sind Blinde und Lahme, Schwangere und Gebärende miteinander; eine große Gemeinde kehrt hierher zurück!
Gott wird sie zu Wasserbächen führen und sie vor Wegen bewahren, auf denen sie straucheln und fallen könnten. Das erinnert ganz an Seine Geborgenheit, die ER Seinen Kindern in der Wüste angedeihen ließ. Und dieses Sein Handeln hat einen unumstößlichen Grund:
31,9  … denn ich bin Israel zum Vater geworden, und Ephraim ist mein Erstgeborener.
Gott war der Vater des jüdischen Volkes, lange bevor es Jesus, geschweige denn Christen, gab. Die Substitutionstheologie hat das verdecken wollen, aber heute dürfen wir diese Schuld der Enterbungshaltung abstreifen und uns an Gottes Treue zu Seinem Volk freuen. Wäre Gott gegenüber Israel nicht der treue und väterliche Gott, könnten Christen sich nicht auf IHN verlassen. SEINE Treue zu Israel garantiert SEINE Treue zu allen, die IHM vertrauen.
Gott möchte eindringlich, dass die Völker der Welt Kenntnis haben von Seinem Erlösungshandeln an Israel, denn es heißt weiter:
31,10 Hört das Wort des Ewigen, ihr Heidenvölker, und verkündigt es auf den fernen Inseln und sprecht: Der Israel zerstreut hat, der wird es auch sammeln und wird es hüten wie ein Hirte seine Herde.
Sehen wir die zärtlichen Bilder, die Gott benutzt, wenn es um Sein Bemühen um Israel geht? ER ist sein Vater. ER ist Israels Hirte. Das Bild ist uns aus Davids 23. Psalm nur allzu vertraut. Im nächsten Vers ist ER Israels Löser, derjenige, der es freikauft aus der Hand derer, die stärker zu sein scheinen. Gegen Gott können diese vermeintlich Starken nichts ausrichten. Schauen Sie sich dazu das Video der Christlichen Botschaft Jerusalem an: „Rabbi Naki, tut Gott heute noch Wunder?“ Ein Rabbi im Interview mit Gottfried Bühler.  https://www.youtube.com/watch?v=2U1ZI1vAaV8
Hören wir als Völker aus den Heiden, die an den Gott Israels glauben dürfen, einfach mal hin, wie Gott heute an dem modernen Staat Israel wunder-voll handelt. Und bitte lesen Sie dieses 31. Kapitel in Gänze, das die Freude und Feiern der Rückkehrer beschreibt. Mitreißend! Plastisch! Die Jungfrau Israel, die zurückgekehrt ist zu ihrer ersten Liebe, ist bekränzt und tanzt im Reigen! Ein Volksfest!

Noch ist es nicht so weit

Ab V15 sehen wir, dass die Zeit der Befreiung und (Er-)Lösung noch aussteht. Noch weint Rachel um ihre Kinder, die aus Uneinsichtigkeit und Ungehorsam dieses Exil erleiden müssen.
Rachel, was „Mutterschaf“ bedeutet, war die Lieblingsfrau Jakobs, für die er 14 Jahre bei Laban diente, weil der seinem Neffen zuvor betrügerisch die erste Tochter Lea untergejubelt hatte. So wurden aus sieben Dienstjahren 14. Rachel war jedoch unfruchtbar und konnte ihrem Mann nur zwei Söhne gebären: Josef und Benjamin. Bei der Geburt des letzten Sohnes starb sie, sodass Jakob seinem Sohn den Namen gab. Den Namen der Mutter, den sie im Schmerz ausgesprochen hatte (Gen.35,18) Benoni, Sohn meines Unheils, ließ er so nicht gelten und nannte ihn (ebd.) Benjamin, Sohn der rechten Hand (= Stärke).
Im Bild dieser Bibelstelle in Jeremia ist Rachel die Mutter der Nation, die alle ihre Kinder beieinander halten will. Aufgrund ihres schweren Schicksals gilt sie als über die Zeit hinaus Trauernde. Zudem verkörpert sie die Rückkehr aus dem Exil, weil sie selbst auf dem Weg zurück nach Israel (Kanaan) starb. Sie musste noch vor Bethlehem in Ramat Rachel begraben werden. Rachel verkörpert – nicht nur in diesem Text -, die Ambivalenz zwischen Leben und Tod, sowie zwischen Exil und Rückkehr. Somit ist sie mit all ihren eigenen Erfahrungen dem jüdischen Volk besonders nah und darum Mutter des Volkes. Gott selbst tröstet sie.
Dieser Vers gibt im modernen Israel Hinterbliebenen von gefallenen Soldaten Trost, denn er besagt, dass der Tod nicht das letzte Wort hat.
Wir lesen in den Versen von der Einsicht Israels, das voller Reue heimkehren wird zu seinem Gott. Sobald Israel sich seiner falschen Haltung und Handlungen schämt, ist Gottes Herz weich.
31,20  Ist mir Ephraim ein teurer Sohn? Ist er mein Lieblingskind? Denn so viel ich auch gegen ihn geredet habe, muss ich doch immer wieder an ihn denken! Darum ist mein Herz entbrannt für ihn; ich muss mich über ihn erbarmen!, spricht der Ewige.
Gottes Herz brennt; ist Feuer und Flamme für Israel! Endlich darf ER dem Umkehrer wieder Seine Liebe offen zeigen.
„Schuwi – שֻׁבִי“ = Kehre um!, sagt Gott zu Israel. Es kommt von dem hebräischen Wort tschuwa תְּשׁוּבָה, das Antwort bedeutet. Umkehr bedeutet also, Gott eine Antwort zu geben. Das Exil ist letztlich vergleichbar mit einer Anfrage Gottes an das Volk, wie und mit wem es leben will. Will es zurückkehren zu Gott, so ist die Antwort auf Gottes Frage fällig in Form von Buße, dem das Wort Umkehr = Antwort entspricht.

Auslegung des Predigttextes

Angesprochen sind in diesem Text „das Haus Israel“ und „das Haus Juda“. Zur Zeit des Propheten gab es das Haus Israel bereits nicht mehr. Es war in die Assyrische Verbannung getrieben worden und dort untergegangen. Aber es gibt diese Prophezeiung für die noch vor uns liegende Zeit, in der Gott auch das Haus Israel wiederherstellen will. Dieses besteht aus den 10 Stämmen des Nordreiches. Der Bund, den Gott an dieser Stelle verheißt, ist also Sein Bund mit dem gesamten Volk Israel aus allen 12 Stämmen, die ER zurückführen wird. In diesem Bund gibt es keine fremden Völker.
Dieser Bund wird ein „erneuerter“ Bund brit chadascha = בְּרִית חֲדָשָׁה sein, denn das Wort neu [chadasch חֲדָשָׁ] kann sowohl neu als auch erneuert bedeuten. Gott lässt sich für Sein Volk nicht etwas völlig Neues einfallen, denn wir konnten bisher lesen, dass Gott zu Seinem Bund mit Seinem Volk steht. Dieser Bund kann nicht aufgelöst werden. Er kann aber nach einer Zeit des Schweigens erneuert werden.
Gott erneuerte Seinen Bundesschluss seit Abraham mit Seinem Volk immer wieder. Der Bund mit Abraham, aus dem ein Volk wurde, und der sowohl das Land als auch die Beziehung zu dem einen Gott beinhaltet, wiederholte Gott bei Isaak und Jakob/ Israel. Sogar mit Abraham gab es zwei Bundesschlüsse: den Bund zwischen den Fleischstücken in Gen.15 und den Beschneidungsbund:
Gen.17, 7 Und ich will meinen Bund aufrichten zwischen mir und dir und deinem Samen nach dir von Geschlecht zu Geschlecht als einen ewigen Bund, dein Gott zu sein und der deines Samens nach dir. 8 Und ich will dir und deinem Samen nach dir das Land zum ewigen Besitz geben, in dem du ein Fremdling bist, nämlich das ganze Land Kanaan, und ich will ihr Gott sein.
Niemals aber wird ein Bund mit dem anderen aufgehoben, sondern erneuert, ergänzt, gefestigt und bestätigt.
Die Rabbiner verstehen auch das Passahlamm als eine Bundeserneuerung, weil die männlichen Juden ihre Beschneidung nachholen mussten. Danach kommt es zum Sinaibund mit dem Bundeszeichen des Dekalogs.

Sogar der Sinaibund wird immer wieder erneuert, denn das Volk war oft halsstarrig und abtrünnig. Nach dem „Goldenen Kalb“ wollte Gott aus Mose ein neues Volk erwecken. Mose setzte sich so sehr für die Israeliten ein, dass Gott Seinen Bund erneuerte. Das ist nur ein Beispiel für eine solche Erneuerung nach dem Sinaigeschehen.
Hesekiel gibt ein Gleichnis zur „Wiedervereinigung“ von Israel und Juda in Kap. 37. Es beginnt mit der Auferweckung der toten Gebeine und endet mit dem Gleichnis von zwei Hölzern, eines für Juda, das andere für Israel. In der Hand Hesekiels sollen beide Hölzer zu einem werden und damit ein Hinweis sein auf Gottes Handeln, das die Rückführung der 10 Stämme aus den Völkern bewirken wird sowie die Vereinigung mit Juda. Eine deutliche, innerjüdische Erneuerung eines bestehenden Bundes auch bei diesem Propheten.
In diesem erneuerten Bund wird es einen Unterschied geben gegenüber dem Bund, den Gott mit dem Volk in der Wüste schloss. Als Gott Israel aus Ägypten = Mizraim = מִצְרָיִם, dem Land der doppelten Enge (Predigt Rö.5), befreite, führte ER eine Horde entkommener Sklaven durch die Wüste, die sich nach der wahrhaft „gottlosen“ Zeit, in der sie Gott nicht los waren, aber IHM nicht dienen durften, völlig desorientiert waren. Ihr Vertrauen in eine neue Freiheit, in der ihre eigene Verantwortung gefragt war, lag am Boden. Sie mussten mühsam Erfahrungen sammeln, wie es sich anfühlt, nicht mehr befehligt zu werden, andererseits aber einem neuen „Befehlshaber“ gehorchen zu sollen. Die Pendel schlagen ja bekanntlich aus, sodass Unannehmlichkeiten dazu führten, dass sich das befreite Volk zurücksehnte nach den „Fleischtöpfen Ägyptens“, völlig verdrängend, dass es diese „Fleischtöpfe“ so mit Sicherheit niemals gab und jede gesicherte Essensration mit Unfreiheit und Drangsal verbunden war. In dieser Situation ging es also darum, dass Gott die Geduld eines Vaters brauchte mit einem Kind, das „resozialisiert“ werden muss, das erst einmal wieder gesellschaftsfähig werden muss. Das beinhaltet ggf. die Entscheidung, auszubrechen und eigene Wege zu versuchen. Wenn die dann scheitern, steht das Kind schnell wieder vor der Tür.
Die Kundschafter, die das verheißene Land auskundschaften und davon berichten sollten, waren 10 gegen 2 der Meinung, dass es sich zwar um ein fruchtbares Land handelte, aber die Riesen darin unbesiegbar seien. Gott hatte versprochen, für das Volk Siege zu erringen? Was kann man mit luftigen Versprechungen anfangen, wenn man doch mit eigenen Augen die aus Stein gebauten Städte mit seinen riesigen Bewohnern gesehen hatte? Wir glauben doch auch heute jedem Bild, das in unser „Bild“ passt, selbst wenn es manipuliert wurde. Aufgrund dieser Einschätzung mussten die Israeliten nun 40 Jahre in der Wüste bleiben und ihre Angst und Sklavenmentalität ablegen. Das Gejammer war groß, aber Gottes Plan war nicht mehr zu verändern.
Nun will Gott im erneuerten Bund etwas verändern. Das Wort Gottes, Seine Weisung, steht nun nicht auf äußerlichen Steinplatten, sondern wird dem Volk ins Herz geschrieben.
Der Bund, den ICH schließen werde“, heißt auf Hebräisch הַבְּרִית אֲשֶׁר אֶכְרֹת ha brit ascher ech’rot = der Bund, den ich schneiden werde. Jeder Bundesschluss wird geschnitten, was wir zuerst bei Abraham in Gen.15 sehen: Für diesen Bundesschluss musste Abraham Tiere in der Mitte durchschneiden, durch die Gottes Feuer hindurchfahren konnte.
In unserem Text „schneidet“ Gott den Bund, indem ER etwas in die Herzen graviert, sodass das Wort und das Herz eins werden. So wird auch eine besondere Einheit zwischen Gott und Seinem Volk entstehen. Und die Kinder Gottes untereinander können sich näher kommen, weil niemand mehr belehrt werden muss. Kleine und Große sind eins mit der Weisung Gottes.
Das Herz ist im jüdischen Verständnis der Sitz der Weisheit. Hier findet die tiefe Erkenntnis Gottes statt, an der jeder Zweifel abprallen wird. „Erkennen“= lada’at לָדַעַת ist im Hebräischen ein Wort mit tiefer, theologischer Bedeutung (Predigt zu Jes.40). Christen können es kennen aus der Geburtsankündigung des Engels an Maria, die in Luk.1,34 fragt: „Wie kann das sein, da ich doch keinen Mann erkannt habe?“ Von Adam und Eva sowie anderen Paaren lesen wir: „Er erkannte sein Weib und sie ward schwanger.“ Aber das Wort „erkennen“ meint nicht einfach Geschlechtsverkehr, sondern ein tiefes Einswerden, ein tiefes Verstehen des anderen und übereinstimmen mit ihm. Es zeugt von der intimen und vertrauten Nähe, die zwischen zwei Menschen entsteht. Ebenso gibt es Bibelstellen, in denen Menschen Gott oder umgekehrt Gott einen Menschen „erkennt“. Immer ist es ein Hinweis auf die besondere, tiefe, anerkennende Beziehung, die entstehen durfte.

Anwendung in der christlichen Predigt

Das ist zusammenfassend die Botschaft des Predigttextes, dass Gottes Bund mit Israel nie aufhört; dass dieser Bund vielmehr an Tiefe gewinnen wird. Diese Tage stehen noch aus. Zu diesen Tagen ist Gottes Volk auf dem Weg. Zu diesem Weg braucht das jüdische Volk niemand anderen als alleine seinen treuen Gott.
Kann dieser Text Anwendung finden für die nichtjüdischen Leser und Hörer dieser Botschaft?Sie sind ja nachweislich nicht angesprochen. An erster Stelle sollten das Verstehen und die Akzeptanz dessen stehen, was ich versucht habe, zu erklären, dass Israel Empfänger dieser Botschaft ist. Unter dieser Voraussetzung ist es sicherlich legitim zu verstehen, dass es Gott um das inwendige Verstehen Seines Wortes geht. Heute leben wir noch in einer Welt, in der es viele Bibelauslegungen und Erklärungen gibt. Manche stehen sich sogar feindlich gegenüber, weil es eine lange Tradition für eine Interpretation geben mag, die man nicht verleugnen will. In manchen Lesarten sind die Leser regelrecht gefangen. Sie lesen durch die Brille ihrer Denomination oder Glaubensgruppe.
Wir alle sind darauf angewiesen, dass Gott selbst uns Seine Weisung ins Herz schreibt, dass ER selbst uns mit der Erkenntnis Seines Seins und Seines Wortes beschenkt.
Jeder von uns wurde aus seinem eigenen Ägypten geführt und versuchte trotzdem, eigene Wege zu gehen. Das waren nicht nur die Kinder Israel! Wie sie damals zurück verlangten nach den nicht existierenden Fleischtöpfen, so gab es nach dem Fall der Mauer den Ruf, die Mauer wieder zu erreichten. Vor der Einheit war angeblich alles besser. Wirklich? Auch die Freiheit und die Meinungsfreiheit? Alles vergessen!
Heute gehen Menschen auf die Straße und protestieren gegen die Corona-Maßnahmen, weil wir doch kaum Tote hatten. Also alles Hysterie? Ich verstehe nicht, wie man auf die Maßnahmen schimpfen kann, die lebensrettend waren! Wo bleibt die Dankbarkeit für die Verschonung? Sind solche Haltungen nicht skurril? Aber leider wohl menschlich, unabhängig von der Religion.
Wir alle bedürfen also der Geduld Gottes, die uns an die Hand nimmt und uns durch die Erfahrungen des Lebens führt, bis wir dereinst durch Gottes Geist ALLE, ausnahmslos, Große und Kleine, so belehrt sind, dass jeder einzelne Gott erkennt und Seine Weisung versteht. Auch wenn es ein Pfingstereignis gab, das in Kürze gefeiert wird, sind diese Erkenntnisse noch nicht auf alle gleichermaßen verteilt.

Der nie gekündigte Bund

„Ich lebe nicht fern von der Stadt Worms, an die mich auch eine Tradition meiner Ahnen bindet; und ich fahre von Zeit zu Zeit hinüber.
Wenn ich hinüberfahre, gehe ich immer zuerst zum Dom. Das ist eine sichtbar gewordene Harmonie der Glieder, eine Ganzheit, in der kein Teil aus der Vollkommenheit wankt.
Ich umwandle schauend den Dom mit einer vollkommenen Freude.
Dann gehe ich zum jüdischen Friedhof hinüber.
Der besteht aus schiefen, zerspellten, formlosen, richtungslosen Steinen.
Ich stelle mich darein, blicke von diesem Friedhofgewirr zu der herrlichen Harmonie empor und mir ist,
als sähe ich von Israel zur Kirche auf.
Da unten hat man nicht ein Quentchen Gestalt; man hat nur die Steine und die Asche unter den Steinen.
Man hat die Asche, wenn sie sich auch noch so verflüchtigt hat.
Man hat die Leiblichkeit der Menschen, die dazu geworden sind.
Man hat sie. Ich habe sie.
Ich habe sie nicht als Leiblichkeit im Raum dieses Planeten,
aber als Leiblichkeit meiner eigenen Erinnerung bis in die Tiefe der Geschichte, bis an den Sinai hin.
Ich habe da gestanden, war verbunden mit der Asche und quer durch sie mit den Urvätern.
Das ist Erinnerung an das Geschehen mit Gott, die allen Juden gegeben ist.
Davon kann mich die Vollkommenheit des christlichen Gottesraums nicht abbringen,
nichts kann mich abbringen von der Gotteszeit Israels.
Ich habe da gestanden und habe alles selber erfahren, mir ist all der Tod widerfahren:
all die Asche, all die Zerspelltheit, all der lautlose Jammer ist mein;
aber der Bund ist mir nicht aufgekündigt worden.
Ich liege am Boden, hingestürzt wie diese Steine.
Aber aufgekündigt ist mir nicht.
Der Dom ist, wie er ist. Der Friedhof ist, wie er ist.
Aber aufgekündigt ist uns nicht worden.

Aus dem Zwiegespräch mit Karl Ludwig Schmidt im Jüdischen Lehrhaus in Stuttgart am 14. Januar 1933; zitiert bei Peter von der Osten-Sacken, Begegnung im Widerspruch, in: Leben und Begegnung. Ein Jahrhundert Martin Buber, Berlin 1978, S. 134f
http://www.imdialog.org/bp2016/06/buberblick.pdf

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